Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/161: Positiv denken! Verletzungen und quälende Reha lassen sich aushalten (SB)




Lassen sich Gleichgültigkeit und Gewöhnung gegenüber den leistungssportlichen Martyrien noch steigern? Wie jeder weiß, der hinter die Jubelfassaden des Unterhaltungsspektakels zu blicken vermag, gehören Verletzungen, Krankheiten und Verschleißerscheinungen bis hin zu psychischen Erkrankungen und chronischen Spätschäden zum Arbeits- und Lebensalltag von Spitzensportlern.

Die zahlreichen Leidensberichte über den Diskuswelt- und -europameister Robert Harting, der keinen Hehl daraus machte, daß er sich aufgrund eines Knieschadens mit Schmerzmitteln vollpumpen mußte, um wettkampf- und als Profisportler überlebensfähig zu bleiben, haben nicht dazu beigetragen, den leistungssportlichen Verschleißbetrieb grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Gegenteil. Auch Hartings offenherziges Eingeständnis, daß er nach den körperlichen Überlastungen, der Knieoperation und den monatelangen Rehamaßnahmen psychologische Hilfe benötigte, weil er aufgrund eines Burnout-Syndroms Wahrnehmungsstörungen gehabt und nächtelang durchgeweint habe, trug eher noch zu einer Heroisierung des Schmerzüberwindungstyps bei. Solange Harting Titel gewinnt oder bei Olympia als Medaillenbringer reüssieren kann, scheint die Ausbeutung der Leidensfähigkeit von Athleten sakrosankt.

Ähnliche Schicksale von Athleten, die sich mehr oder minder erfolgreich durch den programmatischen Schlauch von Belastung-Überlastung-Rehabilitation hindurchkämpfen, bis ihre Kräfte erschöpft oder sie irreversibel geschädigt sind, gibt es zuhauf. Auch die sozialen Verdrängungsmechanismen, die dazu nötig sind, um progressive Hochleistung und ruinöse Körperausbeutung unter einen persönlich akzeptierten Hut zu bringen, sind so vielgestaltig, wie es Athleten gibt.

Daß die kantige Lichtgestalt Robert Harting in Interviews bisweilen einige der sozialen Zwänge und wirtschaftlichen Abhängigkeiten beim Namen nennt, die Athleten dazu bringen, selbst unter Schmerzen und der Gefahr weiterer Folgeschäden noch Höchstleistungen zu produzieren ("Inzwischen bin ich Unternehmer. Der Sport ist meine Existenz. Locker lassen geht nicht, das hätte sofort Konsequenzen." [1]), läßt zumindest ahnen, unter welchem Druck die Sportler stehen. Derlei (Selbst-)Erkenntnisse sind jedoch nicht neu. Im Falle Hartings, der eigenen Angaben zufolge seine Knieprobleme inzwischen auf ein erträgliches Maß reduzieren konnte, dient die Reibung an den quälenden Verhältnissen wohl eher dazu, um daraus neue Motivation zur Selbstüberwindung zu schöpfen - nicht um den Torturen ein Ende zu bereiten, sondern um sie mit dem Zuspruch und Trost des Publikums bis zur bitteren Neige fortzusetzen.

Doch es gibt auch andere Formen der Vermeidungskultur unter Topsportlern, die nichts mehr an den vorherrschenden Verwertungsbedingungen des Leistungs- und Spitzensports auszusetzen und die kritische Selbstreflektion durch euphemistische Strategien der Selbstdarstellungen im Internet ersetzt haben. Hier findet so gut wie kein Selbstzweifel, kein Zank mit Funktionären, keine Reibung an den belastenden Verhältnissen statt. Statt dessen werden alle Härten und Fährnisse der sportartspezifischen Körpervernutzung, ja selbst die leidvollen Erfahrungen bei der Rehabilitation nach schweren Verletzungen, in Watte gepackt und durch "positives Denken" aus der Wahrnehmung gebannt. Die Reparatur der gebrochenen Glieder, zerfetzten Bänder oder gesprengten Menisken wird auf diese Weise zum reinen Geschehensablauf, dem sich der Athlet voller Hoffnung auf schnellstmögliche Genesung hingibt, ohne daß ihm eine Klage oder ein böses Wort über die Lippen käme, da dies dem Heilungsprozeß doch nur hinderlich wäre. Wer mit sich und seiner Umwelt hadert, der hat dann selbst schuld, daß die Therapie nicht optimal verlaufen ist. Der Rekonvaleszent hätte doch nur "positiv" zu bleiben brauchen.

