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KULTUR/041: Bestattungskultur in den Vereinigten Staaten (DFG forschung)


forschung 4/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Der Preis des Todes
Religiöse Rituale gelten als langlebig und kaum veränderbar. Die Bestattungskultur in den Vereinigten Staaten zeigt jedoch, dass auch sie sich ständig wandeln - nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen.

Von Oliver Krüger


Unter welchen Vorzeichen verändern sich Rituale - zum Beispiel in der öffentlichen Trauer- und Bestattungskultur? Die Frage mag für religiöse Ohren überraschend klingen, denn aus einer religiösen Perspektive wird oft behauptet, dass sich Rituale über Jahrhunderte kaum verändert hätten. Demgegenüber zeigen neue kulturwissenschaftliche Studien von der Soziologie bis zur Religionswissenschaft, dass Rituale sich in einem höchst dynamischen Anpassungsprozess an den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel befinden. Die für jedermann spürbaren Veränderungen in der deutschen Bestattungskultur - man denke etwa an die naturnahe Bestattung in Friedwäldern oder den Trend zu anonymen Urnenbestattungen - veranschaulichen diese Feststellung in vielsagender Weise.

Im Rahmen der Ritualforschung haben ökonomische Faktoren als Triebkräfte des Wandels bislang kaum eine Rolle gespielt. Dies liegt an einer prinzipiellen Tabuisierung der materiellen Aspekte von Ritualen im Christentum, nicht zuletzt im Hinblick auf Bestattungen. Denn im Christentum ist die Bestattung eines Verstorbenen als Akt der Nächstenliebe das "Siebente Werk der Barmherzigkeit". Gerade wegen dieser doppelten Tabuisierung ist es vielversprechend, die höchst kommerzialisierte Bestattungskultur in den Vereinigten Staaten näher ins Auge zu fassen. Dabei geraten auch die ökonomischen Interessen des Bestattungsgewerbes ins Blickfeld.

Die Bestattungs- und Grabkultur in den Vereinigten Staaten war trotz einer großen religiösen Vielfalt über lange Zeit weitgehend einheitlich geprägt. Erst in jüngster Zeit zeichnen sich Veränderungen ab. "Durchschnittliche" amerikanische Bestattungen sind sowohl bei Christen als auch bei Nichtchristen Erdbestattungen. Lag der Anteil der Einäscherungen 1961 noch bei landesweit 2,7 Prozent, so werden inzwischen etwa 31 Prozent (2004) der Verstorbenen kremiert. Über 90 Prozent der Erdbestattungen und noch 25 Prozent der Kremationen werden heutzutage mit der amerikanischen Sitte der umfassenden Einbalsamierung des gesamten Körpers sowie der kosmetischen Behandlung der Verstorbenen verbunden.

Nach der Einbalsamierung erhält der Verstorbene seine feierliche Totenkleidung, die von Unterwäsche und Schuhen bis zum feinen Kleid oder Anzug reicht und von speziellen Modehäusern hergestellt wird. Danach wird der Leichnam meist in den Räumen des Bestattungsunternehmens einige Stunden lang - bis zu drei Tagen - in einem halboffenen Sarg aufgebahrt (wake/viewing) sowie anschließend nach einer kurzen gemeinsamen Trauerfeier bestattet. Erstaunlich ist nun, dass dieses Schema in überwiegendem Maß von Gläubigen aller christlichen Kirchen und Gemeinschaften und weitgehend auch bei jüdischen Bestattungen eingehalten wird. Selbst bei der kleinen protestantischen Glaubensgemeinschaft der Amish, die sich ansonsten durch ihre Weltabgeschiedenheit auszeichnet, wird ein auswärtiger Bestatter mit der Einbalsamierung beauftragt.

Religiöse Haltungen finden ihren Niederschlag besonders in der Einstellung zur Kremation: Zum Beispiel lehnen die Southern Baptists (die größte protestantische Freikirche in den USA) die Verbrennung der sterblichen Überreste im Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit angesichts der erwarteten leiblichen Auferstehung grundsätzlich ab. Markante Unterschiede zwischen den religiösen Gemeinschaften ergeben sich letztlich in der konkreten Ausgestaltung der Trauerfeier sowie bei der späteren Grabgestaltung.

