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PROFI/496: Klitschko prügelt Briggs - Restverwertung als Totschlagsargument? (SB)



"Briggs wird nach diesen vielen Schlägen nicht mehr derselbe sein"

Mußte sich dem Zuschauer beim Kampf zwischen Vitali Klitschko und Shannon Briggs nicht der düstere Verdacht aufdrängen, daß der Herausforderer auf eine Schlachtbank geführt wurde, die er nur zum Preis seiner physischen Unversehrtheit wieder verlassen durfte? Chancenlos gegen den Weltmeister hielt der US-Amerikaner zwölf Runden lang stoisch dessen Schlägen stand, weil die treibenden Kräfte dieser Zurichtung ihn offenbar lieber gnadenlos malträtieren ließen, als auf seine künftige Restverwertung in der Rolle des standhaften Opfers zu verzichten, das sich eher totschlagen läßt, als zu Boden zu gehen. Warum flog kein Handtuch zum Zeichen der Aufgabe in den Ring? Warum machte nicht seine Ecke in einer Pause der Drangsalierung ein Ende, um ihm weitere Prügel zu ersparen? Warum nahm ihn der Ringrichter nicht aus dem Kampf, obgleich er kaum noch Widerstand leistete? Warum waltete der Ringarzt nicht beherzt seines Amtes und erklärte ihn für kampfunfähig?

Ist die Schwergewichtsszene tatsächlich derart desolat, daß man den eklatanten Mangel an geeigneten Herausforderern zu verschleiern hofft, indem man auf das Spektakel des brutal geprügelten, aber niemals aufgebenden Underdogs setzt? Es ist kein Geheimnis, daß gravierende Langzeitschäden ehemaliger Boxer in erster Linie auf die Summierung eben solcher Situationen zurückzuführen sind, in denen sie weitgehend wehrlos schwersten Schlägen gegen den Kopf ausgesetzt waren. Dessen eingedenk muß man sich fragen, ob diese zynisch zum Heldenmut verklärte Auslieferung nicht den Tatbestand eines in Auftrag gegebenen Totschlags erfüllt. Dem Boxen, das in zugespitztem Maße den intensiven Verschleiß der Physis durch sportliche Betätigung auf die brutale Spitze treibt, wird ein Bärendienst erwiesen, wenn man seinen Niedergang nur noch als Totengräber auspressen zu können glaubt.

Nach dem Kampf brach Shannon Briggs in der Kabine zusammen und mußte von seinen Betreuern aufgefangen werden. Der 38jährige wurde umgehend in die Uniklinik Eppendorf gebracht, wo mittels einer Computertomographie abzuklären war, ob er eine Gehirnblutung davongetragen hatte. Wie Ringarzt Dr. Stephan Bock berichtete, sei Briggs benommen gewesen, habe an Schwindel und Kopfschmerzen gelitten und Kreislaufreaktionen wie verminderten Blutdruck und Puls gezeigt. Daher diagnostizierte der Mediziner eine Gehirnerschütterung. Nach Informationen des Fernsehsenders RTL lag Briggs am Sonntag auf der Intensivstation, war aber ansprechbar. [1] Aufgrund der vorgenommenen Untersuchung konnte die befürchtete Gehirnblutung zwar ausgeschlossen werden, doch bestätigte sich die Gehirnerschütterung des US-Amerikaners, der sich zudem je eine Fraktur unter dem rechten und über dem linken Auge sowie einen Sehnen- und Muskelriß im rechten Arm zugezogen hatte. [2]

"Briggs wird nach diesen vielen Schlägen nicht mehr derselbe sein", zeigte sich Klitschkos Trainer Fritz Sdunek außerordentlich besorgt um die Gesundheit des US-Amerikaners, an dessen Ecke er harsche Kritik übte: "Es tut schon weh, wenn da so brutale Menschen sitzen, die es nicht einsehen wollen, daß ihr Kämpfer keine Chance mehr hat." Spätestens nach der zehnten Runde hätte er seinen Schützling in einer solchen Situation aus dem Ring genommen. "Es wäre besser für Shannon gewesen, Vitali hätte ihn in der sechsten Runde zu Boden geschickt. Dann hätte er nicht so viele Prügel bekommen."

