"Diese anti-russische Haltung sitzt im Grunde wie ein Geschwür fest in vielen Köpfen. Und wer sich beispielsweise im Sport für russische Athletinnen und Athleten offen positioniert, hat Angst vor medialen Repressalien und Verlust von Sponsoren oder Arbeit." [1]
(Marco Henrichs, ehemaliger Trainer im russischen Schwimmsport und Athletiktrainer, ehemaliger Triathlet und Extremschwimmer, Mitglied im Deutsch-Russischen Forum e.V. sowie Petent von "Kein Ausschluss russischer & belarussischer Athleten von den Olympischen Spielen 2024")
Worüber regen sich die NATO-Versteher im westlichen Elitesport eigentlich auf? Sind die halbherzigen Bemühungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), (bela)russischen Athletinnen und Athleten eine Rückkehr in den internationalen Sport zu ermöglichen, nicht eine perfekte Steilvorlage für die hiesigen Herrschaften und ihre Mediensprachrohre, Russland und Belarus nach Kräften zu dämonisieren?
36 Länder - darunter die 27 EU-Mitgliedsstaaten und nur zwei aus Asien - haben seit Beginn des Ukrainekrieges Sanktionen gegen Russland beschlossen. Weder Indien und China noch Länder aus Afrika oder Lateinamerika haben sich an den Sanktionen beteiligt. Anfang dieses Jahres haben 170 Nationale Olympische Komitees die Grundsatzentscheidung des IOC befürwortet, dass russischen und belarussischen Aktiven eine Rückkehr in den internationalen Sport zu ermöglichen sei, nur 36 votierten dagegen. 36 ist auch die Zahl der Sportminister vornehmlich aus den westlichen OECD-Staaten, die dem IOC-Vorstoß kritisch bis ablehnend gegenüberstehen.
Unübersehbar ist, dass die große Mehrzahl der Staaten und Sportfachverbände kein Interesse hat, sich an der verlogenen Sanktionspolitik des Westens zu beteiligen, zumal sie zum Teil katastrophale Folgen insbesondere für die Länder des globalen Südens zeitigt. Die dichotome Wiederkehr des Kalten Krieges im internationalen Sport wird nur von jenen Nationen mit Vehemenz betrieben, die der Auffassung sind, Russland habe einen "unprovozierten" Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen, während sie die Opfer der ukrainischen Aggression seit 2014 unter der russischsprachigen Zivilbevölkerung im Donbass, die sich mehrheitlich dem us-geführten, von rechtsnationalen Banden unterstützten Maidan-Putsch widersetzten, unter den Teppich kehren.
Ende März hatte dann das IOC den Weg für die Rückkehr russischer und belarussischer Athleten in den internationalen Sport als "Neutrale" geebnet, sofern sie die Invasion in der Ukraine nicht unterstützen oder nicht beim russischen oder belarussischen Militär oder bei nationalen Sicherheitsbehörden unter Vertrag stehen. Diese Empfehlungen gelten nicht für Mannschaftswettbewerbe, die weiterhin ausgeschlossen bleiben. Auch dürfen bei Sportereignissen keine (bela-)russischen Flaggen, Hymnen oder andere Formen der Identifikation zu Gunsten dieser Länder präsentiert werden. Während die russische Seite die Entscheidung als "inhuman" und "offen diskriminierend" verurteilt, weil die Athleten jetzt nicht nur aufgrund der Nationalität, sondern auch wegen der Mitgliedschaft in einem Verein, der Sportart (Team) oder sogar nur aufgrund ihrer politischen Einstellungen diskriminiert werden, hat die ukrainische Regierung im April ein Dekret erlassen, das den Athletinnen und Athleten des Landes die Teilnahme an Wettkämpfen verbietet, bei denen auch Russen und Belarussen am Start sind. Das ukrainische Regime, das offen mit faschistischen Kräften paktiert, alle oppositionellen Parteien und Medien im Land kaltgestellt hat, Kriegsdienstverweigerung als Straftat verfolgt und Männer von der Straße weg zwangsrekrutiert, um sie im Stellvertreterkrieg zwischen der USA/NATO und Russland zu verheizen, bleibt damit seiner harten Linie treu. Zwar gibt es vereinzelte Stimmen von ukrainischen (Ex-)Athleten, die einen Boykott auch mit Blick auf die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen nächstes Jahr in Paris ablehnen, weil man diese Plattform "nicht den russischen und weißrussischen Narrativen überlassen" dürfe, wie der ukrainische Skeleton-Rennfahrer Vladyslav Heraskevych hervorhob [2], doch wie fast überall in der westlichen Medienwelt wird suggeriert, dass nur der russische Präsident Putin den Sport kriegspropagandistisch instrumentalisieren wolle. Tatsächlich sind die Sanktions- und Boykottbestrebungen der westlichen Unterstützerländer Teil der zivilen Kriegsführung gegen Russland, mithin als sportpolitische Waffe im Propagandakrieg zu bewerten.
