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JUGEND/058: Alles Kultur? - der Blick auf Migrantenkinder muß sich weiten (DJI)


DJI Bulletin Nr. 85 - 1/2009
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Multikulturelle Kindheit
Alles Kultur? - der Blick auf Migrantenkinder muss sich weiten

Von Barbara Thiessen


Multikulturelle Kindheit war bis Mitte der 1990er-Jahre kaum Gegenstand der Forschung. Allenfalls gab es qualitative Studien, die jedoch allgemeingültige Aussagen schwerlich zuließen. In den letzten Jahren aber ist das »Migrantenkind« entdeckt worden:
Aus dem »kleinen Ausländer« wurde das »Kind mit Migrationshintergrund«, über das mittlerweile eine Vielzahl von Ergebnissen zur Verfügung steht (insbesondere zu Familie, Freundschaften, Elementarbereich und Grundschule). Doch der Blick der Forschenden sieht das Kind mit Migrationshintergrund vor allem als Gegenüber des einheimischen Kindes - dementsprechend werden Unterschiede fokussiert und fixiert.
Wie aber steht es mit dem Wissen um das (Alltags-)Leben von Kindern mit Migrationshintergrund? Wurde, ohne genauer auf Unterschiede der Schicht, des Milieus sowie des Geschlechts hinzusehen, nicht die Ikone »Kind mit Migrationshintergrund« geschaffen? Hinter einer solchen Kunstfigur verschwindet das partielle Versagen der Bildungs- und Kulturinstitutionen ebenso wie die beschämenden sozioökonomischen Rahmenbedingungen und alltäglichen Rassismen, die den Alltag von Migrantenfamilien von außen her bestimmen.


»Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland«

Die Lebenslüge der Bundesrepublik (»Wir sind kein Einwanderungsland«) wurde in der Tat erst in den letzten Jahren revidiert.

In Deutschland leben derzeit 15,6 Millionen Personen mit Migrationshintergrund. Dies stellt einen Anteil von 19 % an der deutschen Gesamtbevölkerung dar. Darunter befinden sich 1,12 Millionen Kinder im Alter bis zu 10 Jahren. Das macht in dieser Altersgruppe einen Anteil von 31 % aus (entsprechend den Daten des Mikrozensus von 2005).

Die Erfahrung von Multikulturalität bezieht sich vor allem auf die kindlichen Lebenswelten. Es bleibt insbesondere den Kindern (und weniger den Eltern) vorbehalten, den »multikulturellen Alltag« unmittelbar zu erfahren. Vor allem die Kinder im Kleinkind- und Grundschulalter erleben Multikulturalität als besondere Form der Vielfalt, die als ein integraler Bestandteil des heutigen Kinderlebens in Deutschland zu sehen ist (Herwartz-Emden 2009).


Die soziale Herkunft ist von Bedeutung

Gradmesser für die Eingliederung von Kindern mit Migrationshintergrund ist in besonderem Maße deren Entwicklung innerhalb des Bildungs- und Beschäftigungssystems sowie deren soziale Integration (Nauck u. a. 2008). Demzufolge legt die aktuelle empirische Bildungsforschung den Fokus insbesondere auf den schulischen Erfolg bzw. Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund, z. B. Schulleistungsuntersuchungen wie IGLU, BeLesen oder KESS (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern). Übereinstimmend kommen diese Studien zu dem Ergebnis, dass Schüler/innen aus Migrantenfamilien bereits am Ende der Grundschulzeit einen vergleichsweise großen Leistungsrückstand aufzeigen (Herwartz-Emden 2009; Herwartz-Emden u. a. 2008).

Andere Forschungsarbeiten weisen auf die zentrale Rolle der deutschen Sprachkenntnisse für Schulerfolg und Kompetenzentwicklung hin. Demzufolge sollen im Kindesalter vor allem Maßnahmen der Förderung vorrangig eine Verbesserung der schulsprachlichen Kompetenzen verfolgen.

