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KOMMENTAR/099: Neuer Ethik-Kodex bei Werder Bremen - Leistungsdarwinismus in Reinkultur (SB)



Nein, es handelt sich um keine Zeitungsente: Der SV Werder Bremen hat nach den Fans nun auch all seinen "Mitarbeiter/innen, Spieler/innen und Eltern der Spieler/innen" einen Ethik-Kodex aufs Auge gedrückt. Herrschte zunächst noch blanke Verwirrung, weil Agenturen und Zeitungen berichteten, daß beim Fußball-Bundesligisten ab sofort alle Profifußballer einen Ethik-Kodex unterschreiben müßten, in dem sie sich dazu verpflichten, "respektvoll, fair und tolerant" miteinander umzugehen, der Verein auf seiner Website aber ausdrücklich betont hatte, daß die Bundesliga-Mannschaft davon ausgenommen sei, so folgte die Klarstellung auf dem Fuße. Der "Werder-Kodex" solle der Bundesliga-Mannschaft lediglich zur Orientierung dienen, betonte der Verein. In die Verträge der Profis werde der Kodex nicht eigens aufgenommen, da entsprechende Regularien schon durch die Lizenzverträge abgedeckt seien. Er solle vielmehr in allen Arbeitsstätten und Abteilungen des Vereins sowie der Umkleidekabine der Profis ausgelegt werden.

Was sich im ersten Moment wie eine weitere Social-Marketing-Kampagne des Klubs liest, um dem Publikum einmal mehr vorzugaukeln, wie fair, ehrlich und gerecht es im Profifußball im allgemeinen und bei SV Werder Bremen im besonderen zugeht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Versuch des Universalsportvereins, alle Vereinsmitglieder und ihr soziales Umfeld auf die Corporate Identity der Werder Bremen GmbH & Co.KG aA einzuschwören und vertraglich zu binden. "Wir wollen, dass sich alle Mitarbeiter und Sportler, aber auch die Eltern der Sportler ihrer Vorbildfunktion bewusst sind", sagte Bremens Geschäftsführer Klaus-Dieter Fischer.

Bekanntlich gehen die Klubunternehmen inzwischen immer dreister dazu über, ihre Profitinteressen mit Hilfe sogenannter Corporate Social Responsibility-Strategien ("Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung") zu bemänteln und die daraus resultierenden Reglementierungen fest im sozialen Verhalten und emotionalen Erleben der Menschen zu verankern. Unter dem Vorwand, die Kernwerte und damit die Integrität "ihres" Sports zu schützen, werden alle aktiven und passiven Sportteilnehmer aufgefordert, sich restriktiven Verhaltensnormen und Maßregeln zu unterwerfen, wie sie für die Kundenbindung und das Markenimage des Vereinsunternehmens nützlich sind. "Ich bedenke immer, wie mein Handeln das Ansehen des Vereins beeinflussen kann, und dass ich ein/e Botschafter/in vom SV Werder Bremen und des Sports bin", heißt es dazu in der Maskierungssprache des neuen "SV Werder Bremen Kodex" [1].

Selbstverständlich bleibt auch das Wort Denunziation ausgespart, obwohl es einem beim Lesen des Werder-Kodexes sofort in den Sinn kommt. So verpflichten sich die Vertragsunterzeichner "einzugreifen, wenn in meinem Umfeld gegen diesen Kodex verstoßen wird, und ich werde die Verantwortlichen des Vereins darüber informieren". Nachsatz: "Ich achte aber auch darauf, dass niemand durch ungeprüfte Falschanschuldigungen in Missgunst gebracht wird." Ferner ist den Vertragsunterzeichnern "bewusst, dass Verstöße gegen den SV Werder Bremen Kodex vereinsschädigendes Verhalten darstellt. Dieses kann Sanktionen bis zum Vereinsausschluss nach sich ziehen".

Aufgrund des universellen Charakters des Kodexes können geprüfte und für positiv befundene Anschuldigungen praktisch jeglicher Art vorgenommen werden. Denn laut Werder-Kodex übernehme der Unterzeichner "eine positive und aktive Vorbildfunktion im Kampf gegen Doping, Medikamentenmissbrauch, Suchtgefahren durch Drogen, Alkohol oder Nikotin sowie gegen jegliche Art von Leistungsmanipulation".

Vorbildlich im Sinne des Vereins sind die Wohlverhaltenskämpfer, wenn sie nicht nur auf dem Spielfeld "dafür Sorge tragen, dass die Regeln der jeweiligen Sportart eingehalten werden", sondern auch außerhalb. Die soziale Kontrolle, die das Vereinsunternehmen auf die Vertragsunterzeichner auszuüben sucht, dehnt sich somit auf alle Felder aus, auf denen gesellschaftlich abweichendes Verhalten angezeigt und sanktioniert werden kann. Das betrifft insbesondere den Gesundheitsbereich, wo die vorgebliche Sorge um Gesundheitsgefährdungen zum ultimativen Argument für individuelle Schuldzuweisungen und umfassende Gängelungen wird.

