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KOMMENTAR/145: Olympia ruft - Ski-Freestylerin Sarah Burke erlag schweren Verletzungen (SB)



Man möchte sich gar nicht ausmalen, welchen Tsunami an Verdachtsberichterstattung, Verfolgungseifer und Strafverschärfung ein Athlet auslösen würde, der sich, des "Restrisikos" seines Tuns durchaus bewußt, bei den Olympischen Sommer- oder Winterspielen auf unerlaubte Weise zu Tode gedopt hätte. Kein Stein würde auf dem anderen bleiben, und der sogenannte Antidopingkampf hätte endlich seine Vorzeigeleiche, um mit Verweis auf die Gesundheitsgefahren und tödlichen Risiken die flächendeckende Totalkontrolle aller Spitzen- und Profisportler (und weit mehr) zu verlangen. Wenn sich jedoch Athleten auf regel- wie marktkonforme Weise zu Tode bringen, ebenfalls des Restrisikos ihres Tuns bewußt, dann werden sie als tragische Helden mit allen Ehren zu Grabe getragen.

Es bedarf nicht des Extrembeispiels der Rallye Dakar, wo am Neujahrstag die Todesstatistik auf rund 60 tote Teilnehmer, Zuschauer und Berichterstatter seit 1979 emporgetrieben wurde, um zu erkennen, daß der Thrill des Extrem- und Risikosports, sich in immer gewagtere Körperlagen und Gefahrenzustände zu bringen, dem ganz profanen Erlebnishunger geschuldet ist, wie er etwa auch bei den gerade beendeten 1. Olympischen Jugend-Winterspielen in Innsbruck aus vornehmlich ökonomischen Kalkülen angestachelt wurde. Die Nachricht vom tragischen Tod der Ski-Freestylerin Sarah Burke soll sich auch bei der Leistungsschau der Minderjährigen, die laut IOC-Präsident Jacques Rogge eine "Investition in die Zukunft der Athleten" (im olympischen Hochleistungssport) darstellten, in Windeseile herumgesprochen haben und für einige Zeit Gesprächsthema Nummer eins gewesen sein. Die 29jährige Kanadierin, die als Vorbild und Vorreiterin ihrer Sportart galt und maßgeblich dazu beigetragen hatte, daß Ski-Freestyle 2014 im russischen Sotschi erstmals bei den Olympischer Winterspielen vertreten sein wird, war am 10. Januar beim Training in einer Super-Halfpipe für ein Event ihres Sponsors in Park City/Utah schwer gestürzt. Bei einem spektakulären Sprung mit dreieinhalb Drehungen prallte sie mit dem Rücken so hart auf die Eisplatte, daß es nach einem Herzstillstand zu irreparablen Gehirnschäden gekommen sei, teilte ihre Familie mit. Neun Tage später verstarb sie an den Folgen ihrer Verletzungen. Auf der gleichen Olympia-Halfpipe hatte sich bereits im Dezember 2009 der amerikanische Snowboarder Kevin Pearce so schwere Kopfverletzungen zugezogen, daß er Jahre der Therapie benötigte, um überhaupt wieder sprechen und laufen zu lernen.

Überraschend sei die Nachricht vom Tod Sarah Burkes nicht gewesen, erklärte Ski-Freestyle-Bundestrainer Dennis vom Brocke am Rande der Olympischen Jugendspiele in Innsbruck. Direkt nach dem Sturz sei er ein wenig geschockt gewesen. Andererseits seien im Ski-Freestyle Unfälle, ob im Training oder im Wettkampf, an der Tagesordnung: "Damit rechnet man natürlich. Daß es dann ab und zu so unschön ausgeht wie jetzt, ist natürlich schade. Aber die Veranstalter und Organisatoren versuchen eigentlich, alles so sicher wie möglich zu machen. Aber es bleibt letztendlich immer ein Restrisiko bestehen." [1]

