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KULTUR/046: Dirndl und Landlust - Was steckt hinter dem aktuellen Retrokult? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 7/2011

Dirndl und Landlust
Was steckt hinter dem aktuellen Retrokult?

Von Jürgen Henkel


Im Lebensstil nicht weniger Zeitgenossen manifestiert sich eine Sehnsucht nach der "guten alten Zeit", Leitfiguren und Fernsehserien früherer Jahrzehnte genießen Kultstatus. Darin spiegelt sich das Unbehagen an unserer immer hektischeren Gegenwart, die man durch ein gewisses Maß an Nostalgie kompensieren möchte.


Der Tod von Peter Alexander im Februar 2011 versetzt ein ganzes Land in Trauer. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht mindestens zwei Filme mit Heinz Erhardt im Fernsehen zu sehen sind. Auch Heinz Rühmann flimmert wieder mit schöner Regelmäßigkeit über die Bildschirme. Der Schwarz-Weiß-Klassiker "Die Drei von der Tankstelle" knistert sich alle paar Monate durch deutsche Regionalsender. Während sich Oliver Pocher und andere talentunbelastete sogenannte "Comedians" und Casting-Eintagsfliegen, deren Namen sich das Publikum im Einzelnen aufgrund kurzer Halbwertszeit nicht unbedingt merken muss, im Sekundentakt hektisch durch dumm-dämliche Witze und seicht-schlüpfrige Sketche hampeln und in unkontrollierten Bewegungen über die Bühnen zu ihren ordinären Zoten zucken, erinnern große Abendgalas an längst verstorbene Entertainer vom Schlage eines Rudi Carrell und Harald Juhnke. Gleichzeitig erfreuen sich die in die Jahre gekommenen Spaßmacher und Blödelbarden der siebziger und achtziger Jahre wie Otto, Didi Hallervorden und Mike Krüger ungebrochener Bekanntheit und Beliebtheit. Und Bud Spencer, der berühmteste Raufbold der Filmgeschichte, schaffte es im Mai mit seiner Autobiographie "Mein Leben, meine Filme" auf Anhieb auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.


Außer in bestimmten Milieus liegen Treue und Hochzeit in Weiß wieder hoch im Kurs, selbst wenn die lebenslange Ehe aktuellen Umfragen zufolge als Auslaufmodell betrachtet wird. Wenn auch die Trauerkultur in der Gesellschaft mehr und mehr verdampft, so erfreut sich immerhin die möglichst prunkvoll gestaltete kirchliche Trauung wieder großer Beliebtheit, unabhängig davon, ob die Trauwilligen damit auch geistliche Gedanken oder Gefühle verbinden. Und natürlich träumen, schmachten und schwelgen auch Millionen Deutsche vor den Bildschirmen, wenn wieder eine "Märchenhochzeit" aus einem der europäischen Königshäuser übertragen wird. 15-jährige Schülerinnen flanieren im feschen Dirndl zum Volksfest und breite Leserkreise erfreuen sich an urigen Regionalkrimis mit dem Charme von Schnitzel und Schweinshaxen, die in ländlich-bürgerlichen Milieus spielen, flankiert von Zeitschriften wie "Landlust" mit ihren Koch- und Backrezepten, Einrichtungs- und Gartentipps.


Die heile Welt in Haus und Garten

Haus, Heim und eigener Garten gewinnen in diesem Neo-Biedermeier immer mehr die Rolle einer verlässlichen und sicheren Schutz- und Trutzburg gegen die schnelle und vergängliche Welt draußen. Zu religiöser Beschäftigung oder Verinnerlichung führt die neue Bürgerlichkeit freilich selten. Die Tempel und Kultstätten dieses neuen Heim- und Gartenkults sind Media-Markt und Obi. Diese bieten anders als Kirche und Religion die vollkommene heile Welt schon im Diesseits - als heimelige und häusliche Behausung gegen alle Widrigkeiten des kalten Alltags und eines immer komplexeren Lebens unter den immer differenzierteren Bedingungen der großen weiten globalisierten Welt.

