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BÜHNE/010: Integration und Theater (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Integration und Theater
Von der 'moralischen Anstalt' zur Teilhabe an Kultur

Von Wolf-Dieter Ernst


Integration wird zunehmend als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Die Debatte um die Gestaltung der Zuwanderung zeigt die Facetten des Themas auf: Einige haben dabei die Gewinnung qualifizierter Fachkräfte im Sinn, für die meisten gehört Gastfreundschaft zum guten Ton, nicht wenige machen aber auch ihrer Abwehr und Angst vor dem Fremden Luft. Jedoch erschöpft sich das Thema nicht zwischen spontaner Hilfsbereitschaft hier und dumpfem Protest dort. Das haben nicht zuletzt Theatermacher erkannt. In zahlreichen Projekten machen sie Integration zum Thema und loten zugleich neue Spielweisen aus.

Sie stehen damit freilich in guter Tradition. Die deutschsprachigen Theaterkulturen waren immer auf die Theaterkulturen ihrer Nachbarländer bezogen. Angefangen von den englischen Wandertruppen des 18. Jahrhunderts, der Rezeption Shakespeares oder Molières, bis hin zu den zeitgenössischen Theaterformen, die auf zahlreichen Festivals präsentiert werden - Theater integrierte immer rasch, was szenisch brauchbar war. Dabei war Integration nie auf die Stoffe und Formen beschränkt. Da Theater eine kollektive Kunstform ist, müssen sich auf diese Kunstform ganz unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler, Technikerinnen und Techniker und letztlich auch Zuschauerinnen und Zuschauer einlassen. Integration wird im Theater täglich auf der zwischenmenschlichen Ebene praktiziert und erfasst alle Ebenen des menschlichen Ausdrucksvermögens von der Sprache bis hin zu Mimik und Gestik.

Von daher wundert es nicht, dass das Thema Integration in besonderer Weise die Theaterlandschaft prägt. Einige wenige Beispiele zeigen dabei die Dimension von Integration und Theater auf und weisen auf das neue theaterwissenschaftliche Forschungsfeld einer 'Ethik und Praxis des integrativen Theaters' hin.


Gesellschaftliche Stimmungslagen im Spiegel des Theaters

Ängste und Freuden - dieses Stimmungspaar prägte wohl von je her die Integration des Fremden. Dass dieses Thema also seinen Weg auf die Bühnen findet, ist nicht verwunderlich, denn Theater reagiert ja immer auf gesellschaftliche Stimmungslagen. Wenn Gotthold Ephraim Lessing ein Nationaltheater fordert, Friedrich Schiller die Schaubühne als 'moralische Anstalt' ansieht oder Gerhart Hauptmann das Proletariat auf der bürgerlichen Theaterbühne zu Wort kommen lässt(1), so zeigen diese Theatermacher ein feines Gespür für gesellschaftliche Veränderungswünsche ihrer Zeit hin zu nationalstaatlicher Einheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.

Nicht anders verfahren Theatermacher und Intendanten heute. Projekte mit Flüchtlingen und Mitbürgern mit Migrationshintergrund, Auftritte mit internationalen Gästen - diese Tendenzen prägen die Spielpläne. Neben den vier 'klassischen' Sparten Sprechtheater, Musiktheater, Tanztheater und Figurentheater ist heute gar von einer fünften Sparte die Rede. Damit sind die zahlreichen Stadtteilprojekte, Theater in Schulen, Diskussionsrunden und Jugendclubs gemeint, mit denen sich die Institution des Stadttheaters zum urbanen Raum hin öffnet. Theatermacher begreifen Integration durchaus auch als eine Ressource, um sich der Globalisierung zu stellen. Denn in dem, was als fremd erscheint, liegt immer auch die Chance für neue Stoffe und Erzählweisen verborgen.


Auf dem Weg zum integrativen Theater

Als der niederländische Regisseur Johan Simons im Jahr 2010 die Intendanz der renommierten Münchner Kammerspiele übernahm, machte er die Öffnung des Hauses für internationale Theaterkulturen zur Chefsache. Simons: "Ein Theater der Nationen in diesem Europa, in diesem Kontinent mit vielen Gesichtern, [...] das ist für mich ein Theater, in dem ein Belgier und ein Este zusammentreffen und eine Performance über Liebe auf Distanz und körperliche Nähe machen. Ein Theater, wo Finnen, Ungarn und Deutsche zusammen einen Roman von Dostojewski inszenieren und sich unterwegs in kulturellen und sprachlichen Missverständnissen verlieren."(2)

Schon bald darauf hörte man Schauspielerinnen und Schauspieler wie Benny Claessens oder Elsie de Brauw mit leicht holländischem Melos deutsche Versdramen sprechen. Diese Neuerung stieß zunächst auf eine zwiespältige Resonanz, wie die Dramaturgin Julia Lochte berichtete. Es habe eine erschreckende Zahl von Zuschriften mit "fast schon faschistoiden Zügen" gegeben. Auf der Bühne mit Akzent zu sprechen, könne jedoch auch für eine ganz neue Aufmerksamkeit sorgen, die das Publikum durchaus zu schätzen wisse.(3)

