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MELDUNG/2093: Gewichtsdiktat als Element taktischer Kriegsführung (SB)



Einflußreiche Akteure verschaffen sich irreguläre Vorteile

Seit mehreren Jahren ist im professionellen Boxsport der alarmierende Trend zu beobachten, daß einflußreiche Akteure nicht mehr im Rahmen der offiziell festgelegten Gewichtsklassen antreten, sondern auf eigens vereinbarte Limits bestehen. Sie setzen diese Praxis als Waffe gegen ihre weniger prominenten Kontrahenten ein, um sich entscheidende Vorteile zu verschaffen. Verbände und Sportkommissionen könnten diesem irregulären Verfahren ein Ende setzen, haben dies aber bislang nur zögernd oder gar nicht getan.

Das markanteste Beispiel liefert Saul "Canelo" Alvarez, der sich mit seinem mexikanischen Landsmann Julio Cesar Chavez jun. für ihren Kampf am 6. Mai auf eine Grenze von 164 1/2 US-Pfund (74,5 kg) geeinigt hat. Chavez, der für seine Gewichtsprobleme bekannt ist, war seit längerem bei seinen Auftritten nie leichter als 170 Pfund (77 kg). Nur bei seinem letzten Kampf gegen Dominik Britsch am 10. Dezember trat er geringfügig leichter an, wirkte aber beim offiziellen Wiegen regelrecht ausgemergelt. Ihn zu zwingen, noch stärker abzukochen, muß man als taktische Kriegsführung bezeichnen. "Canelo", dem es wie kaum einem anderen namhaften Boxer gelingt, zwischen Wiegen und Kampf durch Rehydrieren enorm zuzulegen, ohne konditionelle Einbußen zu erleiden, wird mit einem körperlich geschwächten Gegner in den Ring steigen, der wahrscheinlich nicht schwerer als er selber ist.

Diese Vorgehensweise ist inzwischen derart aus dem Ruder gelaufen, daß seinen Kontrahenten sogar gesundheitliche Schäden drohen. Dem sollte vernünftigerweise ein Riegel vorgeschoben werden, indem Kämpfe ausschließlich in den offiziellen Gewichtsklassen ausgetragen werden. Außerdem sind Kontrollmechanismen dringend erforderlich, wie etwa ein zweites Wiegen am Kampftag, das die nächtliche Gewichtszunahme einschränkt. Da niemand allein durch normales Trinken über Nacht mehr als 10 Kilo zunehmen kann, muß man davon ausgehen, daß die Flüssigkeitszufuhr intravenös erfolgt. Einige Sportkommissionen schreiben inzwischen Gewichtskontrollen gegen Ende der Vorbereitung auf einen Kampf vor, um eine allzu extreme Gewichtsreduktion zu verhindern oder wenigstens einzuschränken. [1]

Das reicht aber im Falle "Canelos" nicht aus, über dessen tatsächliches Kampfgewicht keinerlei Informationen nach außen dringen. Er verlangt seinen Gegnern seit langem ein Limit von maximal 155 Pfund (70,3 kg) ab, das am unteren Rand des Mittelgewichts angesiedelt ist. Das bringt er offenbar recht problemlos auf die Waage, worauf er dank nächtlicher Rehydrierung am folgenden Tag von einer beträchtlichen körperlichen Überlegenheit profitiert. Kritische Experten gaben wiederholt ihren Eindruck wieder, der Mexikaner habe im Kampf dem Augenschein nach bis zu zwei Gewichtsklassen über seinem Gegner gelegen.

Einige wenige hochklassige Akteure wie etwa Gennadi Golowkin, der regelmäßig trainiert und wenn irgend möglich drei bis vier Kämpfe pro Jahr bestreitet, zeichnen sich durch ein relativ konstantes Gewicht aus. Die meisten anderen Boxer müssen jedoch während der Vorbereitung auf ihren nächsten Auftritt vor allem nach längeren Pausen hart am Gewichtsabbau arbeiten und nicht selten in der Phase unmittelbar vor dem Wiegen regelrecht abkochen, um Flüssigkeit zu verlieren. Da sich die Einnahme verbotener Substanzen, die diesen Prozeß beschleunigen, bei der Dopingkontrolle bemerkbar machen würde, sind konventionelle Torturen angesagt. Dieser Vorgang ist insofern nicht ungewöhnlich und ein üblicher Bestandteil des Sports als er beide Boxer gleichermaßen betrifft. Früher oder später führt die erhebliche Gewichtsreduktion zu gravierenden Konditionsproblemen im Kampf, so daß der dauerhafte Aufstieg in die nächsthöhere Gewichtsklasse geboten erscheint und auch vollzogen wird.

Anders verhält es sich jedoch bei einigen wenigen Akteuren wie insbesondere Saul Alvarez, der auf Grund seiner relativen Ausnahmestellung als prominentes Zugpferd der Golden Boy Promotions und Publikumsmagnet mit eine riesigen mexikanischen Fangemeinde maßgeschneiderte Bedingungen diktieren kann. Selbst in seiner Zeit als WBC-Weltmeister im Mittelgewicht trat er nicht im Rahmen der offiziellen Gewichtsgrenzen an, sondern stets bei einem eigens vereinbarten Limit knapp über dem Halbmittelgewicht. Wer gegen ihn kämpfen und viel verdienen wollte, mußte diese vertragliche Vorgabe akzeptieren. Kam es dann zum Kampf, wirkte "Canelo" wie ein Supermittelgewichtler, der alle körperlichen Vorteile auf seiner Seite hatte. Kein Wunder, daß des öfteren Zweifel an seiner Rollenzuschreibung als angeblicher Superstar der Branche laut werden.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/01/using-weight-weapon-catch-weights-day-weigh-ins-re-hydration/#more-222616

21. Januar 2017


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