Wer das bislang in drei Teilen veröffentlichte Tagebuch [2] von Isabell Klein, Spielführerin der deutschen Frauenhandball-Nationalmannschaft und des Buxtehuder SV, liest, die nach ihrem Kreuzbandriß samt Meniskus- und Bänderschaden im März in monatlichen Abständen darüber berichtet, wie ihr Weg aus der Rehabilitation zurück aufs Spielfeld verläuft, taucht in eine Welt ein, die keine Widersprüche mehr kennt und wo jedes halbleere Glas zum halbvollen wird. Die Zeiten, als Spielerinnen von quälenden und schleppenden Rehabilitationsmaßnahmen berichteten, von den schlimmsten Monaten ihres Lebens, scheinen vorbei. Wer es trotz Krücken, täglicher Physiotherapie, Krankengymnastik, Lymphdrainage, Elektrotherapie und weiteren Rehamaßnahmen schafft, wie Isabell Klein "nicht negativ zu sein" und "positiv und mit guter Laune in den Heilungsprozess (so schwer das auch sein mag)" gehen kann, der weiß mit Schicksalsschlägen, über deren Ursachen man sich lieber keine tieferen Gedanken macht, gut umzugehen. "Was hilft es, wenn ich traurig bin?! Es gibt Menschen, die mit einem viel schlimmeren Schicksal leben müssen. Es ist bei mir ja schließlich 'nur' das Knie, alles andere in meinem Leben ist doch gut", so die 27jährige Vorzeigesportlerin, die erstmals in ihrer Karriere von einer solch schweren Verletzung heimgesucht wurde. Die mit dem Handballstar des THW Kiel, Dominik Klein, verheiratete Linkshänderin möchte mit ihren Berichten auch anderen Mut zusprechen, die eine ähnliche Verletzung erlitten haben.

Der ausnehmend "positive" Grundton ihres Tagebuches mag auch der bekannten Tatsache geschuldet sein, daß im kampf-, körper- und zunehmend temporeicheren Hallenhandballsport Unfälle und Verletzungen praktisch an der Tagesordnung sind. Handballer/-innen lernen schon von Kindesbeinen an, sich in den Dienst der Mannschaft, deren Erfolg stets gefährdet ist, zu stellen und Schmerzen zu übergehen. Pharmakologische und orthopädische Hilfen tun ein übriges, um mit kleineren oder mittleren Blessuren über die Runden zu kommen. Der Rest, so heißt es, ist Adrenalin und Publikumsrausch. Wenn bei Meisterschaften der "Hallenboden brennt", dann rauchen meist auch die Schlote in den hochgelobten "medizinischen Abteilungen" der Vereine, wo die ausgelaugten oder angeschlagenen Spieler/-innen wieder fit und einsatzfähig gemacht werden. Ohne die Physios und Mannschaftsärzte ginge im Spitzenhandball überhaupt nichts - und das nicht nur im harten Wettbewerb, sondern auch bei Trainingsleistungen. Nur wer sich mustergültig verletzt, bekommt eine Pause. Alltagsschmerzen, mit denen die Spieler/-innen morgens aufstehen und abends zu Bett gehen, sind kein Grund für Pausen, nur Immobilitätsschmerzen. Meisterschaften werden unter den Spitzenteams im Profihandball in der Regel nach Lazarettstatus vergeben: Die Mannschaft gewinnt am Ende, die von gravierenden Verletzungsfällen am meisten verschont blieb. Schicksalsgleich als "Seuchen" oder "Miseren" verharmloste Verletzungsserien können von reichen Vereinen besser "kompensiert" werden als von armen. Nicht das gesundheitliche Wohl der Spieler/ -innen steht im Vordergrund, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der zu Wirtschaftsbetrieben mutierten Klubs, deren Prämissen die halb- oder vollprofessionellen Spieler/-innen vollkommen adaptiert haben. An das konkurrenzschürende Drohprinzip der Ersatzbank (starker, frischer Spieler rein - schwacher, verletzter raus) wurden sie schon früh gewöhnt, so daß sich die Spieler/-innen scheinbar wie von selbst und hochmotiviert den physischen und psychischen Aushaltungsprozessen überantworten. Durch das emotionalisierende Massentheater wird die Körperentfremdung erst vollständig: "Medienpartnerschaften" zwischen Bundesligavereinen und Radio- und TV-Anstalten sorgen dafür, daß die Öffentlichkeit (und der sich darin spiegelnde Sportler) ständig durch eine rosarote Brille auf die als "normal" wahrgenommenen "Ausfälle", "Rückschläge" oder "Pechvögel" sieht. Wer besondere Leidensfähigkeit bewiesen hat, wird zum Helden stilisiert.