Mit ähnlichen Rationalisierungsmustern wartete kürzlich auch der Motorsport-Veteran Hans-Joachim Stuck auf, nachdem bei der Rallye Dakar der Argentinier Jorge Martinez Boero bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war - trotz angeblich ständig verbesserter Sicherheitsstandards. Gegenüber dapd vertrat Stuck den Standpunkt, daß bei einem der letzten Motorsport-Abenteuer der Welt jeder Teilnehmer wisse, auf was er sich einlasse. Deshalb dürfe man die Veranstaltung nicht in Frage stellen. Es werde nie die einhundertprozentige Sicherheit für alle Beteiligten geben. Stuck verglich die unfallträchtige Rallye, die im übrigen auch unbeteiligte Personen und Tiere mit in den Tod gerissen hat, mit dem berühmtesten Skirennen der Welt: "Die Streckenbedingungen und -verhältnisse bei der Dakar sind ebenso extrem wie die auf der 'Streif' in Kitzbühel. Deshalb kommen auch so viele Zuschauer zu den beiden Events. Sie wollen etwas Spektakuläres und Aufregendes sehen." [2]

Wenn der VW-Repräsentant die Gefahren für Leib und Leben dann auch noch mit der Aussage relativiert, "wenn man zum Kaffeetrinken fährt, kann auch etwas passieren", dann sollte man sich schon fragen, für welche Lobby er spricht und wer ein profitables Interesse daran haben könnte, daß "Spektakuläres und Aufregendes" erzeugt, den Menschen als vorbildlich und nachstrebenswert verkauft und als höchste Erlebnis- und Lebensqualität in den Zenit des Wertehimmels gestellt wird.

Nicht nur die Autoindustrie fördert bekanntlich den Rennzirkus zur Bewerbung ihrer Marken und Produkte, sondern auch die olympische Eventindustrie. Weil sich mit den zum Teil sehr altbackenen und nur von wenigen betriebenen Wintersport-Disziplinen nicht mehr alle Aktiven und Zuschauer einfangen und in das olympische Geschäftsmodell einbinden ließen, mußte sich das IOC - auch auf Geheiß der IOC-Sponsoren und TV-Vermarkter - einen Modernisierungsschub verpassen. Dazu gehörten sowohl die Einführung von Jugendspielen als auch die Öffnung des Programms für junge Trendsportarten. Nicht erst bei den Erwachsenenspielen in Sotschi, sondern bereits bei den Minderjährigenspielen in Innsbruck feierte deshalb die Extremsportart Ski-Freestyle olympische Premiere. Der Unfalltod von Sarah Burke, die als eine Wegbereiterin ihrer Sportart ins olympische Programm gilt und als erste Frau den 1080° (dreifache Drehung) in einem Wettbewerb gestanden hatte, dürfte allerdings nicht gerade zur Imageförderung des Winter-Olympismus beigetragen haben. Zumal die Befürchtung im Raume steht, daß die Vereinnahmung der Trend- und Extremsportarten sowie die Zurichtung der Akteure für den Überbietungswettbewerb bei Olympischen Spielen mit weiteren Gesundheitsgefahren für die um immer spektakulärere Sprünge wetteifernden Sportler verbunden sein wird.

Doch wen schert's? Die Halfpipe war bereits 2010 bei den Winterspielen in Vancouver der unangefochtene Quotenbringer für den US-amerikanischen Olympia-Sender NBC, der ansonsten bei den Liveübertragungen ein Minusgeschäft gemacht haben soll. Als der damals 23jährige Snowboard-Millionär Shaun White (USA) seinen "Double McTwist 1260" (doppelter Rückwärtssalto mit dreifacher Drehung) präsentierte und zu Olympiagold surfte, werden vielen IOC-Funktionären auch die Dollarzeichen in den Augen aufgegangen sein. Die waghalsigen Saltos und Schrauben an der acht Meter hohen Eiswand waren das beste Verkaufsargument bei der Versteigerung der Fernsehrechte für den US-Markt, also dort, wo das IOC die meisten Gelder generiert. Und so kam es dann auch: Im Sommer vergangenes Jahr konnte das IOC die TV-Übertragungsrechte an den Olympischen Spielen 2014, 2016, 2018 und 2020 für stolze 4,382 Milliarden Dollar (2,98 Milliarden Euro) an den TV-Giganten NBC veräußern.