Aufgrund der IOC-Empfehlung haben sich Sportarten wie Taekwondo, Judo, Bogenschießen, Fechten, Skateboarding, Tischtennis, Radsport, Golf, Moderner Fünfkampf, Triathlon, Schießen und Ringen inzwischen dafür entschieden, Athleten aus den verfemten Ländern unter den genannten Bedingungen die Wiedereingliederung zu gestatten, während die westlichen Wertekrieger, die am liebsten alle kulturellen Brücken nach Russland abreißen und das größte Land der Welt zerschlagen wollen, Putin keinen Zentimeter Propagandaboden durch den staatstragenden Sport gönnen wollen. Da viele russische Athleten bei staatlichen Militärsportvereinen angestellt sind oder sich mit öffentlichen Äußerungen hinter die Politik ihres Präsidenten gestellt haben, findet nun eine regelrechte Hexenjagd auf russische Athleten, Trainer und Offizielle statt, um sie als "putinnah" oder "Unterstützer von Terroristen und Mördern" zu desavouieren.
Schätzungen zufolge sollen etwa 80 Prozent der russischen Athletinnen und Athleten in armeesportlichen Institutionen beschäftigt sein. Vielen russischen SportlerInnen, die z.B. beim zentralen und legendären Armeesportclub ZSKA Moskau angestellt sind, wird vorgeworfen, in Verbindung zum Militär zu stehen, dort Offiziere oder Anwärter auf eine Offizierslaufbahn zu sein. Trotzdem seien sie - wie etwa bei der kürzlichen Judo-Weltmeisterschaft geschehen - zugelassen worden. [3] Vermeintlich nüchtern und sachlich weist etwa das ZDF darauf hin, dass nicht alle Sportler in der Rosgwardija, der russischen Nationalgarde, Dienst an der Waffe leisten müssten: "Wie in Deutschland die Sportsoldaten der Bundeswehr müssen sie zwar eine Grundausbildung absolvieren, können sich aber ansonsten auf den Sport konzentrieren." Um dann nachzuschieben: "Im Gegensatz zu Deutschland spielen sie in Russland jedoch propagandistisch eine wichtige Rolle." [4]
Tatsächlich haben auch in Deutschland schon etliche Minister, Funktionäre und Militärs auf die wichtige gesellschaftliche Rolle von Sportsoldaten hingewiesen, nur nennen sie es nicht "Propaganda", sondern "Werbung" für den "Arbeitgeber Bundeswehr". Bekanntlich machen Propaganda immer nur die anderen - kein Politiker, Journalist oder Wissenschaftler würde sich selbst der Propaganda bezichtigen.
Forderungen von PolitikerInnen nach Gesinnungstests, einseitigen Antikriegserklärungen oder speziellen Datenbanken für inkriminierte AthletInnen und TrainerInnen wurden und werden bereits erhoben. Sportverbände, die (bela-)russische Athleten als "Neutrale" wieder zulassen wollen, haben längst angefangen, private Sicherheitsfirmen oder Anwälte zu beauftragen, um "Hintergrund-Checks" von Athleten durchzuführen. Diese Agenten durchsuchen nun Sanktionslisten oder fahnden in den Medienarchiven und sozialen Netzwerken nach "Pro-Kriegspropaganda" von russischen und belarussischen AthletInnen, wobei die fast beliebige Verwendung und Auslegung des Propagandabegriffs der Willkür Tür und Tor öffnet. Da die Richtlinien des IOC "teils scheunentorgroße Unklarheiten lassen", wie die SZ monierte, haben jetzt die regierungstreuen Leitmedien die Chance, jeden Athleten, der mit "Putins Krieg" oder dem Militär in Verbindung gebracht werden kann, als "russische Sau" durchs Dorf zu treiben.