Viele Menschen suchen sich angesichts der Lebenszwänge im Großen der rauen Wirklichkeit Lebensbereiche im Miniaturformat, die sie perfekt inszenieren und kontrollieren können. So mancher Zeitgenosse rasiert seinen Rasen millimetergenau nach Schnittmustern: die größtmögliche Machtperformance des kleinen Mannes. Innen mit Staubsauger, außen mit Laubsauger bewaffnet, wird das vollkommene und bis ins kleinste Detail perfekt geordnete und in allen Facetten beherrschte private Idyll gesucht, geschaffen und kultiviert, das weder die Wirtschafts- und Arbeitswelt, noch der von massivem Druck und Stress geplagte Lebensalltag außerhalb der privaten eigenen kleinen Sphäre heute noch bieten, geschweige denn die unübersichtlichen Zirkel und Kreisläufe der virtuellen Cyberwelt oder der Lauf der großen Dinge mit Wirtschaftskrise, Terrorgefahr und Angst vor Atomkraftwerken, die uns um die Ohren fliegen könnten.


Weil die Entwicklung im Großen so unbeherrschbar, bedrohlich und komplex erscheint, flieht das Bürgertum wie das intellektuelle und soziale Prekariat gleichermaßen in die selbst eingerichtete und verantwortete häusliche Reservewelt. Die Menschen sind im Ergebnis heute unpolitischer als noch vor 20 Jahren. Bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten fehlt der Nachwuchs. Wobei sich die Politikverdrossenheit auch der immer komplexeren Welt verdankt. Viele Probleme sind eben nicht im 30-Sekunden-Takt der Nachrichtenmeldungen und Interview-Statements zu erklären und zu verstehen, auch wenn zahlreiche TV-Talkshows zu politischen Themen dies suggerieren, in denen Schauspieler, Schriftsteller und schrille Figuren wie Nina Hagen als "Experten" für schwierige Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik oder der Terrorismusbekämpfung mitreden dürfen.

In "Psychologie Heute" wird das neobiedermeierliche Spießbürgertum bereits als neue Lebensform verklärt (Anke Bruder, "Spießig - Ja, bitte! Warum die Spießigkeit in Deutschland ihr Revival feiert und warum gerade junge Menschen sich zu ihr bekennen sollten", in: "Psychologie Heute", Nr. 3/2011, 30-33). Selbst die Volksparteien sind trotz aller Unkenrufe und Unheilsprognosen noch nicht tot, sondern schaffen bei einzelnen Wahlen weiter Werte über 40 Prozent, manchenorts sogar weiter absolute Mehrheiten wie die SPD in Hamburg. Und die früher per Definition anarchistisch, chaotisch, systemkritisch und linksalternativ auftretenden Grünen geben sich auf einmal bürgerlich-wertkonservativ und bedienen mit ihrem bunten Programm aus Öko-Wellness und Anti-Atomkraftpolitik auch Ängste der bürgerlichen Mittelschicht, die sich freilich nur selten die Mühe macht, die in gesellschaftspolitischer Hinsicht weiterhin auf Systemveränderung ausgerichteten Wahlprogramme dieser Partei zu studieren.


Flowerpower auf Flachbildschirmen

Doch woher kommt und wohin führt der aktuelle Retrokult von Heinz Erhardt bis zum Regionalkrimi, vom Dirndl bis "Landlust", wenn wir einmal nach Motiven jenseits der Überschaubarkeit und Beherrschbarkeit der heilen Welt aus Heim und Garten fragen? Ist es nur eine diffuse Sehnsucht nach der "guten alten Zeit"? Die teilten noch vor wenigen Jahren fast nur Kenner der alten Zeiten, und das oft mehr aus Sentimentalität und Nostalgie, nicht unbedingt weil sie diese Zeiten wirklich zurückwünschten. Menschen, die älter als 80 Jahre alt sind, wissen, dass zu ihrer Jugend selbst die Lungenentzündung eine lebensgefährliche Krankheit sein konnte und ihnen Hitler mit seinem Nationalsozialismus und seinem Krieg die besten Jahre ihres Lebens gestohlen und gar nicht wenigen auch die Heimat gekostet hat.


Heute aber teilen erstaunlich viele junge Menschen eine solche sentimentale Sehnsucht nach seligen früheren Zeiten, die sie selbst aber nicht mehr aus eigenem Erleben kennen. Es ist mehr die Sehnsucht nach einem Gefühl als nach realen Verhältnissen. Diese Gefühle berühren Erfahrungen wie Geborgenheit, Sicherheit aber auch Freiheit. Es sind nicht nur die Werbetricks der DVD-Produzenten, dass heute auch Erfolgsserien der siebziger und achtziger Jahre wie "Derrick" und "Der Alte" oder Dauerbrenner mit besonderem Graswurzelcharme wie "Die Straßen von San Francisco" und "Unsere kleine Farm" nach Staffeln auf DVDs gebrannt reißenden Absatz finden. Da trifft Flowerpower auf Flachbildschirm.

