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KOMMENTAR/226: Leistung, Anstand und Verfügbarkeit ... (SB)


Sport und Hartz IV: Mittel der Disziplinierung, Schikane und Demütigung


Die Möglichkeiten, auch mit Hilfe des Sports die Disziplinierung der abhängig beschäftigten oder in Armutsfallen steckenden Bevölkerung voranzutreiben, sind noch lange nicht ausgeschöpft. Wenn schon die privilegierten und zu gesellschaftlichen "Vorbildern" erklärten Leistungseliten des Spitzensports einem menschlich fragwürdigen Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionssystem unterworfen werden können, ohne daß sich auf breiter Front Widerstand dagegen regt, mit welch menschenverachtender Selbstverständlichkeit wird dann erst mit den Mitgliedern der Gesellschaft umgesprungen, die zu den ärmsten und schwächsten zählen und im Hartz IV-Regime gelandet sind?

Wohl nicht zufällig weist das Anti-Doping-Regime, das nach offizieller Sprachregelung dem Schutz des "sauberen Sports" dient, zahlreiche Parallelen mit dem Hartz IV-Regime auf, das mit schärfsten Kontrollmaßnahmen und härtesten Sanktionen gegen Fürsorgeberechtigte vorgeht, die im Verdacht stehen, staatliche Leistungen mißbräuchlich zu verwenden. Ebenso wie vom Staat ausgehaltene Topathleten einem rigiden Überwachungs- und Meldesystem unterworfen sind, das sie je nach "Risikosphäre" dazu zwingt, lückenlos ihre Aufenthaltsorte bekanntzugeben, sind auch Bezieher des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) gezwungen, regelmäßig ihren Meldepflichten bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) nachzukommen. Wer Pflichten verletzt (z.B. mangelnde Eigenbemühungen bei schriftlichen Bewerbungen, Telefonanrufen bei Unternehmen oder persönlichen Besuchen), gegen den kann eine Sperrfrist, verbunden mit der Minderung des Arbeitslosengeldes, ausgesprochen werden. Als "Meldeversäumnis" gilt, wenn jemand etwas gar nicht oder nicht fristgerecht gemeldet hat, z.B. ein Einkommen, einen Umzug/Wohnungswechsel oder eine Krankschreibung, wie auch das Nichterscheinen zu einem Termin, einer Untersuchung oder einer "Maßnahme" - selbst wenn diese von den Betroffenen als vollkommen sinnlos, schikanös oder unzumutbar abgelehnt wird. Auch Athleten müssen Zumutungen, etwa Hausbesuche in den frühen Morgenstunden, die die ganze Familie aufwecken, oder mehrfache Abgaben von Körpersekreten binnen kürzester Zeit, über sich ergehen lassen.

Während Athleten bei Urinprobenentnahmen zum körperlichen "Striptease" gezwungen werden, müssen sich Hartz IV-Bezieher vor den Augen der Kontrolleure ebenfalls "nackt" ausziehen - sämtliche privaten Vermögens- und Lebensverhältnisse sind Behördenvertretern offenzulegen. Im Zweifel können auch häusliche Kontrollbesuche erfolgen. Bis 2009 konnten Hartz IV-Empfänger von der Bundesagentur für Arbeit noch von Sozialdetektiven überwacht werden, was dann aber aufgrund einer BA-Weisung nicht mehr möglich gewesen sein soll (spätere Medienberichte künden vom Gegenteil). Für die Topathleten indes gilt seit dem Inkrafttreten des WADA-Codes 2009 die nahezu vollständige Preisgabe ihrer Privat- und Intimsphäre. Inzwischen wird sogar daran geforscht, Athleten wie Sexualstraftäter oder rückfallgefährdete Ex-Kriminelle mit elektronischen Bewegungsmeldern auszustatten. "Dopingexperten" aus Forschung und Wissenschaft, die seit Jahr und Tag ihre kriminalbiologischen Weltbilder in die Medien blasen, als sei der Mensch ein Reagenz, das man nur in das richtige Mischungsverhältnis aus Anstand und Repression bringen muß, damit es sich wie berechnet verhält, plädieren im Sport ebenfalls für den Einsatz von Detektiven oder verdeckten Ermittlern.

Ebenso wie Athleten stehen auch Erwerbslose unter Verdacht, sich durch Ärzte falsche Atteste oder Krankschreibungen erschlichen zu haben. Das Pendant zu den "Sündern" oder "Schwindlern" der Sportunterhaltung sind in der boulevardisierenden ALG-Berichterstattung die "Sozialschmarotzer" oder "Hartz IV-Betrüger". Sowohl die "Leistungsbringer" als auch die "Leistungsbezieher" stehen unter dem generalisierten Verdacht, sich "aus Faulheit" unerlaubter Mittel und Methoden zu bedienen.