Würde man in "Sportdeutschland" alle von Militär, Polizei oder Zoll geförderten KadersportlerInnen dafür verantwortlich machen, dass sie von einem Staat alimentiert werden, dessen Ampel-Regierung eine waffenstarrende "Zeitenwende"-Politik eingeleitet hat, die nach außen einen tödlichen NATO- und Wirtschaftskrieg gegen Russland forciert und nach innen die Militarisierung bei gleichzeitiger Verarmung der Gesellschaft betreibt, dann könnte vielleicht sogar "Athleten Deutschland e.V." auffallen, dass sich der Wind unter verändertem Blickwinkel schnell auch gegen die deutschen Sportskanonen drehen könnte. Der vom Bundesinnenministerium gesponserte Lobbyverein, der mit SPD-Sportministerin Nancy Faeser ("Es gibt keinerlei Grund für eine Rückkehr Russlands in den Weltsport.") voll auf einer Linie liegt, betreibt ein emotionales Moralbombing gegen den (bela-)russischen Sport, das zwar in der dumpfen Sportunterhaltung und bei lodengrünen Kriegstreibern antirussische Affekte zu wecken vermag, doch kaum repräsentativ für alle deutschen KadersportlerInnen sein dürfte, geschweige denn für den Sport insgesamt.
Darüber kann auch das Rechtsgutachten nicht hinwegtäuschen, das der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) um seinen Präsidenten Thomas Weikert (SPD) bei Prof. Patricia Wiater, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Mitglied des erst im vergangenen Jahr geschaffenen Menschenrechtsbeirats des DOSB, in Auftrag gab. Jedem politisch denkenden Menschen ist klar, dass der vom BMI über die "goldenen Zügel der Finanzen" gelenkte DOSB mit einem solchen Gutachten, das den Ausschluss russischer Athletinnen und Athleten nicht als Verstoß gegen internationale Diskriminierungsverbote klassifiziert, lediglich sein opportunistisches Lavieren zwischen den sportpolitischen Fronten legitimieren wollte. Noch im März hatte sich der DOSB in einer Erklärung für den Ausschluss russischer und belarussischer Athleten und Funktionäre von internationalen Wettkämpfen ausgesprochen, während das IOC auf die Stellungnahmen von zwei UN-Sonderberichterstatterinnen rekurrierte, die u.a. erhebliche Bedenken geäußert hatten, wenn russische und belarussische Sportler, Kampfrichter und Funktionäre lediglich wegen ihrer Nationalität von Wettkämpfen ausgeschlossen werden. Nach Auffassung der UN käme dies einer Diskriminierung und damit einer Menschenrechtsverletzung gleich.
Der bekannte Investigativjournalist Jens Weinreich warf dem IOC um seine "Gottheit" Thomas Bach ernstlich vor, sich auf Angaben der Nichtregierungsorganisation Crisis Group gestützt zu haben, obwohl keiner der aufgelisteten weltweit 72 bewaffneten Konflikte, Kriege oder Krisen als "Vernichtungskrieg" ("war of extermination") von der UN verurteilt werde und auch nicht mit dem Ukrainekrieg vergleichbar sei. [5] Offenbar ist für regierungsnahe Journalisten, die auch mit dem Whataboutism-Vorwurf hausieren gehen, nur dann ein Krieg von Bedeutung, wenn viele Menschen dabei umkommen oder die UNO ihren Stempel darauf gibt. Das IOC hatte geltend gemacht, "dass die NOKs in den Regionen, die von diesen bewaffneten Konflikten und Kriegen betroffen sind, die Grundsätze der Olympischen Charta befolgen. Sie fordern nicht den Ausschluss von Athleten der anderen Konflikt- oder Kriegspartei und erlauben ihren Athleten, ohne Einschränkungen an internationalen Sportwettkämpfen teilzunehmen". [6]
Natürlich ist das IOC ein kapitalistisch durchorganisiertes Großunternehmen, das sich angesichts der weltweit steigenden Zahl von Konflikten und Kriegen - die USA und ihre Vasallen trommeln bereits gegen China - um den Fortbestand seines profitablen Geschäftsmodells sorgt. Die hehren Werte, die die IOC-Bonzen im Munde führen, sind zwar schön anzuhören, dienen jedoch fast immer dazu, die eigentlichen - in der Regel ökonomischen - Interessen zu verschleiern. Wie ist es sonst zu verstehen, dass Friedensapostel Thomas Bach (Ex-FDP) wegen des russischen Einmarsches in die Ukraine Wladimir Putin umgehend den Olympischen Orden entzog, während er keine Hemmungen hat, den "Völkermörder Henry Kissinger" [7], an dessen Händen das Blut von Hunderttausenden durch US-Angriffe umgebrachter Menschen allein in Indochina klebt, als Genius mit "brillantem Verstand" zu feiern? [8] Bis heute wird Kissinger als "Honour Member" im IOC geführt.