Das ist natürlich auch der grellen, lauten und explosionsreichen Erbärmlichkeit vieler heutiger Programme geschuldet, ob öffentlich-rechtlich oder im Privatfernsehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich in den letzten Jahren ohnehin mehr und mehr auf das Niveau der Privaten hinabentwickelt. Zu den Höhepunkten im Öffentlich-Rechtlichen zählen auch immer mehr Wiederholungen - Ausdruck des Retrokults wie der Dürftigkeit mancher vergänglicher und schnell vergessener aktueller Produktionen.


Warum aber feiern etwa die "Tatort"-Wiederholungen so große Erfolge und erfreuen nicht nur eingefleischte Fans? Abgesehen vom Edelmacho, Kraftpaket und Schnellcholeriker Schimanski schlurfen dort auch eher mittelmäßige Typen wie der andere Ruhrpott-Kommissar Haferkamp und die beliebten "Swinging Cops" Stöver und Brockmöller aus Hamburg durch ihre Kriminalfälle. Auch wenn die Mehrheit heute wohl das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden und der Gastronomie und manch andere Segnung der Politischen Korrektheit begrüßt, besteht doch eine gewisse retrospektive Sehnsucht nach der Freiheit früherer Jahre. Manche flotte Machofloskel über Frauen und selbst einzelne Sketche von Didi Hallervorden von vor 20 oder 30 Jahren wären heute dank der allgegenwärtigen Aufsichtsoffiziere der Sprachpolizei der verschiedenen Agenturen für Politische Korrektheit und zahlloser Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragter völlig undenkbar und als Sexismus verpönt. Das gilt auch für viele Kalauer aus Serien wie "Die Zwei" mit Tony Curtis und Roger Moore oder "Die Profis" - selbstverständlich vollständig auf DVD erhältlich.

Mit ihren Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrichtlinien, die bereits in nationale Gesetzgebung übergehen, greift die EU-Bürokratie seit geraumer Zeit über Gesetzestexte offen und massiv in die Meinungs- und Redefreiheit ein und leistet ihren Beitrag dazu, dass diese konkret wie gefühlt eingeschränkt wird. Welche Konsequenzen das praktisch haben kann, war bereits im Jahr 2004 auf EU-Ebene zu besichtigen. Der italienische Christdemokrat und praktizierende Katholik Rocco Buttiglione durfte nicht EU-Kommissar werden, weil er sich als Katholik offen und vor allem öffentlich mit der kirchlichen Lehre zur Bewertung der Homosexualität und der besonderen kirchlichen Würdigung der Mutterrolle der Frau identifiziert hat. Aufgrund seiner Äußerungen wurde er als erstes designiertes Mitglied der EU-Kommission vom entsprechenden Berufungsausschuss abgelehnt.


Die katholische und die orthodoxe Kirche werden mit ihrer profilierten Moraltheologie und ihrer nicht permissiven Sexuallehre bald Schwierigkeiten haben, sich überhaupt noch im Rahmen der entsprechenden nationalen wie europäischen Verfassungsbestimmungen sowie Rechtsnormen gegen die Diskriminierung jedweder sexueller Orientierung zu bewegen. Der Schutz von Ehe und Familie wird von der EU immer mehr ausgehöhlt und durch Gleichstellung mit homosexuellen Partnerschaften relativiert, Abtreibung per Parlamentsmehrheit als Menschenrecht der Frau und sogar als Maßnahme der Entwicklungspolitik definiert. Wer heute als Christ, Theologe oder Bischof Homosexualität als nicht mit Heiliger Schrift und christlichem Glauben vereinbare sündhafte Lebensform bezeichnet, wird nicht nur medial attackiert, sondern kann mittlerweile auch mit handfesten juristischen Konsequenzen rechnen.


Sehnsucht nach früherer Freiheit

Der Retrokult bedient ohne Frage auch eine gewisse Sehnsucht nach früherer Freiheit und klarer Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. In den bevorzugten Serien und Filmen der Retrosehnsucht waren die Frauen schön, feminin und sinnlich, schick angezogen und buchstäblich reizend, Männer waren elegante Charmeure oder Abenteurer, auf jeden Fall aber echte Typen und Frauenbeschützer. Die damit servierten Klischees deckten sich mit der Lebenserfahrung der Zuschauer und bedienten entsprechende Erwartungen. In der heutigen TV-Welt sind viele Frauen nur noch cool und tough und stecken in Jeans und Hosenanzügen. Die Männer wiederum werden vor allem als Softies und perfekte Frauenversteher vorgeführt, nachdem die Frauenbewegung den Frauen seit Jahrzehnten einredet, dass sie keine Beschützer mehr brauchen.

