"Wir brauchen eine Kritik am kapitalistischen System hinter dem
Fußball ..." [1]
(Raphael Molter, Rosa-Luxemburg-Stiftung [1])
Im selbstgerechten Sprachgebrauch des globalen Westens hat sich die Bezichtigungspauschale "Sportwashing" inzwischen fest etabliert. Weil Peking die Olympischen und Paralympischen Spiele und Katar die Fußball-WM ausgetragen haben, war das Jahr 2022 kurzerhand zum Sport(s)washing-Jahr erklärt worden. Während demokratische Herrschaftssysteme nahezu selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, kein Sportwashing zu betreiben, sondern lediglich "Marketing", "Werbung", "Sponsoring", "Aufmerksamkeitsmanagement" oder "Kulturaustausch", wird autokratischen Systemen unisono vorgeworfen, Glanz und Gloria internationaler Großevents dafür zu nutzen, sich von ökologischen, politischen oder gesellschaftlichen Missständen im Land reinzuwaschen. Aus westlichem Blickwinkel verfolgen Länder wie Russland, China, Saudi-Arabien oder Katar immer auch sinistre Ziele mit Sportevents und Imagekampagnen, etwa das Übertünchen von Menschenrechtsverletzungen und gesellschaftlicher Unterdrückung. Hingegen verfolgen zum Beispiel Staaten wie Deutschland ("Die Welt zu Gast bei Freunden"), Großbritannien ("Inspire a generation"), Frankreich ("Games wide open") oder die USA ("Follow the sun"), die sich als Hüter wahrer Menschlichkeit gerieren und die restliche Welt eher als Dschungel sehen, den man mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln zähmen müsse, immer lauterste Absichten und Motive mit "Brot und Spielen".
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat jüngst eine breit orchestrierte Kampagne unter dem Slogan "Deine Ideen, deine Spiele" gestartet, um die eher olympia-skeptischen Bürger wieder für kostenexplosive, umweltbelastende und polizeigewaltige Megaevents im eigenen Land zu begeistern. Statt die Grundsatzkritik und Ablehnung der Bürger ernst zu nehmen, werden heutzutage dialogorientierte Einbindungsverfahren initiiert, um Erwartungshaltungen, Bedenken und Widerstände schon im Vorraum kritischer Entfaltung abzufragen und mit wohlfeilen Antworten und maßgeschneiderten Konzepten ins Leere laufen zu lassen. Damit nicht auch noch die achte Olympiabewerbung in Folge scheitert, hat der DOSB für rund eine Million Euro eine einjährige Vorfeldkampagne gestartet, die in ein umfassendes deutsches Bewerbungskonzept münden soll. Zwar bleiben die Sportvertreter und Olympialobbyisten bei zu diesem Zweck anberaumten Fachtalks und Dialogforen weitgehend unter sich, doch dafür genießt die Mitmach-Initiative die volle politische Rückendeckung durch das Bundesinnenministerium, wo seit 2019 im neugeschaffenen Referat "Sportgroßveranstaltungen" daran gearbeitet wird, alle relevanten Gruppen aus Politik, Wirtschaft und Kultur in die nationale Aufgabe einzubinden, entsprechende Strategiepläne zu entwickeln und durchzusetzen.
In Anbetracht schwerster innen- und außenpolitischer Krisen, die von den Herrschaftseliten kaum noch eingefangen werden können, will Sportwashing eben auch in Deutschland gut vorbereitet sein. Wer faktisch zur Kriegspartei geworden ist, mit Waffenlieferungen an die Ukraine die Verlängerung des Tötens und Sterbens unterstützt, den Atomkrieg gegen Russland riskiert, wer ständig demokratische Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränkt, in Kultur und Medien kritische Stimmen zum Corona-, Ukraine- oder Gazakonflikt unterdrückt, Polizeigesetze verschärft und eine rechtsextreme Erfolgspartei im Bundestag sitzen hat, der hat es freilich auch nötig, mit dem Finger auf die feudalen Golfstaaten zu zeigen, wo Menschenrechtsverletzungen und die Beschneidung der Meinungs- und Pressefreiheit noch offenkundiger sind. Gleichwohl würden von Staat und Privatwirtschaft ausgehaltene Athleten, die zudem als "gesellschaftliche Vorbilder" plakatiert werden, in allen Ländern der Welt in größte Schwierigkeiten geraten, wenn sie nonkonforme politische Meinungen in der Öffentlichkeit verträten. Wer als Kaderathlet zum Beispiel den Austritt Deutschlands aus der NATO oder die Abschaffung der Geheimdienste fordern würde oder auch nur zu fragen wagte, ob die israelische Regierung eine Mitschuld am brutalen Hamas-Überfall trägt, hätte mit schwersten Anwürfen und Konsequenzen zu rechnen.
