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KOMMENTAR/104: Steigbügelhalter für Stigmatisierung - DOSB und DSJ unterstützen Bildungs-Chipkarte (SB)



Es ist bekannt, daß der organisierte Sport keine Gelegenheit ausläßt, um sich angesichts knapper werdender Haushaltskassen als unverzichtbarer Sozialpartner von Politik und Gesellschaft in Stellung zu bringen. Schon seit langem drängen der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und seine Jugendorganisation, die Deutsche Sportjugend (DSJ), darauf, daß der Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wird, um Ansprüche geltend machen zu können. Die Führer der größten Personenvereinigung im Land mit rund 27 Millionen Mitgliedern in 91.000 Sportvereinen verweisen regelmäßig darauf, wie wichtig der Sport für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei und wie gut die Partnerschaft von Sport und Politik funktioniere. Zwar erweisen sich die Wertekulissen des weitreichend ökonomisierten Sports insbesondere im Spitzen- und Profibereich immer mehr als fauler Zauber von Marketingexperten, um mit Hilfe eingängiger Fairplay-Slogans noch bessere Geschäfte machen zu können, doch zumindest an der breitensportlichen Basis - könnte man meinen - ist die Sport-Community noch nicht von Korruption, Wettbetrug, Schiedsrichtermanipulation oder Doping sowie damit untrennbar verbundener repressiver Bekämpfungssysteme durchherrscht. Im Sportverein finde man "eine gewisse Wärme", "eine gewisse Heimat", "eine gewisse Nachhaltigkeit", schwärmte kürzlich Ingo Weiss, Präsident der Deutschen Sportjugend und des Deutschen Basketball-Bundes sowie Mitglied im DOSB-Präsidium, im Deutschlandfunk [1]. Die sozialen und außerschulischen Angebote, die der Sport biete, seien ein "hervorragender Faktor, um all die Kinder ein klein wenig wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, die vielleicht so ein bißchen nebendran stehen".

Wie die meisten der hochrangigen Sportfunktionäre, die vom Fördermittelfluß und dem Wohlwollen der Bundesministerien abhängig sind, hält auch Ingo Weiss den Vorschlag von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), für bedürftige Kinder von Langzeitarbeitslosen oder Hartz-IV-Empfängern eine "Bildungschipkarte" aufzulegen, für "sehr sinnvoll". Bereits im September hatten DOSB-Generaldirektor Michael Vesper und DOSB-Vizepräsident Walter Schneeloch nach einem Gespräch mit Ursula von der Leyen angekündigt, sie würden das "Bildungs- und Teilhabepaket mit seinem Angebot in den Vereinen tatkräftig unterstützen".

Statt einer kräftigen Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes, wie von Sozialverbänden, Gewerkschaften und Linken gefordert, hatte die schwarz-gelbe Regierungskoalition vor kurzem lediglich eine Erhöhung um fünf Euro von jetzt 359 auf 364 Euro beschlossen. Trotz der um sich greifenden Kinderarmut (nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist jedes fünfte Kind in Deutschland arm) wurde auf eine Erhöhung der Sätze für Kinder und Jugendliche verzichtet. Statt dessen schwebt Arbeitsministerin von der Leyen ein "Bildungspaket" vor, das künftig über eine Chipkarte abgerufen werden kann und von Essenszuschüssen über Sportangebote bis hin zu Schulmaterial, Nachhilfe oder Musikunterricht reichen soll. Für diesen Posten zur "Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben", wie es im Gesetzentwurf (17/3404) heißt, sind lediglich 10 Euro pro Monat vorgesehen, was die Kinder praktisch dazu zwingt, zwischen "Fußball", "Flöte" oder "Museum" zu wählen.

Das Chipkartensystem bedeutet nicht nur eine Stigmatisierung und Bevormundung mittelloser Eltern, denen unterstellt wird, sie könnten nicht mit Geld umgehen, da sie es für vermeintlich eigennützige und unsinnige Dinge wie Alkohol, Rauchwaren oder anderweitige Konsumwünsche vergeudeten, während sie gleichzeitig ihre Kinder auf den Hungerast setzten, sondern auch eine Stigmatisierung der Kinder und Jugendlichen selbst. Wer per Chipkarte oder personalisierten Gutschein die Gebühr im Sportverein oder den Museumseintritt berappt, wird automatisch als "arm" gebrandmarkt, oder, um es im Sarrazin-Deutsch zu formulieren, als Angehöriger der "weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse" sichtbar gemacht. Bereits ohne Chipkarte schämen sich viele Kinder armer Familien ihrer Eltern, da ihnen die bürgerliche Leistungsgesellschaft ständig einredet, "wer wirklich will, der kann auch". Eltern, die nicht können, wollen nicht und sind folglich Rabeneltern - so lautet der implizite Umkehrschluß, der durch das gesellschaftliche Leitbild der "aktivierenden Sozialpolitik", wonach Armut und Arbeitslosigkeit nicht eine Folge fehlender Arbeitsplätze, sondern des Mangels an persönlicher Motivation und Anstrengung seien, permanent befeuert wird. Was sollen also Kinder unter diesen Umständen von ihren Eltern denken?

