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JUGEND/096: Wege in den Rechtsextremismus (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2015 - Nr. 109

Wege in den Rechtsextremismus

Der Prozess der Radikalisierung beginnt oft schon in der Kindheit, verläuft aber individuell unterschiedlich. Unter welchen Bedingungen fremdenfeindliche Einstellungen entstehen

von Peter Rieker


In Hinblick auf Rechtsextremismus stehen häufig vor allem Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus der Aufmerksamkeit, und vielfach werden die Gründe für entsprechende Radikalisierungen in der politischen Identitätsfindung im Jugendalter gesucht. Die Affinität zu rechtsextremen Orientierungs- und Handlungsmustern ist jedoch Ergebnis eines Prozesses, der durch vielfältige Bedingungen und Einflüsse geprägt ist. Er entfaltet sich in der Regel über einen längeren Zeitraum und basiert mitunter auf Erfahrungen, die in der Kindheit gemacht wurden und die sich nicht auf den explizit politischen Bereich beschränken. Im Folgenden werden verschiedene Ebenen von Erfahrungen in sozialen Beziehungen skizziert, die in Untersuchungen mit der Entwicklung rechtsextremer Affinitäten bei Heranwachsenden in Zusammenhang gebracht werden konnten. Die Forschung wies das bisher vor allem für männliche Jugendliche nach, sodass die nachfolgend beschriebenen Zusammenhänge in erster Linie die Entwicklung rechtsextremer Affinitäten bei jungen Männern verständlich machen können.

Rechtsextreme Orientierungen sind in Deutschland bei circa 10 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen festzustellen: Im Jahr 2003 wurden bei 12 Prozent der 16- bis 24-Jährigen ein rechtsextremistisches Einstellungspotenzial ermittelt. Bei den über 55-Jährigen betrug dieser Wert 20 Prozent (Stöss 2005). Eine weitere Studie wies im Jahr 2012 bei 9 Prozent der Bundesdeutschen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild nach, wobei sich bei den Älteren ebenfalls höhere Werte zeigten als bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Decker u.a. 2012).

Diejenigen, die im Jugendalter rechtsextreme Orientierungen entwickeln, blicken tendenziell auf eine Kindheit zurück, in der ihre emotionalen Bedürfnisse missachtet wurden. Im Vergleich zu anderen Jugendlichen berichten sie weniger von liebevoller Zuwendung und mehr von Zurückweisung durch ihre Eltern. Folgt man ihren Schilderungen, dann interessierten sich ihre Eltern vergleichsweise wenig für ihre kindlichen Belange, nahmen kaum Anteil an ihren Sorgen und Nöten, nahmen Ängste weniger ernst und wiesen kindliches Hilfeersuchen häufiger zurück (Hopf u.a. 1995). Auch fremdenfeindliche Gewalttäter berichten besonders oft von einem frostigen Klima und von Konflikten in der Familie. Sie schildern darüber hinaus, dass ihre Eltern selten mit ihnen spielten, sich wenig für sie interessierten und sie inkonsistent, also völlig willkürlich, bestraften (Wahl 2003). Besonders negativ wird von diesen jungen Männern das Verhältnis zu ihren Vätern beurteilt, von denen sie zum Teil massive Gewaltanwendung im Zusammenhang mit Bestrafungen erlebt haben.


Kindern werden Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung vorgelebt

Zudem sind Rechtsextremisten überdurchschnittlich häufig nicht in vollständigen Familien aufgewachsen, das heißt sie lebten infolge elterlicher Trennung oder des Todes eines Elternteils mit einem alleinerziehenden Elternteil oder in einer Stiefelternkonstellation (Lobermeier 2006). Bei einer vergleichenden Untersuchung wurde deutlich, dass vor allem fremdenfeindliche Gewalttäter häufig mit Stiefeltern aufgewachsen sind. Das Leben in einer unvollständigen Familie bedeutet in den meisten Fällen, dass die Kinder nicht mit ihrem leiblichen Vater zusammenleben. Gerade männliche Jugendliche beschreiben das Leben unter einem Dach mit ihren Stiefvätern als konfliktreich und belastet (Wahl/Tramitz/Blumtritt 2001).

Zu diesen emotionalen Belastungen in wichtigen persönlichen Beziehungen kommen häufig Vorbilder mit explizit rechtsextremem Charakter hinzu. Es gibt Beispiele aus Familien, in denen Erwachsene - oft Großeltern - Kindern und Jugendlichen ein positives Verhältnis zum Nationalsozialismus oder zu den Erfolgen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vermitteln. In diesen Fällen weisen Studien darauf hin, dass junge Menschen sich historisch und politisch in einer familiären Tradition sehen, in der rechtsextreme Bezüge gepflegt werden (Schiebel 1992). Außerdem zeigen sich in verschiedenen Untersuchungen Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern hinsichtlich ihrer Einstellung zu Ausländerinnen und Ausländern, was für eine Weitergabe dieser Orientierungen zwischen den verschiedenen Generationen spricht (Grob 2005).

Darüber hinaus gibt es auch Anzeichen für subtilere Vorbilder in Richtung Rechtsextremismus, vor allem im familiären Alltag der Konfliktregulierung oder im Umgang mit Verschiedenheit, die in der Kindheit als vorpolitische Modelle sozialen Handelns fungieren können. So bekommen diese Jugendlichen beispielsweise eine klare Unterscheidung zwischen »uns« und »den anderen« vorgelebt, das heißt Eigen- und Fremdgruppen werden als völlig unterschiedlich konzipiert. Bei Konflikten haben sie außerdem erlebt, dass Stärkere sich gegen Schwächere durchsetzen und dass dies als normal und richtig gilt. Wenn sie als Kind in der Familie von Streit mit anderen Kindern berichteten, kam es vor, dass sie explizit zu gewalttätigen Reaktionen ermutigt wurden. Wenn sie sich dann entsprechend verhielten, machten Eltern keinen Hehl aus ihrem Stolz, dass ihr Sohn sich durchgesetzt hat. Diejenigen, die später rechtsextreme Tendenzen zeigten, bekamen damit Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung vorgelebt und vermittelt. Neben Aggressivität und Gewalttätigkeit erlebten sie in diesem Zusammenhang auch, dass es normal ist, zwischen »uns« und »den anderen« zu differenzieren (Rieker 2007).