Bodenschätze, Energie und Milliardenaufträge aus Katar, Saudi-Arabien, Bahrain, Oman, Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, den neuen Machtzentren des internationalen Sports, nimmt Deutschland gerne in Empfang. Nebst Geld, Bank- und Firmenbeteiligungen sowie Polizei- und Kriegsgerät kriegen die Wüstenstaaten dafür auch "unsere" Moralpredigten. Denn "wir", die Guten, betreiben ja kein Sportwashing, sondern allenfalls nationale Emphasen. "Wir arbeiten für ein neues Wir-Gefühl", meinte kürzlich DFB-Vizepräsidentin Celia Sasic bei einer PR-Veranstaltung für die Fußball-EM 2024 in Deutschland. Weil uns der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren gegangen sei, so Turnierchef Philipp Lahm, sehe er das Sportevent als Chance, "uns alle zu stärken: Es ist wichtig, dass wir wieder mehr Zusammenhalt bekommen in Deutschland und ganz Europa." Läuft Sportwashing auch auf kollektive Gehirnwäsche hinaus? Im Konsumrausch vereint durch sportive Wir-Gefühle? Kaum weniger pfäffisch Arbeitsminister Hubertus Heil, der sich anlässlich des Medientermins in der Frankfurter Arena erhoffte, dass das Fußballfest "unserem Land Orientierung und Hoffnung vermittelt". Es solle doch zumindest der Beleg erbracht werden, "dass Deutschland Großereignisse kann" und man "die Dinge gebacken" bekomme. Natürlich versicherte der SPD-Politiker auch, dass die Fußball-EM "ein Heimspiel für Menschenrechte" werde. "Hier werden Maßstäbe gesetzt, an denen sich neue Turniere messen lassen können." [2]
Was für ein Narrenspiel! Menschenrechte als Verkaufsschlager auf dem Sporteventmarkt. Dagegen erscheinen die Sportwashing-Pläne auf der arabischen Halbinsel von geradezu merkantiler Intelligenz. Denn die Länder des Nahen Ostens haben von ihren Lehrmeistern vornehmlich in Europa und Nordamerika gelernt, sich der marktförmigen Sozialtechnologie des Sports nach Gusto zu bedienen. Wenn dieser Tage einmal mehr moralisiert wird, dass sich Profis wie Ronaldo, Neymar, Benzema und viele weitere Weltstars nun in der Saudi-Arabischen Fußball-Liga für exorbitante Gagen verdingen, die Vereinigten Arabischen Emirate allein elf namhafte Fußballvereine überall auf der Welt erworben haben und das jährlich rund 400 Millionen Euro in europäische Spitzenklubs pumpende Herrscherhaus Katar mittlerweile in fast allen bedeutenden Sportgremien der Welt mit Sitz und Stimme vertreten ist, dann nicht deshalb, weil der Zauberlehrling etwas falsch gemacht hätte, sondern weil er nicht mehr vollends unter Kontrolle der bis dahin dominanten Sportnationen steht.
Der Sport war schon immer "Opium für das Volk" und wird sowohl in demokratischen wie autoritären Systemen auf mannigfaltige Weise eingesetzt, um die Massen am Band zu halten. Das Spiel beherrschen auch die Prinzen, Könige, Scheichs und Emire der reichen Golfstaaten, die darüber hinaus die Ökonomisierung des Sports und die mit dem Wort "Profitgier" nur unzureichend beschriebenen Kapitalkräfte geschickt für ihre Zwecke auszunutzen wissen. Schließlich geht es für die Wüstenstaaten darum, sich ein kräftiges und dauerhaftes Standbein in der kapitalistischen Staatenwelt zu verschaffen, wenn sie irgendwann nur noch wenig und später gar kein Geld mehr mit fossilen Brennstoffen verdienen können.
"Beim arabischen Sportmodell löst sich die Sport-Industrie von allen finanziellen Konsequenzen. Es geht nicht um Gewinne und Verluste. Es geht zunächst und vor allem darum, dass die Golfstaaten sich durch Sportinvestments auf der wichtigen politischen Landkarte dieser Welt den von ihnen angestrebten Platz erreichen", kritisiert indes der emeritierte Sportwissenschaftler Prof. Helmut Digel (Tübingen), wobei sich sein Unbehagen vor allem auf einen vermehrt zu beobachtenden Verstaatlichungsprozess richtet, "bei dem sich einige Staaten privatwirtschaftlicher Organisationsstrukturen bedienen, um die Machtverhältnisse im Weltsport in gravierender Weise zu ihren Gunsten zu verändern". Einen Schreiber der Süddeutschen Zeitung zitierend beklagt sich der frühere deutsche Leichtathletikpräsident, dass Saudi-Arabien den Wettbewerb gezielt abschaffe, "nicht nur ökonomisch sondern auch sportlich". [3]
Wie bitte? Haben denn nicht schon immer die "Vereinskassen" im Profisport gegeneinander gespielt und vornehmlich die ökonomischen Ressourcen der Klubunternehmen darüber entschieden, wer im vermeintlich "fairen" Wettbewerb oben und wer unten ist? Im gewerblichen Sport gilt seit jeher: Wer es sich leisten kann, das quantitativ und qualitativ meiste bzw. beste Spieler-/Athletenmaterial auf dem Sportmarkt einzukaufen, gewinnt. Ausnahmen bestätigen die Regel und sorgen für unterhaltsame "Spannung" im Wettbewerbssystem.