Die Schere im Kopf der Drehbuchautoren verhindert mittlerweile schon im Vorfeld Anstößiges in bestimmte Richtungen. Heute sind überhaupt Kommissare und Serienhelden allesamt genauso supersportlich wie supercool, grundsätzlich in ihrer Lebensführung und ihren Haltungen, wenn sie überhaupt welche haben, unanstößig und denken stets politisch korrekt. Sie sind aber auch keine echten Typen mehr, sondern meist buchstäblich austauschbare Figuren ohne Originalität und echte Persönlichkeit. Sie zeigen keine menschlichen Laster wie Rauchen und Trinken und sind von problematischem, aber auch interessantem Privatleben weitgehend unbelastet.

Immerhin dürfen sich die Helden mancher Regionalromane noch freakig geben. Und Ottfried Fischer brachte es als "Mamas Sohn" in "Der Bulle von Tölz" zum Antihelden, der regelmäßig an den Frauen scheitert. Die geschlechterspezifischen Rollenverteilungen sind in den letzten Jahrzehnten völlig durcheinandergeraten. Das erleichtert Männern wie Frauen die Identitätsfindung jedoch keineswegs.


Vorbei die Zeiten, in denen man(n) sich mit der Unordnung in Schimanskis Wohnung identifizieren konnte. Undenkbar, dass aktuelle Ermittler Kettenraucher wären wie Haferkamp oder sich bis in manchen Absturz saufen wie Schimanski. Selbst der biedere Derrick und sein Harry gönnten sich in den siebziger Jahren noch so manches Bierchen im Büro, Haferkamp und sein Willi so manchen Schnaps. Natürlich freut sich heute wohl jeder, dass die eigenen Klamotten nach einem Kneipenbesuch nicht mehr tagelang nach Zigarettenqualm stinken. Wenn aber Schimi und Derrick in den alten Folgen sich zu Ermittlungen durch den Rauch in Bars und Diskotheken ihren Weg bahnten, dann atmete das doch ein gewisses Flair des Verruchten, das jetzt fehlt. In heutigen TV-Produktionen ersetzt oft genug die unkonventionelle Kameraführung unkonventionelle Typen. TV-Ermittler und andere Serien-"Helden" sehen immer öfter aus wie Wäschemodels aus dem Neckermann-Katalog: genormt nach DIN-Größen in Style und Auftritt und ohne Persönlichkeit.

Politisch zu sein, hieß im Medialen und im Kulturbereich früher meist, Kritik am System und an politischen Missständen zu üben. Heute besteht das Politische oft genug im Pädagogischen und in der Kritik am Bürger in erzieherischer Absicht im Blick auf Fragen der Lebensführung und persönlicher Haltungen: man/frau trinkt und raucht eben nicht, akzeptiert Homosexualität und Transsexuelle als Normalität und teilt zur Frage der Integration von Ausländern die politischen Ansichten der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen aus Wuppertal.


Moderneverweigerung und Komplexitätskritik

Sind diese Phänomene Ausdruck von Moderneverweigerung oder mehr eine Gegenbewegung zur Globalisierung? Welche gesellschaftlichen Prägungen kommen bei dieser "Rolle rückwärts" ins Spiel? Kündigt sich bei diesen Phänomenen wirklich ein Neo-Biedermeier an oder handelt es sich hier nur um einen kurzlebigen Modetrend? Tatsache ist, dass neben der beschrieben rückwärtsgewandten Nostalgie für diesen Retrokult auch eine durchaus stark auf die Gegenwart bezogene Moderneverweigerung und Komplexitätskritik verantwortlich ist. Die Gegenwart wird insgesamt als zu ausdifferenziert, zu unübersichtlich, zu komplex und auch zu problembelastet wahrgenommen. Terror und Atomkraft werden als persönlich existenziell betreffende Gefahr und Bedrohung wahrgenommen. Wenn heute pure Panik herrscht und Hysterie den klaren Blick auf politische Probleme verstellt, dann verbanden die Demonstranten vor 30 Jahren das Sit-In vor Kasernen und AKWs durchaus mit Lustgewinn. Der Protest war nicht Panikventil, sondern vor allem eine Lebenseinstellung.