Zu den gefeierten Münchner Aufführungen zählte die Inszenierung Tauberbach von Alain Platel: ein Beispiel für die internationalen Inszenierungen, an denen sich das Haus als Ko-Produzent beteiligte. Damit wurde die Marke "Münchner Kammerspiele" auch einer europäischen Theateravantgarde geläufig, die sich bisher eher jenseits der stehenden Theaterhäuser in eigenen Netzwerken organisierte. Am Beispiel München zeigt sich das integrative Theater also auch als ein neues Geschäftsmodell, welches bestehende Strukturen radikal in Frage stellt. Denn sowohl die Idee eines permanent verpflichteten Ensembles - ein deutsches Alleinstellungsmerkmal - als auch die föderal organisierte Grundversorgung der Städte und Gemeinden mit Theater erfahren hier eine Öffnung hin zu neuen und anderen Theaterkulturen. Die Besucherzahlen in München sprechen eindeutig dafür, dass diese Öffnung einem Abonnementpublikum gefällt, wenn sie konsequent vertreten wird.


Rollenbesetzungen unabhängig von Nationalität und Herkunft

Noch einen Schritt weiter geht die neue Intendanz von Shermin Langhoff und Jens Hillje am Maxim Gorki Theater in Berlin. An diesem kleinsten der Berliner Sprechtheater besteht das Ensemble zum größten Teil aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit Migrationshintergrund. Das hat einen besonderen Grund. Denn hartnäckig hält sich das Vorurteil, Ensemblemitglieder mit ausländischem Erscheinungsbild kämen nur für Typenrollen infrage. Die Schauspielerinnen und Schauspieler am Maxim Gorki Theater spielen jedoch, unabhängig von Herkunft und Erscheinungsbild, selbstverständlich auch Hauptrollen der klassischen Dramenliteratur. Man sollte meinen: Natürlich tun sie das, sie sind ja professionell dafür ausgebildet und zudem häufig Kinder der dritten Generation von Einwanderungsfamilien. Die an den meisten deutschen Theatern übliche Besetzungspraxis spricht freilich eine andere Sprache. Das neue Konzept des Maxim Gorki Theaters hebt sich entschieden davon ab, und dies spiegelt sich auch in der Struktur des Publikums: Der Anteil der Besucher mit Migrationshintergrund liegt heute bei rund 20 Prozent.

Was also in den Sparten Musik- und Tanztheater üblich ist, nämlich die Verpflichtung der besten Künstler unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft, ist im Sprechtheater noch ein Novum. Das hat seine historischen Gründe, und hier kommt die Theaterwissenschaft mit ihrer historischen Forschung ins Spiel. Nicht wenige sehen im Sprechtheater einen Hort deutscher Sprache und Literatur, der eine lange Tradition habe. Die Theaterwissenschaft hat jedoch gezeigt, wie sich im 19. Jahrhundert das Bühnendeutsch allererst ausbilden musste, nämlich in Form mühsamer Lernprozesse. "Reinigung der Sprache vom Accente", nannte man dies in den Katechismen der Redekunst.(4)

Die Wogen schlugen freilich noch hoch, als in den 1990er Jahren die ersten Theaterstücke des türkisch-deutschen Dichters Feridun Zaimoglu auf den Bühnen zu hören waren. Zaimoglu nannte seine Sprache bewusst "Kanak Sprak". Inzwischen hat auch die Theaterkritik ihren Frieden damit geschlossen, da sie die musikalischen und poetischen Qualitäten dieses Slangs erkannt hat. Kanak Sprak wie übrigens jeder Dialekt kann Sachverhalte auf eine Weise zu Gehör bringen, welche der Hochsprache entgehen muss. Nicht zuletzt deshalb erfreut sich die Integration des Fremden auf der Ebene der Sprache wohl einiger Beliebtheit - nicht zuletzt im Volks- und Dialekttheater in Bayern.


Theater im Wandel zur Ereigniskultur

Die Theaterwissenschaft hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir es bei integrativem Theater mit einem Wandel der Theaterkonvention zu tun haben. Um diesen Wandel begrifflich zu erfassen, bildete sich die Kategorie des Performativen heraus. Damit ist gemeint, dass die Zuschauer im Theater weniger einen Inhalt entschlüsseln, sondern vielmehr sich als integrativen Teil eines Ereignisses erfahren. Das Wort "performativ" bezeichnet also den Umstand, dass in einer Ereigniskultur die bloße Tatsache, ob und wie auf der Bühne gesprochen wird, heute mindestens ebenso bedeutsam ist, wie der Inhalt der Rede selbst. Das muss nicht zu kulturpessimistischen Stoßseufzern Anlass geben: Der Inhalt ist ja bei kanonischen Texten häufig eh bekannt oder im Internet leicht zu recherchieren. Wichtiger aber ist: Indem man kanonische Texte neu und anders gesprochen hört, kann man ihnen Bedeutungsschichten abgewinnen, die bislang verborgen waren oder in Vergessenheit geraten sind.

