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BÜHNE/001: Rolf Boysen - Ein Traum, was sonst (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2007

Ein Traum, was sonst
Theaternotizen (I)

Von Rolf Boysen


Er ist heute der große alte Mann des deutschen Theaters. Rolf Boysen hat aber stets auch über die Grundlagen und Möglichkeiten des Theaters nachgedacht - in einer zunehmend von den "Medien" bestimmten Zeit. Die NG/FH druckt in lockerer Folge seine "Theaternotizen".


*


Meine alten Lehrer hatten mich zu einem kleinen Fest eingeladen. Es fand statt in einem kargen Raum mit wenigen Tischen und Stühlen, einer Mischung von Lehrerzimmer und Kantine mit Selbstbedienung. Ich erinnere mich nicht an alle Lehrer, die an diesem Fest teilnahmen. Nur meinen Direktor in seinem ewigen blauen Anzug sehe ich noch ganz deutlich. Bei ihm hatte ich Mathematik und Astronomie gelernt. Sein Hobby - damals sagte man "Steckenpferd" - waren die Seeschlachten der Weltgeschichte. Er kannte sie alle: von Salamis bis Abukir, von Trafalgar bis Scapa Flow und Skagerrak, und er erzählte sie uns immer sehr spannend am letzten Tag vor den Ferien. Als die Anweisung kam, in der Schule mit "Heil Hitler" zu grüßen, hatte er sich eine seltsame Bewegung seiner rechten Hand ausgeklügelt, die zwischen "Servus" und "Stop" lag. Einer seiner Lehrer, der mit seinem einen Arm, der ihm aus dem 1. Weltkrieg geblieben war, so stramm "Heil Hitler" sagen konnte, wurde eines Tages sein Schulrat. Er selber blieb dann nicht mehr lange Direktor. Aber zu der Zeit klotzte ich schon über die Straßen Frankreichs oder stapfte durch den russischen Schlamm.

Also diesen Direktor sehe ich sehr deutlich auf dem Fest. Es wurde sehr ruhig getrunken und geredet. Auch drei Mädchen waren da, die uns manchmal etwas zu trinken brachten. Sie gehörten aber nicht zur Bedienung, es gab ja keine, sie taten es mehr aus Gefälligkeit. Ich habe ihre Gesichter nie richtig erkennen können. Vielleicht waren es "die drei Kronen seines Lebens", von denen uns unser Direktor auf unserer Abiturfeier erzählt hatte. Ich glaube, er tat es, um uns neben Mathematik, Astronomie und Seeschlachten auch etwas liebevoll Keckes mit auf den Lebensweg zu geben - der wunderbare Mann! Während wir so ruhig plaudernd in jenem Raum saßen, erhob sich plötzlich einer der Lehrer, den ich eben noch genau gekannt hatte. Doch jetzt, als er aufstand, wusste ich nicht mehr, wer er war, weder wer er jetzt war, noch wer er vorher gewesen war. Ich wusste auch nicht, warum ich an Hölderlin denken musste. Er fing an, ein langes Gedicht zu sprechen. Oder war es gar kein Gedicht?

Alles verstummte und hörte in großer Versunkenheit zu. Seine Sprache kannte ich nicht. Es war weder Latein noch Griechisch. Es muss eine sehr alte Sprache gewesen sein. Seltsamerweise verstand ich aber, was er sagte und es berührte mich tief Es machte mich traurig und froh zugleich. Während er sprach, schlug seine linke Hand ganz leicht im Rhythmus der Sprache auf die Balustrade, an der er entlangging. Und die Schönheit dieses Vorgangs hat sich mir ganz unvergesslich eingeprägt. Als ich eine Zeitlang hingeschaut hatte, bemerkte ich mit Verwunderung, dass es die Balkonbrüstung des Theaters war. Wir alle waren nicht mehr in dem Raum, wo das Fest seinen Anfang genommen hatte, sondern wir saßen alle im Rang der Münchner Kammerspiele - still, versunken in die Sprache aus alter Zeit. Dann kam eines jener gesichtslosen Mädchen zu mir mit einem aufgeschlagenen Buch und sagte: "Du stehst sogar in seinem Notizbuch", und sie deutete mit dem Finger auf meinen Namen. Aber ich konnte ihn nicht lesen. Das Buch war von oben bis unten vollgeschrieben mit Schriftzeichen, die ich nicht kannte. Es waren sehr gleich aussehende Zeichen und das ganze Schriftbild war von einer bestrickenden Schönheit.

