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MELDUNG/2101: Ist Anthony Joshua der neue Frank Bruno? (SB)



Wladimir Klitschko über seinen jungen Widersacher

Schenkt man seinem Promoter Eddie Hearn Glauben, wird Anthony Joshua nach einem Sieg über Wladimir Klitschko am 29. April vor 90.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion den Ring als neuer Star des weltweiten Boxgeschäfts verlassen. Der 27jährige Schwergewichtler habe es in der Hand, sich neben seinem IBF-Titel auch den vakanten Gürtel der WBA zu sichern und damit die Königsklasse zu dominieren. Der britischen Fangemeinde des in 18 Profikämpfen ungeschlagenen Champions muß Hearn das nicht zweimal sagen, da er bei ihr mit seiner Prognose offene Türen einrennt. Das Interesse an diesem Kampf ist überwältigend, wie die ausverkaufte Riesenarena zeigt, in der auf Intervention des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan 10.000 zusätzliche Plätze freigegeben wurden. Auch im britischen Pay-TV bei Sky Box Office ist mit einem enormen Zuspruch zu rechnen.

Skeptiker geben indessen nach wie vor zu bedenken, daß Joshua nur dank seines Heimvorteils bei den Olympischen Spielen 2012 in London die Goldmedaille gewonnen habe. Seine damaligen Siege gegen Ivan Dychko, Zhang Zhilei, Erislandy Savon und Roberto Cammarelle waren umstritten, doch legten sie den Grundstein zu einer mit Vorschußlorbeeren überhäuften Profikarriere. Eddie Hearn sorgte mit einer wohlbedachten Auswahl paßförmiger Gegner dafür, daß sein junger Star mit der Statur eines Bodybuilders nie überfordert war und eine Serie vorzeitiger Siege aufs Parkett legen konnte. Der 1,98 m große Joshua drängte seine Kontrahenten vorzugsweise in die Seile und schlug dort solange auf sie ein, bis sie zu Boden gingen oder vom Ringrichter schnell aus dem Kampf genommen wurden.

Obgleich er geraume Zeit IBF-Weltmeister ist, steht die Klärung der Frage, wie es um seine Qualitäten tatsächlich bestellt ist, im Grunde noch immer aus. Er hat bislang nur Gegner vor den Fäusten gehabt, die auch von anderen guten Schwergewichtlern besiegt worden wären und vor ihm von vornherein auf dem Rückzug waren. Der einzige halbwegs gefährliche Herausforderer war sein Landsmann Dillian Whyte, der ihm schon zu Amateurzeiten einmal böse zugesetzt hatte. Whyte ging jedoch mit einer Verletzung an der linken Schulter in den Kampf, die sich erheblich verschlimmerte, als er Joshua in der zweiten Runde mit einem wuchtigen linken Haken heftig erschütterte. Danach kämpfte Whyte nur noch mit einem gesunden Arm und mußte sich schließlich in der sechsten Runde geschlagen geben. Ansonsten hat Joshua Kontrahenten wie Eric Molina, Dominic Breazeale, Charles Martin, Gary Cornish, Kevin Johnson, Raphael Zumbano Love, Jason Gavern, Michael Sprott und andere besiegt, von denen keiner zur ersten Garnitur gehört.

Wladimir Klitschko wäre daher der mit Abstand hochkarätigste Gegner des Briten, sofern er den Zenit seines Könnens nicht schon zu weit überschritten hat, wie zahlreiche Kritiker meinen. Bei der Niederlage gegen Tyson Fury im November 2015 bot er eine schwache Leistung und schlug viel zu wenig, so daß der fast genauso schlecht boxende Brite am Ende nach Punkten die Oberhand behielt und die langjährige Regentschaft des Ukrainers beendete. Seither hat Klitschko nicht mehr im Ring gestanden, was ebenfalls zu seinen Lasten gehen könnte. [1]

Im Jahr 2013 hatte Wladimir Klitschko den Briten als Sparringspartner verpflichtet, als er sich auf den Kampf gegen den Bulgaren Kubrat Pulew vorbereitete. Wie Joshua kürzlich anmerkte, habe er damals Schwächen des Champions ausfindig gemacht. Wenngleich das natürlich nicht auszuschließen ist, verwundert doch, daß den Briten diese drei Jahre zurückliegende Begebenheit immer noch zu beschäftigen scheint. Klitschko hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er Joshua für einen talentierten Boxer hält, dem die Zukunft gehören könnte. In fünf Jahren werde der IBF-Weltmeister kaum noch zu besiegen sein, sofern er sich weiterentwickle wie bisher. Joshua habe jedoch noch viel zu lernen und Erfahrung zu sammeln, zumal er noch nicht gegen Kontrahenten angetreten sei, die ihm alles abverlangten.

Daher stelle sich mit Blick auf Joshua noch eine Reihe von Fragen, die einer Antwort harrten. Wie könne der Brite damit umgehen, wenn ein Gegner keine Angst vor ihm hat und ihn mit Schlägen eindeckt? Was werde er tun, wenn er zurückweichen muß oder gar auf den Brettern landet? Daher stelle sich ihm die Frage, ob Anthony Joshua der neue Frank Bruno sei, so Klitschko. Dieser Vergleich ist insofern nicht ganz aus der Luft gegriffen, als der frühere britische Schwergewichtsstar ähnlich hochgewachsen und muskelbeladen wie Joshua war, was seinen boxerischen Qualitäten im Wege stand. Bruno war zwar recht erfolgreich und hielt 1995/96 sogar für kurze Zeit den WBC-Titel, kam aber unter die Räder, als er auf James "Bone Crusher" Smith, Tim Witherspoon, Lennox Lewis und zweimal Mike Tyson traf. [2]

Wenngleich die Überlegungen Klitschkos nicht von der Hand zu weisen sind, stellt sich natürlich umgekehrt die Frage, ob der bald 41 Jahre alte ehemalige Champion heute noch in der Lage ist, den wesentlich jüngeren Gegner ernsthaft auf die Probe zu stellen und die mutmaßlichen Schwächen des Briten aufzudecken. Daß der Ukrainer den Kontrahenten mit seinen Zweifeln an dessen Reife zu verunsichern sucht und dafür seine eigene Erfahrung zitiert, die man nicht für Geld kaufen könne, ist verständlich und naheliegend. Andererseits hört sich Klitschko doch recht altväterlich an, als blicke er bereits versonnen auf seine Laufbahn zurück, wenn er räsoniert: "Ist es noch zu früh für ihn, aber schon zu spät für mich?"


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/02/hearn-joshua-will-crowned-new-worldwide-sensation-april-29/#more-226280

[2] http://www.boxingnews24.com/2017/01/klitschko-joshua-new-frank-bruno/#more-226215

2. Februar 2017


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