Zurück zum Maxim Gorki Theater: Es ist also durchaus performativ, wenn dieses Ensemble mit jeder seiner Aufführungen darauf aufmerksam macht, dass Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund selbstverständlich Kunsttheater auf höchstem Niveau produzieren können. Irgendwann - so das Kalkül - wird man vielleicht mehr den Schauspieler und Menschen wahrnehmen als dessen Herkunft. Der Migrationshintergrund wird dann als Klischee ersichtlich. So wie in einer Szene des Regisseurs René Pollesch: In der Inszenierung Liebe ist kälter als das Kapital am Stuttgarter Staatstheater legt er dem Schauspieler Felix von Manteuffel die Frage an einen Kollegen in den Mund: "Wo ist denn Dein Migrationshintergrund?" Daraufhin hält eine Schauspielerin, Silja Bächli, einen billigen Gebetsteppich hinter dem Angesprochenen in die Höhe. So wird ein Klischee inszeniert und zugleich entlarvt: Der Schauspieler Bijan Zamani vor dem Gebetsteppich aus dem Ramschladen - das sieht in dieser Szene plötzlich sehr 'ausländisch' aus.


Kein Ersatz für Sozialarbeit

Das neue integrative Theater sollte nicht zu Missverständnissen Anlass geben. Es geht nicht darum, Theater als einen öffentlichen Ort aufzufassen, in dem bessere Menschen arbeiten, oder gar die These zu vertreten, Theater könne von der Bühne herab gesellschaftliche Missstände aufzeigen und womöglich beheben. Theater ersetzt keine Sozialarbeit. Solche Behauptungen versuchen Theaterkunst im Verteilungswettbewerb um knappe Mittel zu legitimieren. Mit Legitimation jedoch wird man dem Erbe Schillers und seiner Idee der 'moralischen Anstalt' ebenso wenig gerecht wie dem integrativen Theater von heute. Denn man sieht an den Projekten des integrativen Theaters nur mehr, dass schon am Anfang eines jeden theatralen Prozesses die Integration steht. Ganz ohne Legitimationsdruck. Schon ein Schauspieler muss eine ihm fremde Figur spielen, vor Menschen, die ihm fremd sind. Integration kann man also als Basiskategorie des Theaters annehmen und ihr gelungenes Vorführen auch genießen.

Die Theaterwissenschaft begleitet das aktuelle integrative Theater mit großem Interesse. Denn die Differenzierung von Klischees - also von vereinfachenden, bildlichen Zuschreibungen - stellt ebenso eine genuine Aufgabe der Theaterwissenschaften dar, wie sie aus ethischen Gründen eine gesellschaftliche Praxis sein sollte.


Anmerkungen

(1) Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759); Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784, gedruckt 1785), Gerhart Hauptmann, Die Weber (1892).
(2) Johan Simons in: DIE ZEIT, 2/2014, "Wir brauchen Zeit!" von Peter Kümmel.
(3) vgl. dazu Cornelia Fiedler: Wort und Totschlag, in: Dramaturgie, Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 2/2013 (Es gilt das gesprochene Wort. Sprechen auf der Bühne - und über das Theater. Dokumentation der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft 2013), S. 41.
(4) vgl. z.B. Roderich Benedix: Katechismus der Redekunst. Anleitung zum mündlichen Vortrage. Leipzig 7. Auflage 1913 (1. Auflage 1840).


Autor

Prof. Dr. Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth.


Literaturhinweise

- Wolf-Dieter Ernst: Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. Berlin 2014.
- Ralph Olsen und Gabriela Paule (Hg.): Vielfalt im Theater. Deutsch-didaktische Annäherungen. Baltmannsweiler 2015.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation

ABB.  : Der Kirschgarten von Anton Tschechow, Regie: Nurkan Erpulat, Inszenierung des Maxim Gorki Theaters
ABB. 1: Friedrich Schiller (1756-1804), Gemälde von Anton Graff in der Städtischen Galerie Dresden.
ABB. 2: Tauberbach von Alain Platel, Regie: Alain Platel, Inszenierung der Münchner Kammerspiele
ABB. 3: Das Maxim Gorki Theater. Das Gebäude wurde von 1825 bis 1827 im Auftrag der Sing-Akademie zu Berlin (Leitung: Carl Friedrich Zelter) errichtet
ABB. 4: Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, Regie: Nurkan Erpulat, Inszenierung des Maxim Gorki Theaters

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 6-9
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2015

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