Hier endete mein Traum und ich erwachte. Ich habe mich lange nicht von ihm lösen können. Immer wieder fragte ich mich, was meine alten Lehrer in dem Theater zu suchen hatten, in dem ich so viele Rollen gespielt hatte, warum die alte Sprache mich so beeindruckt hatte, dass ich sie verstand, obwohl ich sie nicht kannte.

Es waren die 'Schatten' des Theaters, von denen ich geträumt hatte - sozusagen das "Höhlengleichnis" des Theaters. Ich hatte geträumt von Schrift, von Sprache, von Rhythmus, von Versunkenheit und von Zuhören. Und ich hatte geträumt vom Gewesenen, vom Erinnerten - von alten Lehrern. Von den Quellen, von den Wurzeln des Theaters hatte ich geträumt. Die Theaterkunst ist die Kunst des Gewesenen, des Erinnerten.

Das Theater ist das Organistrum, die Drehleier des Gewesenen. Die Borduntöne des Erinnerten sind der Grundton des heutigen Spiels. Das Gewesene kulminiert im Heute. Auf der Höhe der Zeit zu sein, ist nichts anderes, als auf der Höhe des Gewesenen zu sein. Alles andere ist modisches Geschwätz.

Wenn wir das Lot nicht senken bis hinab zum Tantalus, wenn wir nicht wie der alte blinde Michelangelo den Torso von Belvedere mit den Händen abtasten, formgierig und sensibilisierungssüchtig, wenn uns das fünfmalige "never, never, never, never, never" des alten Königs nicht in den Ohren klingt, wenn wir unseren alten, toleranten Direktor in seinem ewigen blauen Anzug mit seinen Seeschlachten vergessen, dann wird uns auch das Heutige nicht gelingen.

Das Theater wirft sein Licht auf die Herkunft, den Weg, die Ankunft und den Hingang des Menschen. Das tut ein gut gemachtes Museum mit seinen stein- und bildgewordenen Zeugnissen auch. Man sollte es ein für allemal aussprechen: das Theater ist museal. Es hilft uns das Ungekannte wiederzuerkennen. Es ist das große 'déjà-vu' der menschlichen Seele. Und es kann, wenn es denn gelingt, vielleicht im Gegensatz zum Museum, ein Fenster in die Zukunft öffnen. Aber auch die Zukunft ist nichts anderes als die Vergangenheit des Jetzigen. Auch sie muss den bitteren Nektar des Gewesenen trinken, wenn sie nicht in Leblosigkeit vertrocknen will.

Ein Traum, was sonst. Sonst nichts? Was ist mit der Gegenwart, was mit dem heutigen Lebensgefühl? So lauten doch immer die Fragen. Es sind Fragen, die ins Leere laufen. Wir haben nicht vergessen, dass das Theater ja gerade aus dem "Lebensgefühl" entstanden ist. Die Frage nach der Haltbarkeit der allgemeinen moralischen Maximen, die Fragen nach der Verankerung des Individuums in seinen gesellschaftlichen Strukturen, die Frage nach den Göttern. Daraus ist ja Theater entstanden. Aber abgehandelt wurde es im Mythos, im Sagenhaften, im Legendenhaften. Die Kraft des Gewesenen gab den brennenden Fragen der Gegenwart die poetische Gestalt. Die unaustilgbare Asche des Gewesenen ist die Fruchtbarkeit des Künftigen.

Die Kugel aus dem Colt des Westernhelden ist nur ein modernes Märchen, nervenkitzelnde Unterhaltung. Der tödlich abgeschossene Pfeil des Odysseus ist symbolisierte und personifizierte Menschheitsgeschichte. Das ist der Unterschied.

Das Theater ist ein nach rückwärts schauender Prophet. Alle anderen Forderungen werden unter den unerbittlichen Gesetzen der Bühne zur Lächerlichkeit verurteilt.

Ein Traum, was sonst. Und wer den Traum tötet, tötet das Leben.


Rolf Boysen: Geboren im März 1920 in Flensburg, stand er nach fünf Kriegsjahren in Uniform über sechzig Jahre auf Bühnen der Bundesrepublik, davon 35 Jahre an den Münchner Kammerspielen, zuletzt am dortigen Residenztheater. Viele große Epen und Romane der Weltliteratur hat er als Hörbücher aufgenommen, zuletzt Dantes 'Göttliche Komödie'.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2008, S. 89-91
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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Das NF/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2 und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen. Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2008