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KOMMENTAR/052: Olympia digital - Kinder als Ware, Zielgruppe und Bezichtigungsobjekt (SB)



Das Internationale Olympische Komitee (IOC), das sich als eine dem Gemeinwohl verpflichtete Sportorganisation versteht, gleichzeitig aber als global aufgestelltes und konkurrierendes Unternehmen das Maximum an sportlicher, sozialer und wirtschaftlicher Rendite aus dem Leistungs- und Spitzensport herauszuschlagen versucht, hat ein Problem. Zwar ist während der achtjährigen Amtszeit von Präsident Jacques Rogge das Vermögen des IOC vervierfacht worden - trotz Finanzkrise belaufen sich IOC-Angaben zufolge die aktuellen Rücklagen auf 455 Millionen Dollar, dazu steigende Umsatzzahlen im Sponsoren- und Fernsehbereich -, doch es mangelt dem kommerziellen Olympismus zunehmend an jugendlichen Zuschauern. Junge Sportlerware, die über die traditionellen Selektionssysteme der Sportorganisationen herangezogen und zur Reife gebracht wird, damit sie auf internationalen Wettkämpfen dem Publikum feilgeboten und in den Zonen der Vermarktung profitabel verwertet werden kann, gibt es noch genug. Schwindet jedoch das Interesse des jugendlichen Fernsehpublikums am großen olympischen Sport, dann erreichen die Sponsoren auch nicht mehr die werberelevante Zielgruppe, was wiederum Einnahmeverluste für das IOC beim Verkauf der Werberechte bedeuten könnte.

Das Desinteresse von Jugendlichen, die sich ohnehin zunehmend Freizeitaktivitäten oder Sportarten zuwenden, die nicht im offiziellen Olympiaprogramm vertreten sind, könnte langfristig auch dazu führen, daß dem Olympismus die international homogene Rekrutierungsbasis verlustig geht. Die Hungerländer würden dann weiterhin Sport- und Spielmaterial produzieren, weil dort die Athleten noch von gutdotierten Sportlerkarrieren als Ausstieg aus dem Elend träumen und sich entsprechend zu quälen bereit sind, während in den Komfortzonen der Wohlstandsländer, wo auch die tonangebenden Sponsoren zu Hause sind, die olympia- und leistungssportaffinen Zielgruppen wegbrechen.

Um dieser absehbaren Entwicklung entgegenzusteuern, bedient sich das IOC verschiedenster kommunikativer Köderpools, um Jugendliche als Zuschauer anzulocken, als Konsumenten zu binden und möglicherweise sogar als Spitzensportler in spe zu gewinnen. "Wir müssen sicherstellen, daß die iPod- und iPhone-Generation ein- und nicht abschaltet", beschwor Martin Sorrell, Chef der weltgrößten Medien- und Kommunikationsagentur WPP, in einer der Diskussionsrunden am Abschlußtag des 13. Olympischen Kongresses in Kopenhagen die überwiegend älteren Herrschaften im Auditorium. Nach im IOC kursierenden Zahlen sind heute 1,6 Milliarden Menschen weltweit Internetnutzer, vier Milliarden per Mobiltelefon erreichbar. "Die meisten dieser Nutzer sind junge Leute. Sie sind ein riesiges und wertvolles Publikum. Ihre Konsumausgaben liegen bei 600 Milliarden Dollar", befeuerte Martin Sorrell die Verheißungen der "digitalen Revolution", welcher auch der puertoricanische Bankier Richard Carrion, Chef der Finanzkommission und verantwortlich für die milliardenschweren Fernsehverträge im IOC, große Chancen einräumt.

"Olympias Überlebenschance ist die digitale Welt", so der einhellige Tenor des mehrtägigen Tagungsmarathons von Kopenhagen. Im Kampf um die Hirne, Herzen und Interessenssphären von Jugendlichen hat das geschäftstüchtige IOC bereits neue Okkupationsstrategien auf das Internet angesetzt - "proaktive Kommunikation" nennt sich das im Neusprech der Marketingexperten. So beschickt das IOC seit vergangenem Jahr u.a. die Videoplattform YouTube mit eigenen Produkten, während es gleichzeitig als strenger "Internetpolizist" auftritt und die Filmschnipsel von bislang mehr als 19.000 Privatleuten wegen "Urheberrechtsverletzungen" aus dem World-Wide-Web entfernen ließ. Damit setzt das Wirtschaftsunternehmen seinen restriktiven Kurs fort, gegen alle, auch Athleten, vorzugehen, die gegen die Bild-, Ton- und Markenrechte des IOC verstoßen und seine Kommunikationshoheit in Frage stellen könnten.