Des weiteren arbeiten das IOC, der Weltskiverband FIS und die nationalen Skiverbände mit aller Kraft daran, die noch etwas wildere und autonomere Snowboarder-Szene vollständig in das olympische Freestyle-Programm zu integrieren. Während dies für die Halfpipe-Wettbewerbe (Ski und Snowboard) gelungen ist, steht die Usurpation des Snowboardens im Slopestyle noch aus. Der Slopestyle-Wettbewerb, der über einen aufwendig und teuer hergestellten Schanzen- und Hindernisparcours führt, ist eine Erfindung der unabhängigen Snowboardszene, die sich jenseits der Olympischen Spiele und Skiverbände in der professionell organisierten Ticket-to-Ride-Tour (TTR) konstituiert hat. Die TTR veranstaltet alle weltweit wichtigen Freestyle-Wettbewerbe und hat auch das entsprechende Knowhow. Hinter den Kulissen tobt zur Zeit ein Machtkampf zwischen dem Skiweltverband und den Snowboardern um die Pfründe im modernen Wintersportzirkus sowie die Hoheitsrechte bei den Qualifikationen im Slopestyle für Sotschi 2014. Die TTR-Funktionäre sind prinzipiell bereit, sich allen IOC-Standards anzupassen, möchten aber eigene Qualifikationsturniere neben den FIS-Veranstaltungen organisieren, was die FIS-Funktionäre (mit Rückendeckung des IOC) bislang ablehnen.

Während die Pioniere und Hardliner der Snowboardszene, die weniger an leistungssportlichen Wettbewerben denn an Livestyle, Foto- oder Filmshootings, Mode, Musik und Happenings interessiert sind, die Vereinnahmung ihrer Sportart durch Olympia durchaus kritisch sehen, zumal man sich auch in der ideellen Opposition zu den ungeliebten "Skifahrern" sieht, wird die ganze Tragweite der Unterwerfung unter das IOC-Regiment kaum thematisiert. Die Ticket to Ride World Snowboardtour wird zwar als Non-Profit-Netzwerk angesehen, in ihr sind aber bereits all die kommerziellen Zwangsläufigkeiten und ökonomischen Abhängigkeiten angelegt, die das IOC als Spitze dieser Entwicklung bereits vor nicht mehr beherrschbare Probleme stellt. Allein um die kommerzielle Verwertung des Hochleistungssports aufrechterhalten und vorantreiben zu können, bedarf es eines so riesigen Regulationsapparates zur Durchsetzung der Gebote und Verbote, daß der sozialfeindliche Charakter dieser Entwicklung kaum noch mit den olympischen Wertemasken und medialen Tünchen überdeckt werden kann. Der massiv die Grundrechte der Athleten verletzende Antidopingkampf, der zudem eine Mißtrauens- und Verdachtskultur freigesetzt hat, die den nach sportlichen Regeln funktionierenden Menschen nur noch durch die kriminalistische Brille wahrnimmt, ist dafür nur ein Beispiel.

Wollen die Freestyler auch nur ein wenig von ihrer freigeistigen Lebenseinstellung bewahren, dann sollten sie sich tunlichst vom "Schneller, Höher, Stärker" des olympischen Hochleistungssports fernhalten. Das dürfte nicht nur ihrer Gesundheit guttun, sondern auch ihrer Bewegungsfreiheit. Die Unterwerfung unter die IOC-Standards schließt nämlich auch täglich eine Stunde Freiheitsberaubung sowie strengste Meldeauflagen im Rahmen des Antidopingregimes mit ein. Wer für die Kontrolleure nicht erreichbar ist, gilt nicht als frei, sondern als verdächtig oder delinquent. Dieses Menschenbild wollen die Olympier auch allen anderen überstülpen, damit der Goldesel des IOC weiterhin Medaillen, Moneten und Meriten scheißt.

Anmerkungen:

[1] Der Tod von Sarah Burke beschäftigt. Von Oliver Fenderl. 20.01.2012.
http://www.br.de/radio/b5-aktuell/olympische-jugend-winterspiele-sarah-burke100.html

[2] http://www.fr-online.de/sport/rallye-dakar-immer-wieder-toedliche-unfaelle,1472784,11378610.html

27. Januar 2012