Ähnlich wie im Antidopingkampf, wo die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) ständig neue Aufgabenbereiche und datenschutzrechtlich umstrittene Befugnisse bekommt, werden auch Jobcentern und Arbeitsagenturen stetig neue Mittel an die Hand gegeben, Hartz IV-Empfängern nachzusteigen. Während nach dem geplanten Anti-Doping-Gesetz Athleten mit Gefängnisstrafen bedroht werden, die auch nur ein Milligramm eines im Sport verbotenen, ansonsten aber erlaubten Medikaments besitzen, wandern Hartz IV-Bezieher noch nicht in den Karzer, weil sie sich unter dem Druck ihrer Mangelalimentierung einen unerlaubten Vorteil verschafft haben. Sie werden "lediglich" mit existenzbedrohlichen Leistungseinschränkungen sanktioniert. Suizide von Betroffenen gab es sowohl im Antidoping- als auch im Hartz IV-Regime schon (aufgrund befürchteter Nachahmer-Effekte wird in den Medien nur äußerst zurückhaltend über Suizide berichtet). [1]

Im vergangenen Jahr wurde publik, daß 2013 gegen rund eine Million Menschen, die der Hartz IV-Regelung unterstehen, Sanktionen verhängt wurden. Mit 72 Prozent seien Meldeversäumnisse der häufigste Grund dafür gewesen, schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort (18/1404) auf eine Kleine Anfrage (18/1154) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Um die Leistungsberechtigten vor Meldeversäumnissen zu bewahren, verschicken die Jobcenter monatlich fast 500.000 SMS-Terminerinnerungen. [2] Ähnlich verfährt auch die NADA, die jährlich Tausende von Erinnerungsmails an die Athleten versendet, damit sie daran denken, die sogenannten Whereabouts (Angaben über den Aufenthaltsort) fristgerecht und vollständig abzugeben. Wer gegen die Kontrollauflagen verstößt, wird mit empfindlichen Strafen zur Rechenschaft gezogen.

"Mit den Sanktionen sollen Hartz IV-Beziehende diszipliniert werden, gefügig gemacht und gedemütigt werden", erklärte die Parteivorsitzende Der Linken Katja Kipping letztes Jahr. [3] Während die Linkspartei die repressive Dopingmoral der herrschenden Klasse teilt und sogar darauf drängt, daß Selbstdoping strafbar wird und die grundrechtlich umstrittenen Kontrollen ausgeweitet werden, fordert sie bezüglich des Hartz IV-Regimes die sofortige Abschaffung aller Sanktionen bei den bestehenden Grundsicherungen. Doch auch hier spricht Die Linke mit gespaltener Zunge, denn Kipping stellte, um "Missverständnisse auszuschließen", in ihrer Bundestagsrede folgendes klar: "Wenn wir das schikanöse Hartz IV-System kritisieren, dann meinen wir damit ausdrücklich nicht die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundesagentur und den Jobcentern, die unter schweren Umständen arbeiten und nach besten Kräften versuchen, die Betroffenen zu unterstützen. Ihnen gilt unser Dank und Respekt." [4]

Ähnliche Dankesworte stattet Die Linke auch den Agenturen und Instanzen der Doping-Inquisition ab, obwohl längst klar ist, daß Spitzenathleten in der Regel weder aus "finsterer Gesinnung" noch aus "Faulheit" oder "Doofheit" zu Dopingmitteln greifen, sondern aus dem einfachen Grund, weil die Konkurrenzverhältnisse im medaillenzählenden und von wirtschaftlichen Interessen beherrschten Hochleistungssport so zugespitzt sind, daß der Zweite bereits der erste Verlierer ist.

Daß sich Die Linke hinsichtlich der Dopingproblematik auf einem solch kapitalen Irrweg befindet, hängt mit ihrer unzureichenden Kritikfähigkeit gegenüber einem Sport zusammen, der sich über viele Generationen hinweg als Diziplinierungsmittel der Arbeits- und Leistungsgesellschaft so gut bewährt hat, daß er nun auch für das wachsende Heer von Langzeitarbeitslosen zum ohnmachtsbefestigenden Vehikel der Selbstaktivierung ausgebaut werden soll. So gibt es immer wieder Vorstöße seitens der Politik und sich ihr andienender Wirtschaftsforschung, Langzeitarbeitslose in das Joch beschäftigungstherapeutischer Leistungsbeweise einzuspannen. Durch mustergültigen Workout, sozialdynamisiert über die gegenseitigen Zahlen- und Zeitenvergleiche des Sports, können sich dann die Arbeitslosen im Schweiße ihres Angesichts "ein bißchen Selbstwertgefühl" dazuverdienen. Als Ersatz für Arbeit und Brot respektive als Lohn für sportliche Fitneß werden den Arbeitslosen verbesserte "Arbeitsmarktchancen" oder "Verdienstmöglichkeiten" in Aussicht gestellt.