Viele Teamärzte, die den leistungssportlichen Hobelbetrieb im Handball (und anderen Sportarten) mittragen, sind später auch diejenigen, die die Späne in den Rehakliniken zusammenkehren und das Chirurgenmesser schwingen, wenn die beschädigten Extremitäten der Spieler/-innen repariert oder Teile ersetzt werden müssen. So mancher Akteur, der in jungen Jahren zur Begeisterung der Zuschauer, Funktionäre und Eltern sein Letztes gab, steht später - nunmehr mit künstlichen Knieprothesen - als Trainer, Betreuer oder Funktionär am Spielfeldrand, um den "erfolgshungrigen Nachwuchs" zu mehr Leistung anzuspornen. Sie tun dies nach alter Väter Sitte und lassen sich dabei von modernen sportwissenschaftlichen Erkenntnissen inspirieren, wie das Spielermaterial auf "gesunde" Art noch rationeller zu Erfolg und Medaillen getrieben werden kann.

In Deutschland zählt der Handballsport statistisch gesehen zu den verletzungsträchtigsten Sportarten. Nach Angaben von Dr. Hans-Gerd Pieper vom Zentrum für Schulterchirurgie, Arthroskopische Chirurgie und Sporttraumatologie an der Roland-Klinik in Bremen liege der Handball geschlechtsunabhängig hinter Fußball an zweiter Stelle, etwa vergleichbar mit Basketball und Volleyball. "Die Verletzungshäufigkeit im Handballsport liegt für männliche wie weibliche Spieler bei 11,2 bis 14,3 pro 1.000 Spielstunden und bei 0,6 bis 2,6 pro 1.000 Trainingsstunden. Dabei betreffen 79 % bis 93 % der Unfälle akute Verletzungen; 7 % bis 21 % sind Überlastungsschäden", so Pieper, der über reiche Erfahrungen als Teamarzt bei TuSEM Essen und HSG Nordhorn verfügt. Statistische Untersuchungen im Handball wiesen eine deutlich höhere Verletzungsrate für die unteren Extremitäten nach. "Dabei sind die Sprung- und Kniegelenke am häufigsten betroffen. Kreuzbandverletzungen treten generell in Ballsportarten bei Frauen häufiger auf, für den Handballsport besteht eine dreifach höhere Inzidenz." Zudem dokumentierten Untersuchungen bei Handballnationalspielern und -spielerinnen in 37 % chronische Kreuzschmerzen und in 32 % langfristig andauernde Schulterbeschwerden. [3]

Nach Angaben von Prof. Ansgar Thiel, Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Uni Tübingen, beklagten bis zu einem Drittel der Handballer zehn schwerere Verletzungen im Jahr (Ausfall mindestens eine Woche). Wurfarm-, Rücken-, Sprunggelenk-, Knie- und Fußtraumata gehörten zum Job. Männer seien häufiger betroffen als Frauen. Auch die Anfälligkeit für Erkältungsinfektionen und hartnäckige grippale Infekte sei statistisch belegt. [4]

Über die Erklärungsversuche, warum in den letzten Jahren die Verletzungshäufigkeit im Handballsport kontinuierlich angestiegen ist, läßt sich trefflich streiten, ebenso über die in sich widersprüchliche Möglichkeit, unter der körperdestruktiven Axiomatik des Hochleistungsgewerbes Verletzungsprophylaxe betreiben zu können. Hier werden meist idealisierte Bewegungsstereotypien vorausgesetzt und geradezu praxisferne Annahmen und Postulate auch von Sportärzten transportiert, daß man den Eindruck haben kann, Marketingexperten und Wettkampfmediziner betreiben das gleiche Geschäft.

