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MELDUNG/721: Dereck Chisora hat seinen Auftritt gehabt (SB)



Inszenierte Ohrfeige für Klitschko beim Wiegen

Im Jahr 2009 biß Dereck Chisora seinem Gegner Paul Butlin ins Ohr und wurde daraufhin vom britischen Verband für vier Monate gesperrt. 2010 wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, da er in einem Eifersuchtsanfall seine damalige Freundin verprügelt hatte. Ebenfalls 2010 küßte der für seine Provokationen bekannte Brite seinen Gegner Carl Baker bei einer Pressekonferenz auf den Mund, woraufhin es beinahe zur Schlägerei zwischen den beiden gekommen wäre. "Ich werde ihm keine Chance geben, mich zu küssen oder mich zu beißen, wie er das schon bei anderen gemacht hat", sagte Klitschko, der heute zur achten Verteidigung seines WBC-Titels in der Münchner Olympiahalle gegen Chisora antritt. Das war allerdings vor dem Wiegen, denn der Herausforderer hatte diesmal eine andere Aktion im Sinn.

Der in schwarz gekleidete Chisora erschien vermummt mit einer britischen Flagge und stieg wie vorgesehen auf die Waage. Nachdem die obligatorische Prozedur vorüber war, standen die Kontrahenten einander keine fünf Sekunden Stirn an Stirn gegenüber, als der Herausforderer Klitschko vor den versammelten Fans und Medienvertretern eine kräftige Ohrfeige verpaßte. Der Champion blieb besonnen und schlug nicht zurück, wenngleich es zu einem kurzen Handgemenge und Beschimpfungen kam. Betreuer und Sicherheitspersonal trennten die beiden, worauf der Brite nur sieben Minuten nach seiner Ankunft wieder verschwand. Zurück blieben ein verdutzter Klitschko und eine aufgebrachte Menge an Zuschauern und Journalisten. Klitschkos Manager Bernd Bönte schüttelte ungläubig den Kopf. Chisoras Promoter Frank Warren spekulierte, daß sein Boxer vielleicht zu viel Adrenalin im Blut habe: "Der Schlag kam 24 Stunden zu früh."

Legte man Dereck Chisoras sportliche Bilanz von nur 15 Siegen und zwei Niederlagen zugrunde, müßte man ihn als bloßes Kanonenfutter für Vitali Klitschko abhaken. Der 40 Jahre alte WBC-Weltmeister im Schwergewicht hat 43 Kämpfe gewonnen, 40 davon vorzeitig beendet und nur zwei verloren. Die körperliche Verfassung des Ukrainers scheint nach wie vor so gut zu sein, daß ihm die Herausforderer auch in konditioneller Hinsicht nicht das Wasser reichen können. Daher entbehrte die Titelverteidigung gegen Chisora im Grunde jeden Reizes, sorgte der Brite mit seinen Eskapaden nicht für ein Ablenkungsmanöver. Nun hat man endlich jene kleine Fehde, von der die Vermarktung des Boxsports bekanntlich beflügelt wird. Verglichen mit der dreisten Inszenierung eines David Haye ist es zwar nur ein Sturm im Wasserglas, doch soll er ja auch nur für die wenigen Stunden bis zum Kampf reichen.

Der, so steht zu befürchten, wird verlaufen, wie die meisten Auftritte des Champions: Dereck Chisora chancenlos, während sich das Publikum wenigstens darüber freuen kann, daß dem Herausforderer das freche Maul gestopft wird. Wenngleich sich mitunter der Verdacht aufdrängt, daß solche Inszenierungen im beiderseitigen Einvernehmen auf den Weg gebracht werden, bedarf es wohl kaum einer regelrechten Absprache, um einander die Bälle zuzuspielen. Zu simpel ist das Strickmuster, als daß es nicht in freier Improvisation ineinandergriffe. Wie so oft fiel Klitschko der Part zu, vernünftig zu reagieren und die Prügel für den Ring aufzusparen, wo er dem Gegner die passende Antwort geben will. So sind alle zufrieden, was auch für die Zuschauer gilt, die sich ereifern und auf ein Spektakel in der Olympiahalle freuen können, das aller Voraussicht nach nicht eintreten wird. Nachzutragen wäre noch das Ergebnis des Wiegens, dem angesichts des Zwischenfalls natürlich kaum noch jemand Beachtung schenkte. Beide Boxer präsentierten sich in guter Verfassung: Klitschko wirkte mit 110,5 kg ähnlich austrainiert wie vor dem Kampf gegen Adamek, der bullige Herausforderer war trotz eines Größenunterschieds von 15 Zentimetern mit 109,4 kg nur unwesentlich leichter.

Das Image Dereck Chisoras steht in krassem Widerspruch zu seiner sozialen Herkunft, und selbst wenn seine offiziell präsentierte Lebensgeschichte zur Hälfte stimmen sollte, wirkt sie wie ein Klischee, das nicht zuletzt zum Zweck besserer Vermarktung vorgehalten wird. Chisora, der in Simbabwe geboren wurde und aus besten Verhältnissen stammt, emigrierte Ende der 90er Jahre mit seiner Mutter nach London, wo er sich in einem noblen Vorort ansiedelte. Er sei als Schwarzer natürlich ein Außenseiter gewesen, so der Millionärssohn, den angeblich Langweile und Übermut ins kriminelle Milieu getrieben haben. Er wurde wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, von seinem Bewährungshelfer mit dem Boxsport bekannt gemacht. Der Junge sei ein Naturtalent gewesen, das allerdings erst Respekt lernen mußte, erinnert sich sein Trainer John Spencer. Wenngleich nicht auszuschließen ist, daß Chisora andernfalls ein böses Ende genommen hätte, klingt die Geschichte der Rettung vor der Verbrecherlaufbahn durch eine Karriere im Boxsport doch so stereotyp, daß man sich nicht einmal um ihren Wahrheitsgehalt streiten mag.

18. Februar 2012