Um ihrer moralischen Vorbildfunktion gerecht zu werden, sind Werderaner praktisch aufgefordert, nicht nur Kollegen anzuzeigen, die an ausschweifenden Trinkgelagen teilgenommen, sondern sich ebenso in den Zonen des Rauchverbots dem ungetrübten Nikotingenuß hingegeben haben. Da das absolute Rauchverbot auch Kampagneziel der EU-Kommission ist, die im November 2009 Empfehlungen für ein rauchfreies Europa an das Europäische Parlament und den Rat übermittelt hatte, befinden sich die Marketingexperten der Werder GmbH & Ko.KG voll auf der Höhe der Zeit. Die EU-Kommission hegt sogar die Absicht, gegen die Verletzung des Rauchverbots "Denunziantentelefone", besser bekannt als "Whistleblower-Hotlines" einzurichten. Hätten die Fußballfunktionäre noch ein paar Tage mit der Veröffentlichung ihres Kodexes gewartet, hätten sie auch die neusten Ergebnisse einer OECD-Studie über "Fettsucht" in den Industrieländern in ihren ethischen Kodex einarbeiten können. Demnach sei fast jeder zweite OECD-Bürger heute übergewichtig, rund jeder sechste gar krankhaft fettsüchtig. Die Krankheitskosten lägen sogar deutlich über denen für Raucher. Warum also neben "Drogen, Alkohol und Nikotin" nicht auch "Überernährung" oder andere vermeintliche Gesundheitsrisiken in den Werder-Kodex aufnehmen? Und wie wär's mit "Sozialmißbrauch", wo doch zum Kampf gegen "jegliche Art von Leistungsmanipulation" aufgerufen wird und sich Sozialrassisten vom Schlage Thilo Sarrazin, die einen Kreuzzug gegen Sozialbetrüger, Integrationsverweigerer und "weniger Tüchtige" begonnen haben, immer größerer Beliebtheit erfreuen?

An leistungsdarwinistischem Vokabular mangelt es auch dem Werder-Kodex nicht. Sporttreibenden Kindern und ihren Eltern sollen in einem Land wie Bremen, dem vom rot-grünen Senat eine "Schuldenbremse" verordnet wurde, unter der vor allem jene zu leiden haben werden, die ohnehin schon wenig Geld haben und am stärksten von öffentlichen Leistungen abhängen, offenbar beigebracht werden, daß es sich IMMER lohnt, den Leistungskonkurrenten niederzuhalten, egal, wie stark oder schwach er auch sein mag. So heißt es in der siegerfixierten Fairplay-Sprache des Werder-Kodex nicht nur, "ich gebe niemals auf, auch wenn der Gegner stärker ist", sondern auch, "ich lasse niemals nach, auch wenn der Gegner schwächer ist".

Das sportlich gnadenlose, aber faire Niederkämpfen des schwächeren Rivalen will in der Leistungsgesellschaft eben gelernt sein, schließlich sind Sport und Spiel nicht nur eine Lebensschule, sondern auch eine Schule des Scheiterns. "Niemand gewinnt immer ... lerne, ehrenvoll zu verlieren ... akzeptiere eine Niederlage mit Würde" heißt es im Werder-Kodex, was den Verlierern der Sportkonkurrenz offenbar sagen soll, daß auf dem Platz wie im Leben nicht alles eitel Sonnenschein ist, jedenfalls nicht für die neue Verlierergeneration von "Unterklasse-Menschen", die die Sparpakete der Bundesregierung, die ihnen die Sieger dieses Konkurrenzsystems eingebrockt haben, klaglos und mit Würde zu tragen haben.

"Der Sieg ist das Ziel eines jeden Spiels ... Ohne Gegner gibt es kein Spiel", sagt der Werder-Kodex, und man beginnt zu ahnen, warum die Verlierer der Leistungskonkurrenz sich nicht solidarisieren und den Siegern die Herrschaft des Leistungsdarwinismus streitig machen. Wo der "Gegner" zur apodiktischen Voraussetzung des Spiels wird, der unabhängig von seiner Stärke oder Schwäche mit schonungslosem Eifer niedergerungen werden muß, da läßt sich immer noch ein schwächerer Prellbock finden, an dem sich auch der verhinderte Sieger gesundzustoßen vermag. Im gesellschaftlichen Gesamtgefüge sind das jene antipodischen Verlierer, Nichtsnutze oder Sündenböcke, die dem Motor der kapitalistischen Leistungskonkurrenz als Schmiermittel für soziale Ausgrenzung und Distinktion dienen.

Anmerkung:

[1] http://www.werder.de/download/SV_Werder_Bremen-Kodex.pdf

27. September 2010