Mußte der deutsche Kugelstoßer Peter Sack aufgrund von unerlaubten Tagebucheinträgen auf seiner Homepage noch die Sommerspiele in Athen 2004 vorzeitig verlassen, so war das "Bloggen" während der Spiele in Peking nicht mehr generell verboten. Allerdings untersagt das IOC jede journalistische Tätigkeit auf den Sportler-Blogs. Damit dies so bleibt, müssen die Athleten eine Reihe von Maßregeln einhalten: Bild- oder Tonmedien sind weitgehend oder ganz verboten, es muß sich um ein Tagebuch handeln, unbezahlt sein, und die Einträge müssen mit "dem olympischen Geist" und "dem guten Geschmack" konform gehen. Das Verbot jeder Art "politischer, religiöser oder rassistischer Demonstration und Propaganda" in den olympischen Kampfarenen, worunter auch politische Meinungsäußerungen fallen, die nur in eingegrenzten Sonderzonen erlaubt sind, setzt sich somit als Zensurmaßnahme gegen journalistisch ambitionierte Sportler unmittelbar im Internet fort.

Die kommerziellen Medien- und Markenrechte des IOC sind indessen das marktwirtschaftliche Regulativ, um die Jugend mit Sport und Spiel bei der apolitischen Konsumentenstange zu halten. Möglichst auf jedem Handy von Kindern, die laut IOC-Studie rund 40 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, soll Olympia zu sehen und zu hören sein. Twitter, Facebook, MySpace, Flickr, YouTube - die Eroberung der sozialen Netzwerke im Internet bezeichnet das IOC als Mammutaufgabe. Die kommerzielle Infiltration wird auch für eine soziale Flurbereinigung sorgen - offensichtlich gibt es noch zu viele nichtkommerzielle Nischenpublikationen, Foren, Blogs und Privatinitiativen, die nicht das Hohelied des Olympismus singen und sich auch das Denken und Reden in politischen Zusammenhängen, die konträr zum Leistungssportfetisch und seinen Repressionsapparaten liegen, nicht verbieten lassen.

Daß die großen Pressemultiplikatoren bereits fest in der Hand des IOC sind, bezeugt eine weltweite PR-Kampagne fünf Tage vor dem Olympischen Kongreß in Kopenhagen, die mit einem Schlag 20 Millionen Leser erreicht haben soll. In 15 großen Zeitungen, darunter auch die FAZ in Deutschland, wurde ein Beitrag von IOC-Präsident Jacques Rogge geschaltet, in dem er über die olympischen Werte und Ideale schwadronierte ("Durch Sport soll das Gute im Menschen gefördert und das Böse bekämpft werden.") und vor den "nicht unerheblichen Gefahren" für die Olympische Bewegung warnte, darunter natürlich auch "Medikamentenmißbrauch und Doping".

Es würde den Rahmen dieses Kommentars sprengen, ausführlich auf die Demagogie des IOC-Fürsten in bezug auf Doping einzugehen. Selbstredend hält Rogge den Preis, den Sportler für einen "unverfälschten Wettbewerb" bezahlen müssen, für gerechtfertigt - die massiven Grundrechtsverletzungen und orwellschen Überwachungsmaßnahmen, die Athleten - vielfach gegen ihren Willen - hinzunehmen haben, schrumpfen in seinem Gastbeitrag auf sieben Worte zusammen ("Strenge Tests, auch außerhalb des sportlichen Umfelds."). Das Bedauern, "dass die große Mehrheit der Athleten, die sich an die Regeln halten, sich dieser Unannehmlichkeit unterziehen müssen", bleibt ganz auf seiner Seite, während die vollreglementierten Athleten den Schaden zu tragen haben.

