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KOMMENTAR/201: Sport und Meinung - ein schöner Traum? (SB)


Athleten als "mündige Staatsbürger" - wer vor der eigenen Türe kehrt, wird dies bitter büßen



"Unsere Athleten sind mündige Staatsbürger", behauptete Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), kurz vor den Olympischen und Paralympischen Winterspielen in Sotschi. "Wenn sie ihre Meinung äußern wollen, können und sollen sie das selbstverständlich tun. Ich werde aber niemanden drängen, sich zu äußern. Jeder hat auch das Recht zu schweigen." [1]

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, sagt der Volksmund, und das ist im Falle des ebenso staatstragenden wie leistungsfokussierten Tunnelblicker-Sports bitterer Ernst. Denn wer sich über die Olympische Charta ("Jede Demonstration oder politische, religiöse oder rassische Propaganda ist an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen olympischen Bereichen untersagt.") hinwegsetzt, muß mit schweren, gar existenzgefährdenden Sanktionen rechnen. Wer dennoch seine politische Meinung als mündiger Staatsbürger kundtun will, muß dies außerhalb der Sportstätten tun. Dafür wurden zum Teil sogar Plätze und Gelegenheiten geschaffen - alles wohlreguliert und überwacht, im herrschaftlichen Sinne also "frei".

Doch Vorsicht, auch in den staatsbürgerlichen Meinungsfreiheitszonen lauern Fallstricke. Bundeswehrsportlerinnen und -sportlern, die die Auslandseinsätze der Streitkräfte offen in Frage stellen, droht Mobbing oder Rausschmiß aus der Förderkompanie. Ungeschminkte Kritik an Bundespräsident Joachim Gauck, der in der Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz im Namen der Humanität die Militarisierung der Außenpolitik predigte, käme auch nicht gut. Gauck ist zwar nicht vor Ort, doch die Politprominenz aus Deutschland, u.a. der frühere Verteidigungs- und heutige Innenminister Thomas de Maizière (CDU), wäre nicht gerade erfreut, wenn die Vorzeigeathleten in Sotschi kein positives Bekenntnis zu Deutschland und zur Bundeswehr ablegen würden. Abfällige Meinungsäußerungen über Neu-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die die Truppe wie ein familienfreundliches Unternehmen führen und zum attraktivsten Arbeitgeber Deutschlands umbauen will, könnten für die Militärsportler ebenfalls zum Bumerang werden. Wer in Interviews nicht seinen Dank der Bundeswehrsportförderung abstattet, sondern die "Nebenwirkungen" der Kriegseinsätze anprangert, könnte selbst zum förderpolitischen "Kollateralschaden" werden. Von den 153 Athletinnen und Athleten, die unter dem nationalpathetischen Motto "Wir für Deutschland" nach Sotschi entsandt wurden, stehen immerhin mehr als die Hälfte im Sold des Militärs. Die Streitkräftebasis (Wir.Dienen.Deutschland.) betreibt auf ihrer Website eigene Medaillenzählungen, hebt stolz die Leistungen ihrer Werbe- und Imageträger mit Dienstrang hervor und läßt sie über Kameradschaft, Verantwortung und Einsatzbereitschaft in Sport und Militärdienst parlieren.

Auch die 29 Athletinnen und Athleten, die von der Bundes- oder Landespolizei bezahlt werden, sollten mit nonkonformen Meinungen lieber hinterm Berg halten. Kritik an den beiden Polizeigewerkschaften (GdP und PolGew), deren Funktionäre sich immer wieder mit markigen Sprüchen in der Öffentlichkeit hervortun, sind ein ebensolches No-Go wie Solidaritätsadressen an die "Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten". Der alternative Berufsverband hatte beim Konflikt um das Kulturzentrum "Rote Flora" das Treiben von Hamburger Kollegen, die sich "wie eine Ordnungsmacht des finsteren Mittelalters" aufgeführt hätten (Pressemitteilung 05.01.2014), scharf verurteilt.

Auch über das geplante Antidopinggesetz der Regierungskoalition, das mit erheblichen Grundrechtseinschränkungen verbunden ist und elementare Rechte zur körperlichen Selbstbestimmtheit aushebelt, sollten die Athleten lieber schweigen. Wer den Antidopingkampf in einer Weise in Frage stellt, die nicht in die autoritäre Forderung mündet, Kontrollen und Überwachung auszuweiten, Strafen zu erhöhen oder Gesetze zu verschärfen, gilt als "potentieller Doper", der den Betrug rechtfertigen oder "die gesellschaftliche Anerkennung des gesamten Sports als positives Element der Demokratie" (Ex-Tischtennis-Präsident Hans-Wilhelm Gäb) gefährden will. Vermehrte Hausbesuche durch die intelligente "Pinkelpolizei", medial begleitet von ARD-Dopingjägern, die mit Bienenfleiß Lücken im Melde-, Kontroll- und Sanktionssystem aufzuspüren versuchen, sind nicht ausgeschlossen.

Und wer sich dennoch traut, seinen Mund aufzumachen, sollte aufpassen, daß er oder sie sich nämlichen nicht mit Sponsoren- oder Verbandskritik verbrennt. Schneller als gedacht könnte der Sponsorenvertrag futsch und der eigene Marktwert im Eimer sein. Das gilt übrigens auch für paralympische Sportlerinnen und Sportler. Auf keinen Fall Kritik am IOC-Hauptsponsor ATOS üben. Der IT-Dienstleistungskonzern zeichnete mit dafür verantwortlich, daß Zehntausenden von behinderten oder schwerkranken Menschen zur Kostendämpfung im britischen Gesundheitssystem Sozialleistungen, Renten und Beihilfen entzogen oder gekürzt worden waren. Britische Behindertenverbände liefen während der Sommerspiele 2012 Sturm gegen die Fit-to-work-Tests von "ATOS Healthcare", doch in der deutschsprachigen Berichterstattung wurde kaum Notiz davon genommen. Warum auch, hatte doch der damalige IOC-Präsident Jacques Rogge das IT-Unternehmen als "unbesungenen Held der Olympischen Spiele" gelobt, ohne Rücksicht auch auf viele kritische Stimmen aus den Kreisen Betroffener.

Der Athlet als mündiger Staatsbürger bleibt solange ein Trugbild, wie die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Instrumentalisierung und Fremdbestimmung nicht radikal hinterfragt werden und das Politikverbot im Sport fällt. Wenn dann aufgrund der offen diskutierten politischen Differenzen und Widerspruchslagen der sportliche Wettkampf in den Hintergrund tritt, weil es wichtigere Dinge auszuhandeln gilt, als sich gegenseitig niederzukonkurrieren und aus den Leistungsunterschieden soziale, nationale oder ökonomische Distinktionsgewinne zu erzielen, dann ist das ausdrücklich zu begrüßen. Glaubwürdigkeit gewinnt der Sport erst dann zurück, wenn er wieder zur reinen Nebensache wird, ohne sich dabei der neoliberalen Forderung nach ständiger Selbstoptimierung im Privaten auszuliefern. Ein utopischer Gedanke, versponnen gar. Doch wie würde man demgegenüber das Blendwerk der olympischen Unterhaltungsindustrie bezeichnen, die mit gigantischem Aufwand den Phoenix steigen läßt, als gäbe es die Asche nicht?

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/sport/olympia/article124268519/Die-deutschen-Sportler-sollen-ihre-Meinung-sagen.html. 27.01.2014.

13. Februar 2014