Nicht die Aufhebung von Armut und sozialer Ausgrenzung sind Ziel der Bundesregierung, sondern neue Verfügungsformen individueller Bezichtigung und administrativer Kontrolle. Chipkarten sind nicht einfach nur ein anderes Zahlungsmittel. Während Geld dem Individuum noch die Möglichkeit offenläßt, es nach freier Verfügung zum Kauf von Waren und Dienstleistungen einzusetzen, sichert sich der Staat beim Einsatz elektronischer Chipkarten das exklusive Vorrecht, nach seinen oft zweifelhaften Berechnungsgrundlagen und politischen Vorgaben essentielle Zuteilungen und Rationierungen vorzunehmen. Mangel und Armutsstigmatisierung in Verbindung mit dem datenelektronischen Striptease, der die Bedürftigen angeblich vor "potentiellem Sozialmißbrauch" bewahren soll, verschaffen dem Staat somit umfassende Zugriffsoptionen auf den bis aufs Hemd ausgezogenen Bürger, der sich schamhaft nach jedem Strohhalm streckt, um seine soziale und materielle Blöße bedecken zu können.

Die bargeldlose Portionierung von "Bildungs- und Teilhabepaketen" hat durchaus Modellcharakter für den "aktivierenden Sozialstaat", gilt es doch vor dem Hintergrund sich weltweit verknappender Nahrungsmittel- und Energieressourcen, neue Zumutbarkeitsregeln öffentlicher Mangelversorgung nicht nur krisenfest in der Gesellschaft zu implementieren, sondern auch repressiv zu pädagogisieren. Der vor einigen Jahren vom ehemaligen hessischen Kultus- und Justizminister Dr. Christean Wagner (CDU) erhobene Vorschlag, zur Motivation von Langzeitarbeitslosen "elektronische Fußfesseln" einzusetzen, um ihnen darüber eine "wichtige Hilfe zur Selbsthilfe" zu geben, "zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren und in ein Arbeitsverhältnis vermittelt zu werden", dürfte noch nicht das letzte Wort in dieser Richtung gewesen sein.

Daß der staatstragende Sport nun auch bei der Einführung einer Chipkarte als politisch willfähriger Steigbügelhalter in Erscheinung tritt, kann insofern nicht überraschen, als er Ende 2004 schon dabei half, die Zumutungen der unter der rot-grünen Regierung eingeleiteten "Agenda 2010" akzeptabel zu machen, die beträchtliche Teile der Bevölkerung in die Verarmung führte. Nachdem die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II beschlossen worden war, erklärte der damalige Deutsche Sport-Bund (DSB), die Hartz-IV-Gesetze für eine "beschäftigungspolitische Offensive in den eigenen Reihen nutzen" und mehrere tausend Empfänger von ALG II auf Basis der Ein-Euro-Minijobs zur Mitarbeit in den Sportvereinen gewinnen zu wollen. Mit diesem Schritt kurbelte auch der organisierte Sport den Ausbau des Niedriglohnsektors sowie die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze an. Lokale Musterbeispiele, wo die "soziale Kompetenz" durch Sport gestärkt und Ein-Euro-Jobber in den "ersten Arbeitsmarkt" integriert werden konnten, dienen seither als nachträgliche Rechtfertigung der durch die desaströse Arbeitsmarktpolitik geschaffenen "Tatsachen" sowie als allgemeiner Beleg dafür, daß es für alles eine Lösung gibt - wenn der Einzelne nur will und seine Funktionäre richtig anpacken.

In diesem Stil argumentierte auch Sportfunktionär Ingo Weiss im Deutschlandfunk [1], wo er das Stigmatisierungs-Problem mit der Chipkarte in der heutigen Zeit als "schwierig", aber "lösbar" darstellte. Es sei "Vogelstrauß-Mentalität" von vornherein zu sagen, "wir wissen nicht mit dem Problem umzugehen". Statt dessen forderte er dazu auf, das Problem anzufassen: "Wir wollen diese Bildungskarte, wir wollen diesen Bildungschip, und dann wollen wir gucken, wenn wir es dann haben, wo die Probleme effektiv auftauchen. Dann muß man an diesen Problemen arbeiten."

Mit anderen Worten: Nicht die Chipkarte und das dahinterstehende Politikmodell der Mangelfürsorge soll bekämpft werden, sondern die daraus zielsicher entstehenden sozialen Folgeprobleme. Auf diesem Umweg können sich DOSB und DSJ zweifelsohne als Sozialtherapeuten und Krankenstation der Gesellschaft wichtig machen und institutionell verankern. Ob der Sport dafür auch einen Eintrag als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz bekommt? Bekanntlich war eines der von Politikern und Journalisten vorgebrachten Pro-Argumente für den Verfassungsrang des Sports, daß damit auch ein Anti-Doping-Gesetz in Deutschland auf den Weg gebracht werden könnte. Wie man sieht, sind Armuts-Stigmatisierung und Doping-Kriminalisierung zwei enge Verwandte bei der repressiven Versportung der Gesellschaft.

Anmerkung:

[1] Deutschlandfunk. Sport am Samstag. 16.10.2010. Sportfunktionär Ingo Weiß plädiert für die Bildungs-Chipkarte bei Hartz IV-Empfängern.

1. November 2010