Eine Verengung von Integrationspädagogik und Integrationsforschung auf Sprachförderung wird jedoch den Gesamtaufgaben in diesem Feld nicht gerecht. Von Bedeutung ist vor allem die soziale Integration im Aufnahmeland, insbesondere die Integration in die Klassengemeinschaft sowie in die Freundesgruppen (Herwartz-Emden 2009). Wenn Kinder im Alltag nicht deutsch sprechen, sind Zusatzstunden allein keine befriedigende Lösung. Es braucht vertiefte Kenntnisse über die Rahmenbedingungen des Aufwachsens, insbesondere im Hinblick auf soziale Vielfalt und Benachteiligung.

Entsprechend den Ergebnissen der World Vision Kinderstudie 2007 (Hurrelmann u. a. 2007) sind die Bildungserwartungen bei Kindern der Unterschicht mit Migrationshintergrund mehrheitlich höher als bei deutschen Kindern der Unterschicht:

27 % der Kinder aus der Unterschicht mit Migrationshintergrund möchten das Abitur machen, doch von den deutschen Kindern aus der Unterschicht sind es nur 14 % (Betz 2009).

Die soziale Zugehörigkeit darf nicht unberücksichtigt bleiben. Zwar gilt grundsätzlich, dass bei der Betrachtung von Aspekten der Schicht bzw. des Milieus »ethnische« Unterschiede verblassen. Doch es gibt auch Themenbereiche, bei denen durchaus die ethnische Herkunft »schichtbereinigt« deutlich wird. Dies ist beispielsweise bei der Frage von Vereinszugehörigkeit bei Kindern der Fall:

So sind die einheimischen Kinder zwischen 60 % (bei Milieus mit geringeren Kapitalien) und über 80 % (Milieus mit umfangreicheren Kapitalien) Mitglieder in Vereinen.

Aussiedlerkinder und Kinder mit türkischem Migrationshintergrund dagegen liegen mit ca. 20 % Vereinszugehörigkeit (Sport, Musik) in den unteren Milieus und mit ca. 40 % bis 50 % bei den oberen Milieus jeweils deutlich unter der Gruppe der jeweils einheimischen Kinder (Betz 2009).

Die Integrationspädagogik scheint demnach ihr Augenmerk deutlicher auf soziale Asymmetrien richten zu müssen, und gleichzeitig braucht sie fundierte Kenntnisse über die unterschiedlichen ethnischen Herkünfte.


Die Forschung gebiert »das fremde Kind«

Will die Forschung »migrationssensibel« vorgehen, sind methodologische und erkenntnistheoretische Hürden zu nehmen:

Durch Einbürgerungen und Generationenfolgen ist die multikulturelle Lebenssituation vielfältiger geworden und lässt sich schon längst nicht mehr allein am Pass ablesen. Das bereitet der empirischen Forschung allerdings erhebliche Schwierigkeiten, und so kommt es, dass nicht nur in älteren, sondern auch in aktuellen quantitativen Untersuchungen Kinder mit Migrationshintergrund kaum bis unzureichend berücksichtigt werden (Betz 2009; Herwartz-Emden 2009).

Obendrein besteht die Fallgrube, »multikulturelle Kindheit« vereinfacht abzubilden und nicht, wie es notwendig wäre, populationssensitiv. Häufig werden »die« deutschen Kinder »den« Ausländerkindern bzw. »den« Migrantenkindern gegenübergestellt. Es fehlt an einer Binnendifferenzierung, zumal die Fokussierung auf die »ethnische« Differenz das fremde Kind gleichsam kreiert: So werden kulturelle Stereotypen über »die Migranten« durch Studiendesigns fixiert, wenn beispielsweise Kindern mit Migrationshintergrund Extrafragen gestellt werden, wie: »Besuchst Du religiöse Vereine?« oder »Liest Du deutsche Zeitungen?«. Durch solche Fragen wird die jeweils als relevant gesetzte Unterscheidung überbetont sowie das »fremde Kind« durch Forschung erst hergestellt (Betz 2009).