Indes, wenn die imperialistischen Staaten des Westens anfangen, Sportveranstaltungen zu sanktionieren oder zu boykottieren, sobald es ihren hegemonialen Interessen dient, während sie die eigenen Leichen im Keller still vergraben, dann kann der Weltsport in der Tat einpacken. Wer grundsätzliche Kritik am IOC mit all seinen Machenschaften und Herrschaftsfunktionen hat, der sollte diese auch äußern, aber unabhängig vom Ukrainekrieg, der geopolitisch vom "Wertewesten" instrumentalisiert wird.
Doch davon sind die Medien von "Bild" bis "Spiegel" weit entfernt, eben weil sie Teil der Verwertungsketten im warenförmigen Sport sind und von den Doppelstandards leben. Zur Camouflage der Widersprüche gehört auch, dass man diese gar nicht erst an die große Glocke hängt. So hat der ehemalige Extremsportler, Triathlet und Trainer Marco Henrichs eine Petition gestartet, in der das BMI unter Nancy Faeser aufgefordert wird, "jegliche Versuche zu unterlassen, auf das Internationale Olympische Komitee (IOC) und den Deutschen Olympischen Sportbund e.V. (DOSB) mit dem Ziel politisch einzuwirken, eine Rückkehr der russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportler zu den Olympischen Spielen zu verhindern". Diese gut begründete Petition [9], die nicht nur von einigen namhaften Spitzensportlern, sondern auch von Trainern, Funktionären und Journalisten sowie dem Sportrechtler Dr. Michael Lehner, Vorsitzender des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, unterschrieben wurde, wird in den deutschen "Qualitätsmedien" schlichtweg verschwiegen. Lediglich in den Alternativmedien wird darüber umfänglich berichtet. Das lässt tief blicken, wie weit der Gesinnungskrieg im Sport bereits fortgeschritten ist.
Fußnoten:
[1] https://www.nachdenkseiten.de/?p=94846. 10.03.2023.
[2] https://www.dw.com/de/ukrainische-sportler-sehen-boykott-internationaler-wettkaempfe-kritisch/a-65637618. 16.05.2023.
[3] https://www.deutschlandfunk.de/russland-belarus-ueberpruefung-ioc-sportverbaende-100.html. 13.05.2023.
[4] https://www.zdf.de/nachrichten/sport/russische-athleten-armee-propaganda-putin-100.html. 12.03.2023.
[5] https://www.jensweinreich.de/2023/04/07/die-ioc-propaganda-von-den-70-bewaffneten-konflikten-und-kriegen/. 07.04.2023.
[6] https://olympics.com/athlete365/voice/following-a-request-by-the-11th-olympic-summit-ioc-issues-recommendations-for-international-federations-and-international-sports-event-organisers-on-the-participation-of-athletes-with-a-russian-or-be/. 28.03.2023.
[7] https://www.telepolis.de/features/Happy-Birthday-Voelkermoerder-Henry-Kissinger-9065840.html?view=print. 26.05.2023.
[8] https://www.insidethegames.biz/index.php/articles/1137379/thomas-bach-henry-kissinger-ioc. 27.05.2023.
[9] https://www.change.org/p/kein-ausschluss-russischer-belarussischer-athleten-von-den-olympischen-spielen-2024
30. Mai 2023
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
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