Diese Bedingungen der Sozialisation legen bereits in der Kindheit den Grundstein für Affinitäten zu sozialen und politischen Orientierungen. In der Jugend und im jungen Erwachsenenalter können Erfahrungen folgen, die Prozesse der rechtsextremen Radikalisierung fördern. Breit rezipiert werden vor allem Erklärungen, die sich auf soziale Desintegration und den Mangel an Anerkennung beziehen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehen sich in diesem Zusammenhang auf verschiedene Formen der Anerkennung: positionale Anerkennung (Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern der Gesellschaft), moralische Anerkennung (rechtliche Gleichheit und der gerechte Ausgleich widersprüchlicher Interessen) und emotionale Anerkennung (Zuwendung und Aufmerksamkeit in sozialen Nahbeziehungen; Sitzer/Heitmeyer 2007). Menschen mit rechtsextremen Affinitäten fühlen sich in Hinblick auf diese Dimensionen häufig benachteiligt. Die Ausprägung rechtsextremer Orientierungs- und Handlungsmuster kann das Ergebnis einer spezifischen Verarbeitung dieser Defizit-Erfahrungen sein.


Jugendliche fühlen sich oft sozial ausgegrenzt und suchen Anerkennung

Radikalisierungsprozesse in Richtung rechtsextremer Orientierungs- und Handlungsmuster sind durch diese Erfahrungen in Kindheit und Jugend nicht vorgegeben, sondern bedürfen bestimmter Gelegenheiten, um sich entsprechend zu entwickeln. Eine Studie konnte beispielsweise zeigen, dass fremdenfeindliche Gewalttaten begünstigt werden durch ein Umfeld, das diese toleriert oder fördert, durch bestimmte Jugendkulturen beziehungsweise jugendliche Gesellungsformen sowie durch verschiedene Bedingungen, die Eskalationsdynamiken unterstützen (Willems/Steigleder 2003). Die Radikalisierung kann ganz unterschiedlich verlaufen. Zum Beispiel kann sie gekennzeichnet sein durch zunehmend exklusive Kontakte zu Angehörigen der rechtsextremen Szene (sowie die Einschränkung beziehungsweise den Abbruch anderer sozialer Beziehungen) sowie durch die zunehmende Orientierung an rechtsextremen Ideologien oder Ideologie-Versatzstücken. Mitunter prägen sich im Verlauf dieser Prozesse Feindbilder deutlicher aus und die Bereitschaft zu abweichenden und gewalttätigen Verhaltensweisen kann zunehmen.

Die bisherige Forschung deutet darauf hin, dass rechtsextreme Radikalisierungsprozesse früh beginnen können. Sie werden durch scheinbar unpolitische Erfahrungen in sozialen Beziehungen entscheidend geprägt, für die neben einschlägigen Vorbildern auch emotionale Erfahrungen bedeutsam sind. Diese Erfahrungen führen jedoch lediglich zu bestimmten Neigungen und prägen sich erst angesichts aktueller Mangelerlebnisse und bestimmter Gelegenheiten in Form rechtsextremer Orientierungs- und Handlungsmuster aus.


DER AUTOR

Prof. Dr. Peter Rieker ist Professor für außerschulische Bildung und Erziehung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind abweichendes Verhalten, Partizipation und politische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, Migration und interethnische Kontakte sowie Methoden der empirischen Sozialforschung.
Kontakt: prieker@ife.uzh.ch


Literatur

Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Bonn

Grob, Urs (2005): Kurz- und langfristige intergenerationale Transmission von Ausländerablehnung. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Heft 1, S. 32-51

Hopf, Christel / Rieker, Peter / Sanden-Marcus, Martina / Schmidt, Christiane (1995): Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierungen junger Männer. Weinheim/München

Lobermeier, Olaf (2006): Rechtsextremismus und Sozialisation. Wege aus der rechten Szene. Braunschweig: Arbeit und Leben

Rieker, Peter (2007): Fremdenfeindlichkeit und Sozialisation in Kindheit und Jugend. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 37/2007, S. 31-38

Schiebel, Martina (1992): Biographische Selbstdarstellung rechtsextremer und ehemals rechtsextremer Jugendlicher. In: Psychosozial, Heft 3, S. 66-77

Sitzer, Peter / Heitmeyer, Wilhelm (2007): Rechtsextremistische Gewalt von Jugendlichen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 37, S. 3-10

Stöss, Richard (2005): Rechtsextremismus im Wandel. Berlin: Friedrich-Ebert Stiftung

Wahl, Klaus (2003): Entwicklungspfade und Sozialisationsprozesse. In: ders. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Opladen, S. 90-143

Wahl, Klaus / Tramitz , Christiane / Blumtritt, Jörg (2001): Fremdenfeindlichkeit - Auf den Spuren extremer Emotionen. Opladen

Willems, Helmut / Steigleder, Sandra (2003): Jugendkonflikte oder hate crime? Täter-Opfer-Konstellationen bei fremdenfeindlicher Gewalt. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Heft 1, S. 5-28


DJI Impulse 1/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2015
- Nr. 109, S. 8-10
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
Internet: www.dji.de/impulse
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert werden unter impulse@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2016

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