Migration ist ein vielfältiges Bündel an Erfahrungen

Wie aber lässt sich die Forschung über die multikulturelle Kindheit verbessern? Dazu gibt es folgende Ansätze, die das Konzept von Untersuchungen bereichern können (Diehm 2009):

»Intersektionalität«

Unter diesem Begriff wird eine Sichtweise verstanden, die Kategorien wie soziale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität, Generation, körperliche Befindlichkeit miteinander verbindet (Knapp 2005). Diese Ebenen werden dann jeweils unter dem Aspekt ihrer sozialen Bedeutung betrachtet, die sie für das (Migranten-)Kind haben (Diehm 2009). Die Analyse von »class, race, gender« basieren auf Konzepten der Geschlechterforschung und der Postcolonial Studies.

Die Aufgabe der Migrationsforschung besteht nun im Besonderen darin, diese eher erkenntnistheoretischen Perspektiven in konkrete Untersuchungsdesigns umzusetzen, wobei auch regionale Aspekte zu berücksichtigen sind (Betz 2009; Herwartz-Emden 2009). Darüber hinaus ist ein Ethnic Monitoring für den Bereich (frühe) Kindheit zu entwickeln, das heißt, für alle quantitativen Untersuchungen sind genaue Items hinsichtlich sozialer und ethnischer Herkunft einzuführen (Betz 2009).


Qualitative Designs

Eine migrationssensible Forschung kann sich aber nicht nur auf quantitative Daten bzw. Ergebnisse verlassen. Um unmittelbare Erfahrungen, Beobachtungen und Alltagsbedingungen von Familien bzw. Kindern mit Migrationshintergrund auszumachen, bedarf es qualitativer Forschungsdesigns, die quantitative Empirie ergänzen und vertiefen (Diehm 2009). An Beispielen biografischer, ethnografischer und interaktionsanalytischer Forschungen können vielfältige multikulturelle Kindheiten aufgezeigt werden, deren Ergebnisse zugleich Grundlagen für die Entwicklung pädagogischer Konzepte anbieten.

Migrationsforschung muss ein großes Interesse daran haben, festzustellen, auf welche Weise die Bedingungen in Familie, Elementarbereich und Schule ineinander greifen, um dieser Gruppe von Kindern langfristig ein Leben in Deutschland zu sichern, das sich vom Leben der Kinder ohne Migrationshintergrund zumindest strukturell nicht unterscheidet.

Ein Vergleich mit europäischen Ländern zeigt, dass diese Angleichung der Lebenswelten von Kindern bisher in Deutschland noch nicht gelungen ist: Die Niederlande weisen beispielsweise eine vergleichbar große Migrantengruppe aus der Türkei auf, schaffen es jedoch bei weitem besser, Migranten auch in höheren Bildungssektoren zu platzieren (Herwart-Emden 2009).


Auf die Haltung kommt es an!

Der defizitäre und auch oftmals dramatisierende Blick auf Kinder mit Migrationshintergrund engte die sozialwissenschaftliche Forschung in Deutschland lange Zeit ein. Zudem erfährt diese mangelhafte Sichtweise eine unangemessene Bestätigung durch die derzeit angewandten, oft redundanten Forschungspraxen (Diehm 2009; Herwartz-Emden 2009):

Die Unterschiede zwischen gewanderten und nicht gewanderten Kindern stehen im Vordergrund und werden überbetont.
Theoretische und empirische Analysen von Erklärungszusammenhängen, die insbesondere durch (qualitative) Beobachtungen erhoben werden, unterbleiben bzw. werden vernachlässigt.