Die "staatspolitisch gesteuerte Vereinnahmung durch einige arabische Staaten, aber teilweise auch durch Staaten der ehemaligen Sowjetunion und durch asiatische Staaten von ausgewählten privatwirtschaftlichen Sportunternehmen", sprich die Instrumentalisierung des Sports für staatspolitische Zwecke, ist Digel ein besonderes Ärgernis, wobei er auguriert, dass dabei die sogenannten Non-Governmental Organizations (NGOs), die freiwilligen Vereinigungen, die über mehr als 100 Jahre im Wesentlichen den Weltsport getragen hätten, auf der Strecke blieben.
Ob diese Gefahr wirklich zutrifft, darf bezweifelt werden. Wesentlicher ist doch, dass diese Freiwilligenstrukturen bis heute den ökonomisierten Spitzensport mitgetragen haben, ohne dass sich die Basis laut und vernehmlich gegen diese Fehlentwicklung zur Wehr gesetzt hätte. Und warum? Weil sie an der Profitmacherei und am nationalpathetischen Sportwashing beteiligt ist - beruflich, ökonomisch, sozial, ehrenamtlich, konsumtiv, emotional. Die "staatspolitische Vereinnahmung des Sports" ist gang und gäbe und besteht nicht erst, seitdem private Investoren sich vermehrt in bestehende Sportstrukturen einkaufen und selbst Trainingszentren und Wettkampfstrukturen privatisiert würden, wie Digel kritisiert.
"Die Sportligen und Großevents werden auch von westlichen Regierungen gezielt genutzt, um Werbung zu betreiben. Die britische Regierung arbeitet zum Beispiel seit dem Sommer mit der Premier League zusammen, für eine Werbekampagne in 145 Ländern, die Großbritannien als dynamisches und zukunftsorientiertes Land präsentieren soll. Die Verantwortlichen verwiesen darauf, dass laut Umfragen die Premier League am ehesten ein positives Gefühl gegenüber Großbritannien bei Menschen hervorruft", berichtete bereits im vergangenen Jahr der Deutschlandfunk. [4] Die kürzlichen "Invictus Games" der Kriegsversehrten in Deutschland, für die sich die Bundesregierung beworben hatte, um auch dem deutschen Bellizismus und seinen schmerzlichen Folgen eine sportlich-heitere Note zu geben, oder das Investment der USA, wo das Pentagon den fünf großen Profi-Ligen sowie einzelnen College-Teams Millionensummen überwies, damit sie bei Sportveranstaltungen den Patriotismus schärfen und Werbung für die Rekrutengewinnung machen, sprechen eine deutliche Sprache, dass zu allen Zeiten und unverwandt der Sport in den Dienst von Staat und Kapital gestellt wird - für Militär, Produktion und Politik.
Warum also nicht die Stimmen stark machen, die sich gegen den Bewerbungswahnsinn für Olympische und Paralympische Spiele in Deutschland richten, statt es der Allianz aus Sport, Politik, Medien und Wirtschaft zu überlassen, mit ihren Softpower-Instrumenten die Profitmacherei des Sports fortzusetzen? Es sind nicht die Golfstaaten, die den vermeintlich unschuldigen Spitzensport verdorben haben. "Sportwashing" ist auch der Versuch des Westens, vom mehr oder weniger stummen Zwang kapitalistischer Verwertung im Sport abzulenken. Und es geht auch nicht um die Verschleierung einer schlechten Menschenrechtsbilanz durch Sportwashing, wie in hiesigen Medien kolportiert wird. Denn dann hätten beispielsweise die USA niemals die Olympischen und Paralympischen Spiele 2028 bekommen dürfen. Wie das Watson Institute for International and Public Affairs der renommierten Brown University in den USA im Rahmen des "Costs of War-Project" ermittelt hat, haben die in der Regel illegalen US-Kriege seit Nine Eleven 4,5 bis 4,6 Millionen Menschenopfer gefordert, wobei rund eine Million direkt bei Kampfhandlungen getötet wurden, während der Rest Opfer der Kriegsfolgen wurde. [5]
Der Kapitalismus als "kannibalische Weltordnung" sei unreformierbar, hatte einmal der Soziologe Jean Ziegler, bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, gesagt. Nichts anderes gilt für den kannibalischen Weltsport, den es immer dorthin zieht, wo der größte Reibach winkt.
Fußnoten:
[1] https://www.rosalux.de/news/id/49476/wir-koennen-uns-diesen-fussball-nicht-mehr-leisten. 18.11.2022.
[2] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177053.euro-die-fussball-em-in-deutschland-als-gesellschaftliches-grossprojekt.html. 16.10.2023
[3] https://sport-nachgedacht.de/essay/der-weltsport-zwischen-verstaatlichung-privatisierung-und-selbstzerstoerung/. Von Helmut Digel. 26. 9. 2023
[4] https://www.deutschlandfunk.de/sport-am-samstag-sportswashing-oder-imagekampagne-definition-100.html. 08.01.2022.
[5] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173327.costs-of-war-project-studie-zu-menschlichen-kosten-der-us-kriege-zeigt-immenses-leid.html. 18.05.2023
30. Oktober 2023
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023
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