Die Problematik eines griffigen wie zutreffenden Selbstbildes unserer Epoche beginnt heute schon bei der kaum möglichen Überschrift für Zeit und Gesellschaft, in der wir leben. Sprach man lange von der Postmoderne, so ist diese Beschreibung doch sehr vage. Es gab in raschem Wechsel die Rede von der Industriegesellschaft, der Dienstleistungsgesellschaft und der Kommunikationsgesellschaft. Die "Generation Golf" stand nach der Zeitenwende 1989 für die Freizeitgesellschaft. Diese fand am schon sprichwörtlichen "11. September" ihr gewaltsames Ende. Außer der blassen Bezeichnung als Internetzeitalter haben wir noch keinen gängigen Epochenbegriff für die Gegenwart zur Verfügung.

Kalter Krieg und Ölkrise, der Eiserne Vorhang bis 1989 - all das hat die Menschen berührt und geprägt und wurde doch als weniger bedrohlich und besser verstehbar wahrgenommen und empfunden als die Fragen von heute von den Geschlechter- und Rollenbildern über die Integration des Islam in die Weltgemeinschaft bis hin zur Sicherung von Energie und Wohlstand. Keine Frage: Die Welt ist vor allem in den Jahren nach 1989 unüberschaubarer und viel komplexer geworden. Der Rückgriff auf die Ikonen und Bilder der so optimistischen und fröhlichen Wirtschaftswunderzeit und die scheinbar so unbeschwerten westdeutschen Jahre bis 1989 ist deshalb auch ein Ausdruck tiefer Verunsicherung über aktuelle Entwicklungen der heutigen Zeit. Sie werden zum Symbol und zum kulturellen pars pro toto einer retrospektiven Sehnsucht nach Zeit und Sicherheit, Optimismus und Wohlstand.


Auch die Zeit wird als beschränkt wahrgenommen. Hektik und Betriebsamkeit des überschnellen Internetzeitalters bringen eine neue Sicht auf den Wert der Zeit mit sich, die längst zum Luxus der Gegenwart avanciert ist. Das Mobiltelefon ermöglicht mit der Allerreichbarkeit auch die Allverfügbarkeit des Menschen - zu Lasten von Zeit und Freizeit. Wie wohltuend erscheinen da die handyfreien Filme und Serien von früher, in die der heutige Zuschauer auch den eigenen Wunsch nach Freiheit von der Allerreichbarkeit und Allverfügbarkeit hineinprojizieren kann.

Das ruhige, beschauliche wie überschaubare, geordnete und oft grundgütige, optimistische, lebensbejahende und positive Weltbild mit Happy-End-Garantie vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das im Retrokult besichtigt und gepflegt wird, ist für seine Anhänger ein Desiderat - eine Projektion zwar, aber doch eine Folie, die im persönlichen Kulturkonsum und im eigenen Lebensstil über Ich und Welt gelegt werden kann als Ausdruck jener beschriebenen Modernitätsverweigerung und Komplexitätskritik.


Politiker des bürgerlichen Lagers sprechen gerne von der Bürgergesellschaft und subsumieren unter diesem Begriff viele konservative Anliegen wie ehrenamtliches Engagement und eine stärkere Eigenverantwortung des Menschen im Bereich der sozialen Selbstabsicherung. Doch dieses Anliegen bleibt auf der Oberfläche einer Bürgerlichkeit ohne Rückbindung an Christentum und Werte. Dies ist eigentlich ein nur strukturkonservativer und nicht wertkonservativer Gesellschaftsentwurf, weil er die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Abläufe regeln will, nicht aber positiv gesetzte Werte in identitätsstiftender Absicht anbietet. Die Form ersetzt den Inhalt. Der Retrokult bietet Inhalt. Deshalb ist er so erfolgreich. Die Klischees nimmt die Retrojüngerschaft dabei gerne in Kauf.


Dr. theol. Jürgen Henkel (geb. 1970) ist evangelischer Gemeindepfarrer in Selb-Erkersreuth (Oberfranken), Journalist und Publizist. Er leitete von 2003 bis 2008 die Evangelische Akademie Siebenbürgen (EAS). Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a.: "Alle Diakonie geht vom Altar aus". Theologie und Praxis der Diakonie im ökumenischen Dialog (Schiller-Verlag 2009), Neue Brücken oder neue Hürden? Eine Bilanz der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung (LIT-Verlag 2008), Einführung in Geschichte und kirchliches Leben der Rumänischen Orthodoxen Kirche (LIT-Verlag 2007).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 7, Juli 2011, S. 356-360
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2011