Dies schlägt sich aber in der Fachpraxis auf fatale Weise nieder:

Migrationshintergrund gilt in Kindertagesstätten, Schulen und beruflichen Ausbildungen zunächst als Problemfall. Da es keine systematische Forschung zur Wirkung von Erfahrungen der Ausgrenzung und Stereotypisierungen (»stereotyp threat«) sowie der Erwartungen von Erzieherinnen/Erziehern und Lehrkräften gibt, können solche Erfahrungen bzw. Ergebnisse bislang kaum in der Praxis wirksam werden (Schofield 2006). Damit bleibt aber auch das Versagen von Institutionen bzw. von Fachkräften weitgehend unsichtbar und lässt sich kaum erkennen.


Die Praxis eilt der Wissenschaft voraus

Wie aber kann der Blick auf Kinder mit Migrationshintergrund und damit verbunden der Umgang mit ihnen im Alltag verändert werden?

Die Erfahrungen der Fachkräfte geben Antwort und sind zugleich Anregungen und Voraussetzungen für das Praxisfeld:

- Multikulturelle Besetzung von Teams und Fortbildungen;  
- Förderung der Selbstreflexion;
- Schulung des Wahrnehmens von eigenen blinden Flecken;
- Aufdecken von Konstruktionen der Fremdheit.

Was die Praxis an Selbstreflexion einlöst, das ist vonseiten der Wissenschaft ebenfalls zu erwarten. Auch in der Migrationsforschung gibt es noch einige blinde Flecken aufzuspüren und kulturspezifische Verengungen aufzuheben. Dafür hilfreich ist auf jeden Fall, interkulturelle Teams von Forscherinnen und Forschern ins Leben zu rufen.

Kontakt: Dr. Barbara Thiessen; thiessen@dji.de


Vorträge zu »Multikulturelle Kindheit« auf der DJI-Tagung »Kinder in Deutschland«, Berlin:
Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden: Multikulturelle Kindheit
Dr. Tanja Betz: Multikulturelle Kindheit im Spiegel der Kindersurveys: Daten, Deutungsmuster, Desiderate
Prof. Dr. Isabell Diehm: Kommentar zu »Multikulturelle Kindheit«


Literatur:

Alt, Christian (Hrsg.) (2008): Kinderleben - Individuelle Entwicklungen in sozialen Kontexten. Band 5: Persönlichkeitsstrukturen und ihre Folgen. Wiesbaden

Betz, Tanja (2009): Multikulturelle Kindheit im Spiegel der Kindersurveys: Daten, Deutungsmuster, Desiderate. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Diehm, Isabell (2009): Kommentar zu »Multikulturelle Kindheit«. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009).

Herwartz-Emden, Leonie (2009): Multikulturelle Kindheit. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Herwartz-Emden, Leonie / Schurt, Verena / Wabung, Wiebke / Ruhland, Mandy (2008): Interkulturelle und geschlechtergerechte Pädagogik im Alter von 6 bis 16 Jahren. Düsseldorf

Hurrelmann, Klaus / Andresen, Sabine / TNS Infratest Sozialforschung (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. World Vision Deutschland e. V. (Hrsg.) Frankfurt am Main

Knapp, Gudrun-Axeli (2005): »Intersectionality« - ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class, Gender«. In: Feministisches Studien, 23. Jg., H. 1, S. 68-81

Nauck, Bernhard / Clauß, Susanne / Richter, Elisabeth (2008): Zur Lebenssituation von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland. In: Bertram, Hans (Hrsg.): Mittelmaß für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München S. 127-151

Schofield, Janet Ward (in Zusammenarbeit mit Kira Alexander, Ralph Bangs, Barbara Schauenberg) (2006): Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungserfolg. Forschungsergebnisse der pädagogischen Entwicklungs- und Sozialpsychologie. Die AKI-Forschungsbilanz kurz gefasst. Berlin (www.aki.wz-berlin.de)


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft Nr. 85, 1/2009 , S. 26-28
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2009