So wurde kürzlich in Bonn eine Analyse des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) veröffentlicht, die nahelegt, daß die Förderung sportlicher Betätigung als Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Wiederbeschäftigungschancen gerade von Langzeitarbeitslosen deutlich steigern könnte. Als positive Effekte sportlicher Aktivitäten wurde hervorgehoben, daß die Stellensuchenden "mit höherer Wahrscheinlichkeit zu intensiveren Suchanstrengungen und selbstbewussterem Auftreten in Bewerbungsverfahren angeregt" würden. "Sport sollte dabei allerdings nicht den Zeiteinsatz für die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt oder eine Qualifizierung reduzieren, sondern eher 'unproduktive' Zeiten etwa vor dem Fernseher verringern", hieß es in einer Pressemitteilung des IZA. "Die gezielte Förderung sportlicher Betätigung könnte als arbeitsmarktpolitische Maßnahme zur Aktivierung von Langzeitarbeitslosen, beispielsweise in Form von Laufgruppen oder Mannschaftsporttraining, durchaus sinnvoll sein", erklärte Prof. Dr. Michael Lechner, Ökonom von der Universität St. Gallen, der aus seiner Sicht die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Sport untersucht hat. [5]

Mit anderen Worten: Die volkswirtschaftlich Unproduktiven sollen sich nicht nur als Reservearmee der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft in den kontrollierten Wartestand begeben, sondern sich neben ihren in der Regel vergeblichen Bemühungen um die Reintegration in den Arbeitsmarkt auch noch sportlich fithalten. Hier erfüllt der Sport seine herrschaftsstabilisierende Funktion: Der disziplinierende Impetus, den die Leistungsberechtigten im Hartz IV-Regime noch als Demütigung, Gefügigmachung oder Schikane erleben, wird im Sport zum positiven Movens umdeklariert, so als ob die Stärkung individueller "Soft Skills" (Teamwork, Selbstdisziplin, Ausdauer, Streßbewältigung, Selbstvertrauen etc.) in einer Gesellschaft, die Vollbeschäftigung längst durch Workfare ersetzt hat, zu etwas anderem taugten, als den Konkurrenzkampf um die nicht vorhandenen Arbeitsplätze auf sportliche Weise auch unter ALG II-Beziehern anzuheizen. Statt den sozialen Kampf gegen den zunehmend autoritärer waltenden Maßnahmestaat aufzunehmen, werden die Kräfte der Arbeitslosen in den identitären und emotionalen Spiegelwelten des Sports regelrecht aufgesaugt und politisch neutralisiert. Das könnte den Herrschaftseliten schon gefallen. Bedarf es da noch der Erwähnung, daß die Bundesagentur für Arbeit auf diesem Gebiet seit einigen Jahren mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) kooperiert?

Fußnoten:

[1] "Englischer Doping-Sünder erhängt aufgefunden" lautete 2010 die Schlagzeile, nachdem sich der Rugbyspieler Terry Newton, gegen den ein zweijähriges Berufsverbot verhängt worden war, selbst getötet hatte. Als erstem Sportler war dem zweifachen Familienvater durch ein neuentwickeltes Verfahren der Gebrauch des Wachstumshormons HGH nachgewiesen worden, was als "Meilenstein im Anti-Doping-Kampf" und "starke Botschaft an Athleten" gefeiert wurde.

Einer Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zufolge liegt die Selbsttötungsrate bei Arbeitslosen um das Zwanzigfache höher als bei der erwerbstätigen Bevölkerung.

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/parl/fakten/pafb4417.html. 30.05.2014.

[3] http://www.die-linke.de/nc/presse/presseerklaerungen/detail/browse/6/zurueck/presseerklaerungen/artikel/sanktionssystem-bei-hartz-iv-sofort-abschaffen/. 14.10.2014.

[4] http://www.linksfraktion.de/reden/sanktionsfreiheit-hartz-4-wichtiger-schritt-richtung-angstfreie-gesellschaft/. 06.06.2014.

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/fakten/sfme0250.html. 20.02.2015
Die englischsprachige Studie ist über IZA World of Labor abrufbar:
http://wol.iza.org/articles/sports-exercise-and-labor-market-outcomes

16. März 2015


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