Natürlich ist Isabell Klein eine baldige und vollständige Genesung zu wünschen. Zu den bitteren Wahrheiten ihres semiprofessionellen Gewerbes gehört aber auch, daß viele ihrer Kolleginnen ebenfalls dachten, es sei "nur das Knie" und bald werde man wieder achtmal die Woche zum Training gehen und im Kampf um die Meisterschaft "Vollgas" geben können. Ende vergangenen Jahres machte die "Hiobsbotschaft" die Runde, daß Kathleen Haase (FHC Frankfurt/Oder) wegen erneuter Knieprobleme ihre Laufbahn beenden muß. "Nach einem früheren Kreuzbandriss ist jetzt auch die damals eingesetzte Plastik in Kathleens Knie eingerissen", erläuterte ihr Trainer Dietmar Schmidt. "Unter diesen Umständen kann sie nicht mehr leistungsorientiert Handball spielen." [5] Das gefeierte Handballtalent war erst 19 Jahre alt.

Nur fünf Jahre älter war Anne Ulbricht (HC Leipzig), als ihr "Fall" publizistische Reife erlangte und durch die große Presse ging. "Oma mit 24" titelte Spiegel-Online im Mai 2010, einen Bericht des Handball-Magazins (HM) übernehmend [6]. Sieben Operationen mußte sich die mehrfache Deutsche Meisterin am linken Knie unterziehen, bereits mit 16 Jahren kam sie erstmals unter das Messer. Trotz mehrfacher "Horror-Diagnose" (Kreuzbandriß, Bänder- und Meniskusverletzungen, schwerer Bandscheibenschaden) und quälenden Rehamaßnahmen kämpfte sie sich immer wieder aufs Parkett zurück. Durch tägliche Extra-Einheiten und physiotherapeutische Behandlung versuche sie, einer erneuten Verletzung vorzubeugen, schrieb das HM. In der langen Leidenszeit habe sie gelernt, auf ihren Körper zu achten. Im Widerspruch dazu hieß es im selben HM-Bericht, daß sie sich auf dem Feld wieder voll reinhänge.

Folgerichtig erlitt die Rückraumspielerin des HC Leipzig im September 2011 einen erneuten Kreuzbandriß. Gegner war der Buxtehuder SV mit Isabell Klein. Nun beginne für Anne Ulbricht ein altbekannter Leidensweg von vorn, hieß es in der abgebrühten Handballpresse. Neben Ärzten solle ihr auch ein Mentaltrainer beim Comeback helfen.

Na also, geht doch! Und wen Berichte über "die tägliche Quälerei in der Reha" beunruhigen oder nachdenklich stimmen, der sollte Isabell Kleins Tagebuch lesen und ihren sonnigen Rat beherzigen: "Bleibt positiv!"

Anmerkungen:

[1] Harting: Für Gold ein Jahr ohne Bier. Von Ulrike Krieger. 07.07.2012.
http://www.bz-berlin.de/sport/harting-fuer-gold-ein-jahr-ohne-bier-article1497403.html

[2] http://www.handball-queen.de. Isabell Kleins Tagebuch wird auf mehreren Internetportalen des Handballgewerbes veröffentlicht.

[3] Presse-News der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS). Verletzungen beim Handball. Von Dr. Hans-Gerd Pieper anläßlich der Männer-Handball-WM 2011 in Schweden.
http://www.gots.org/deutsch/News/GOTS_News_Presseinformationen_Detail.php5?det=presse_1101

[4] Schmerzen sind für Top-Athleten Alltag. Von Hans-Peter Seubert. 01.12.2011.
http://www.echo-online.de/region/darmstadt/studienortdarmstadt/technischeuniversitaet/Schmerzen-sind-fuer-Top-Athleten-Alltag;art477,2398542

[5] Kathleen Haase muss Karriere beenden. Von Jürgen Leibner. 16.11.2011
http://www.moz.de/de/details/dg/0/1/996566/

[6] Oma mit 24. Von Ullrich Kroemer. 10.05.2010.
http://www.spiegel.de/sport/sonst/handballerin-anne-ulbricht-oma-mit-24-a-693164.html

24. Juli 2012