Mit welchen Mitteln der belgische Chirurg Kindern und Jugendlichen buchstäblich zu Leibe rücken will, davon zeugt ein weiteres Renommierprojekt, das Rogge im Frühjahr 2007 gegen anfängliche Widerstände auch aus den eigenen Reihen durchgedrückt hat: Ab 2010 (Sommer) bzw. 2012 (Winter) sollen erstmals Olympische Jugendspiele ausgetragen werden. Weil das Interesse der iPod-Generation an Olympischen Spielen rapide gesunken ist, nicht zuletzt wegen der Dominanz der elektronischen Medien und des veränderten Freizeit- und Konsumverhaltens, wird ihnen dies nun hintenherum als "gesundheitliches Fehlverhalten" zur Last gelegt. Die dahinterstehende Bezichtigungslogik könnte niemand deutlicher ausdrücken als Jacques Rogge selbst, der im erwähnten Gastbeitrag schrieb: "Eine träge Jugend ist eine weitere Bedrohung für Sport und Gesundheit. Heute muss der Sport gegen große Hindernisse um die Aufmerksamkeit und das Interesse der jungen Menschen kämpfen, vor allem in den Industrieländern. Immer mehr übergewichtige Jugendliche sind die sichtbare Folge."

Damit erweitert sich der Generalverdacht des Dopings um die gesundheitspolitische Bezichtigungspauschale der "trägen Jugend", die in Gestalt der Dickleibigkeit glattweg zur "Bedrohung" von "Sport" (= kommerzieller Olympismus) und "Gesundheit" (= Arbeitsfähigkeit im Berufsleben) stilisiert wird. Zweifelsohne sind mit übergewichtigen Jugendlichen nicht die 14- bis 18jährigen gemeint, die für die Olympischen Jugendspiele zu Erfolgs- und Medaillenbringern getrimmt werden und eher in Richtung Magersucht oder diätischem Ernährungsmanagement tendieren. Schon gar nicht ist im Hochleistungssport das Argument "Gesundheit" stichhaltig, da er bekanntlich den körperlichen Raubbau der Akteure eher beschleunigt. Es geht vielmehr um ein grundlegendes gesellschaftliches Bezichtigungsverhältnis, das den Körper zunehmend einem medizinalem Verdachts- und Kontrollregime ausliefert, das nicht mehr in Frage gestellt werden darf, es sei denn um den Preis, ins Visier der Wächter gesellschaftlichen Wohlverhaltens zu geraten. Der Dopingbegriff hat diesbezüglich bereits einen breiten Akzeptanzweg geebnet, der nun über die Bezichtigungsachse der "trägen" und "übergewichtigen" Jugend weiter ausgewalzt werden kann. Als Äquivalente zum "positivem Dopingbefund" und demnächst wohl auch "verdächtigen Doping-Indiz" sind hier der "falsche Body-Mass-Index", das "gefährliche Übergewicht" oder der "ungesunde Lebensstil" zu nennen, welche bereits jetzt über Bonus-Systeme von Krankenkassen indirekt sanktioniert werden können. Weitere Zwangsmaßnahmen könnten darin bestehen, träge oder übergewichtige "Sünder" zu verpflichten, an Ernährungsberatungen oder Bewegungs- und Sportprogrammen teilzunehmen. Auch könnten verdächtige Konsumentengruppen "intelligent" kontrolliert werden, etwa durch unangemeldete Hausbesuche der Gesundheitspolizei.

Wem diese düstere Vision übertrieben erscheint, der sollte sich bewußt machen, daß sich vor ein paar Jahren auch nur die wenigsten hätten vorstellen können, daß man einmal Spitzensportlerinnen und -sportler abverlangen könnte, sich 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag für Doping-Kontrollen zur Verfügung zu halten. "Dopingkontrollen werden bei den Youth Olympic Games obligatorisch nach dem Welt-Antidoping-Code der WADA vorgenommen", berichtete unlängst der DOSB, was nichts anderes heißt, als daß selbst Minderjährige strengsten Meldepflichten unterworfen sind, u.a. eine Stunde Hausarrest pro Tag. Daß das IOC vor dem Hintergrund von Generalverdacht und Freiheitsraub im Hochleistungssport Probleme hat, die Jugend für die Olympische Bewegung zu begeistern, sollte nicht verwundern. Zwar wird das Thema in den Medien weitgehend tabuisiert, das heißt aber nicht, daß Jugendliche aus der täglichen Skandalhetze nicht ihre Schlüsse ziehen könnten.

Um so mehr gilt es aus Sicht des IOC, "proaktiv" in die modernen Kommunikationssphären von Kindern und Jugendlichen einzubrechen und sie mittels Handy und Laptop für das saubere Marketing des Sports zu indoktrinieren, so daß abweichende Wünsche und anormale Lebensstile gleichsam auf den digitalen Olympia-Mainstream gebracht werden können.

19. Oktober 2009