Wie konnte diese einzigartige Bestattungskultur entstehen, die erstmals seit altägyptischer Zeit die Einbalsamierung auf Massenbasis praktiziert? Neben den auch in Europa feststellbaren Veränderungen der Verstädterung und der Ausbildung einer bürgerlichen Oberschicht waren es vor allem drei Gründe, die zu den aufwendigen US-amerikanischen Bestattungsformen führten: Im Rückblick popularisierte der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) die Einbalsamierung, da gefallene Offiziere für den Rücktransport in ihre Heimat präpariert werden sollten. Zum Beispiel wurden Kriegshelden einbalsamiert und öffentlich präsentiert. Sodann führte die Sorge um die körperliche Integrität der Verstorbenen zur großen Akzeptanz der Einbalsamierung im Ausgang des 19. Jahrhunderts, denn die einbalsamierten Leichen waren für die sogenannten 'body snatcher', die massenhaft Leichen für anatomische Studien in den Colleges und Universitäten raubten, nicht zu verwenden. Darüber hinaus ist drittens die weit reichende Standardisierung der amerikanischen Bestattungskultur auf die kommerziellen Interessen des Bestattungsgewerbes zurückzuführen. Die zunehmende Professionalisierung und Optimierung von Verkaufs- und Werbestrategien konnten kulturell latent vorhandene Bedürfnisse wie den Wunsch nach Erhaltung des Leichnams marktwirtschaftlich verwerten.

Für ein 'traditional full service funeral', das die Einbalsamierung, die Trauerfeier, den Sarg und die Blumenarrangements einschließt, müssen heutzutage etwa 8.000 bis 10.000 US-Dollar eingeplant werden, zuzüglich der Kosten für die Grabstätte. Friedhöfe, die entweder in privater, kirchlicher oder kommunaler Trägerschaft stehen, werden in zunehmendem Maße jedoch von der Bestattungsindustrie selbst aufgekauft. Dabei werden Spitzenwerte für Liegeplätze von bis zu 30.000 US-Dollar erzielt. Die Bestattung eines Angehörigen ist damit für einen amerikanischen Durchschnittshaushalt der größte Kostenpunkt nach der Anschaffung eines Hauses oder Autos.

Wie groß der Einfluss der Bestattungsindustrie auf die Bestattungskultur ist, zeigt sich deutlich an einer auffälligen Entwicklung in Großbritannien: Wurden dort Einbalsamierung und Aufbahrung mit offenem Sarg vor 40 Jahren noch als ausgesprochen 'weird', das heißt abnorm, angesehen, so werden nach dem Eintreten eines großen amerikanischen Bestattungsunternehmens auf dem englischen Markt Anfang der 1990er-Jahre inzwischen bereits über 30 Prozent der Verstorbenen einbalsamiert.

Gegen die hohen Bestattungskosten formierte sich früh Widerstand. Bereits um 1910 wurden in einzelnen 'cooperatives' (Genossenschaften) Verträge mit Bestattern geschlossen, die den Mitgliedern günstigere Tarife anboten. Nachdem 1939 die 'People's Memorial Association' in Seattle gegründet worden war, entstanden ab Mitte der 1950er-Jahre in allen größeren Städten der Vereinigten Staaten und später auch Kanadas die sogenannten 'memorial societies'. 1963 schlossen sich die lokalen Vereinigungen zur 'Continental Association of Funeral and Memorial Societies' zusammen. Nachdem das Bestattungsgewerbe seinerseits kommerzielle Vereine als 'funeral societies' deklarierte, änderten die 'memorial societies' auf lokaler und nationaler Ebene ihre Selbstbezeichnung unmissverständlich in 'Funeral Consumers Alliance' (FCA), die in den USA insgesamt etwa 400.000 Mitglieder zählt.