Dem Vernehmen nach hatte der Weltverband WBC bei der Regelbesprechung vor dem Kampf gefordert, diesen nur im äußersten Notfall abzubrechen. Dem schlossen sich offenbar die Betreuer des Herausforderers mit dem ausdrücklichen Wunsch an, so lange wie irgend möglich weiterzumachen. Der Ringarzt räumte unumwunden ein, er habe nach der sechsten Runde Angst um Briggs gehabt. Hätte der Ringrichter während des Kampfes nach seinem Rat gefragt, wäre die Empfehlung spätestens nach der zehnten Runde Abbruch gewesen. Andererseits erklärte Bock, Briggs' Pupillenreflexe seien nach dem Kampf in Ordnung gewesen.

Der britische Ringrichter Ian John-Lewis erklärte hinterher, daß der Kampf "ein bis zwei Schläge vom Abbruch entfernt" gewesen sei. Er legte die sporadischen Angriffsansätze des Herausforderers dahingehend aus, daß dieser noch nicht kampfunfähig war, und ermahnte Briggs lediglich zur Aktivität. "Das war eine Schwergewichtsweltmeisterschaft", argumentierte der Referee, "das sind harte Jungs, und solange ein Mann zurückschlägt, mußt du ihm eine Chance lassen". [3]

Der erfahrene Ringsprecher Michael Buffer konnte nicht glauben, was sich vor seinen Augen abgespielt hatte: "Nach diesen vielen schweren Schlägen hätte der Ringrichter abbrechen müssen." Auch der frühere Europameister Luan Krasniqi, den RTL als Experten aufbot, schloß sich dieser Auffassung an: "Es war unverantwortlich, den Kampf bei so vielen Wirkungstreffern fortzuführen."

Vitali Klitschko beschrieb das Geschehen aus seiner Perspektive mit folgenden Worten: "Ich habe seine Fehler gesehen, ich wußte, daß ich ihn beim nächsten Schlag richtig hart treffen würde. Dann habe ich getroffen - und er blieb stehen." Also habe er gedacht: "Okay, keine Hektik, dann kommt er eben ein bißchen später dran. Also habe ich nochmal getroffen, nochmal richtig hart, und noch einmal. Ich habe gesehen, daß er wackelt. Ich dachte: Keine Hektik jetzt, der nächste Schlag ist es." Ihm täten die Hände weh, berichtete der Ukrainer nach dem Kampf: "Ich habe ihn mir zurechtgestellt, Maß genommen, voll getroffen, aber er fiel einfach nicht."

Damit hat Vitali Klitschko den WBC-Titel im Schwergewicht vor 14.500 Zuschauern in der ausverkauften Hamburger o2-Arena durch einen einstimmigen Punktsieg gegen Shannon Briggs erfolgreich verteidigt (120:107, 120:107, 120:105). Wie die Wertung zeigt, gingen alle zwölf Runden an den Ukrainer, wobei jeder der Punktrichter mindestens einen Durchgang mit dem eigentlich für Niederschläge reservierten 10:8 notiert hat, weil die Überlegenheit des Champions drückend war. Dennoch ging der Herausforderer nicht zu Boden, wofür man ihm außergewöhnliche Nehmerqualitäten attestieren kann, sofern einem die nicht zu rechtfertigende Gefährdung seiner Gesundheit gleichgültig ist.

Anmerkungen:

[1] Ausgeknockter Briggs. Klitschkos Gegner liegt auf der Intensivstation (17.10.10) http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,723559,00.html

[2] Klitschko schlägt Briggs auf die Intensivstation (17.10.10) http://www.welt.de/sport/article10354719/Klitschko-schlaegt-Briggs-auf-die-Intensivstation.html

[3] Sport News. Briggs nach Niederlage auf Intensivstation (17.10.10) http://www.zeit.de/sport-newsticker/2010/10/17/258697xml?

17. Oktober 2010