In vielen Fällen entstanden die 'memorial societies' im Zusammenhang mit kirchlichen Laienbewegungen vor allem aus dem protestantischen Lager, aber auch aus der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung heraus. Insbesondere setzte man sich in dieser Zeit für die Verbreitung der Kremation ein. Großen Auftrieb erhielt diese Reformbewegung, als die Bürgerrechtlerin Jessica Mitford (1917-1996) in ihrem viel beachteten Werk "The American Way of Death" (1963) die Verkaufsstrategien der Bestattungsindustrie offenlegte und dabei schonungslos die Präparationstechniken bei der Einbalsamierung schilderte.

Damals wurde Bestattung zum Politikum: Der 'American Intelligence Service', eine private Organisation, die sich nach dem Ende der McCarthy-Ära der konsequenten Verfolgung "unamerikanischer Umtriebe" widmete, verbreitete Pamphlete und Broschüren, die vor den 'memorial societies' warnten. Das Eintreten für Kremation und die Kritik an den amerikanischen Bestattungsunternehmern sei nichts als kommunistische Propaganda, die die Traditionen, Werte und die moralische Gemeinschaft der Amerikaner erschüttern sollten. Dennoch gelang es den Vertretern der 'memorial societies' schließlich 1984 mit der 'Funeral Trade Rule' einen umfassenden Verbraucherschutz durchzusetzen. Bestattungsunternehmern wurde auf diesem Wege beispielsweise verboten, ihren Kunden zu sagen, dass Einbalsamierung und Erdbestattung rechtlich vorgeschrieben seien. Seitdem werden rechtliche Beratungen angeboten und zahlreiche Musterprozesse bei Verstößen gegen die 'Funeral Trade Rule' geführt.

Neben ihrer rechtlichen Aufklärungsarbeit und Empfehlungen für seriöse Bestattungsunternehmer haben einige lokale Vereinigungen der FCA jedoch auch Verträge mit ausgesuchten Bestattern abgeschlossen, um Rabatte zu erhalten. Innerhalb der Bewegung wird jedoch äußerst kontrovers diskutiert, ob man nur Vorteile für die eigenen Mitglieder nutzen oder sich allgemein als Vorkämpfer für eine gerechtere und transparentere Bestattungskultur einsetzen sollte.

Die von verschiedenen Akteuren letztlich durchgesetzten neuen rechtlichen Rahmenbedingungen haben es ermöglicht, dass sich die amerikanische Bestattungskultur gegen Ende des 20. Jahrhunderts vielfältiger entwickeln konnte. So ist neben die klassische Erdbestattung mit Aufbahrung und Einbalsamierung die Kremation getreten. Hinzu kommen alternative Bestattungsformen wie 'home burials' (Sterben im Kreis der Familie) und green burials (Bestattung in der Natur), was insgesamt für eine Ritualkultur im Wandel spricht.


Prof. Dr. Oliver Krüger ist außerordentlicher Professor für Religionswissenschaft an der Universität Fribourg (Schweiz).

Adresse:
Universität Miséricorde
Avenue de l'Europe 20, 1700 Fribourg (Schweiz)

Die DFG hat die Studien im Rahmen des SFB "Ritualdynamik" und mithilfe eines Forschungsstipendiums unterstützt.

www.ritualdynamik.uni-hd.de


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Ländlicher Friedhof mit Vergangenheit: Ingalls Cemetery, Ticonderoga, New York State. Zwischen 1800 und 1950 wurden hier ganze Familiendynastien beigesetzt.

> Auffällig und farbenfroh: Kubanische Fahnen und künstliche Blumen schmücken ein Grab auf The Evergreens Cemetery in Brooklyn/Queens (New York). Grabstätten wie diese bringen ein ausgeprägtes ethnisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

> Ein repräsentativer Grabstein mit chinesischen Schriftzeichen.

> Traditionell gebaute Mausoleen sind auf The Evergreens Cemetery in New York City ebenso zu finden wie modern gestaltete.

> Der etwa 1880 gegründete schmucklose Friedhof der Amish-Glaubensgemeinschaft bei Lancaster in Pennsylvania.


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Quelle:
forschung 4/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 6-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2008