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FRAGEN/001: Gespräch mit dem Intendanten Ulrich Khuon (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2008

"Dunkelkammer des Passionswissens"
Ein Gespräch mit dem Intendanten Ulrich Khuon

Die Fragen stellte Stefan Orth


Religion ist wieder ein Thema auf deutschen Bühnen. Über das gegenwärtige Interesse des Theaters an religiösen Fragestellungen und das Verhältnis von Theater, Christentum und Kirche sprachen wir mit Ulrich Khuon, Intendant des Thalia Theaters Hamburg.


HK: Herr Professor Khuon, wenn heute von der Renaissance der Religion die Rede ist, wird auch darauf verwiesen, dass das Theater wieder verstärkt mit religiösen Fragestellungen konfrontiert. Wie viel Religion wird derzeit auf deutschen Bühnen geboten?

KHUON: Es ist unbestritten, dass hier einiges in Bewegung gekommen ist. Ausgerechnet die Volksbühne in Berlin hatte ja zuletzt über ganze Spielpläne hinweg wenn auch nicht kirchenaffine, so doch religiöse Themen auf dem Programm. Fjodor Dostojewski etwa ist durchaus ein Autor, der die religiöse Grunderfahrung thematisiert. Die Münchener Kammerspiele haben die Zehn Gebote zu einem Spielzeitthema gemacht. Auch gibt es explizit religiöse Stücke etwa von Paul Claudel, die lange nicht gespielt wurden und jetzt - vereinzelt - wieder gespielt werden. Das sind Indizien dafür, dass der Theaterraum poröser für diese Themen wird.

HK: Gilt das auch für das Thalia Theater?

KHUON: Wir haben zum Beispiel "Der Bus. Das Zeug einer Heiligen" uraufgeführt. Es handelt sich dabei um ein Auftragswerk, wobei vom Autor Lukas Bärfuss gerade nicht erwartetet wurde, ein religiöses Stück zu schreiben. Dass er dennoch die Geschichte einer Pilgerin im Bus nach Tschenstochau erzählt, illustriert sehr gut, wie man im Moment auch in der Kunst wieder offener und sensibler für diese Fragen wird.

HK: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung im deutschen Theater, inzwischen wieder ungeniert Motive und Themen aufzugreifen, die man in den vergangenen Jahrzehnten dort nicht unbedingt erwarten konnte?

KHUON: Das innerweltliche Fortschrittsprojekt ist in seinem utopischen Kern gescheitert, die Sinnhorizonte werden in der Gesellschaft heute wieder neu befragt und eine Sehnsucht nach Transzendenz kommt auf. Das Theater koppelt sich von diesen Tendenzen nicht ab. Auf der anderen Seite muss man auch dem Irrtum vorbeugen, dass alle Theater jetzt plötzlich Vorreiter einer neuen Religiosität wären. Immerhin gibt es ein neues Interesse an diesen Themen, aber eben als Resonanz auf gesellschaftliche Entwicklungen.

HK: Es ginge also zu weit, in den Theaterschaffenden maßgebliche Impulsgeber dafür zu sehen, dass nach einer längeren Phase der Säkularisierung jetzt auf der anderen Seite die Gottesfrage wieder zu einem Thema wird, das die Gesellschaft umtreibt?

KHUON: Entsprechende Ansagen sind übertrieben. Da darf man sich keinen Illusionen über die Theaterwelt als Ganzes hingegeben. Es gibt hier keine 180-Grad-Kehrtwende. Ausgesprochen religiöse Autoren wie zuletzt etwa Reinhold Schneider, die im Theater ohnehin nicht so zahlreich waren, gibt es in der Gegenwart nicht. Auf der anderen Seite war das Theater auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht völlig areligiös. Schon relativ lange beobachte ich als Christ wie als Theatermann die Szene. Auch früher haben wir diese Themen unzeitgemäß behandelt, mit eingelagerten transzendenten Fragen. Immer schon wurden im Theater die Grundfragen des Menschseins gestellt - und sie werden natürlich auch jetzt nicht so gestellt, dass der Zuschauer direkt zum Glauben aufgefordert wird. Diese letzten Fragen werden nach wie vor als jene ungelösten Fragen präsentiert, die der menschlichen Sehnsucht Raum geben.

HK: Was heißt das für die Religiosität der Theaterleute? Geht es in erster Linie um ein solches radikales Fragen nach dem Sinn menschlicher Existenz?

KHUON: Die meisten Künstler und erst recht die Theaterschaffenden, die die Jahrhunderte hindurch von der religiösen Kunst grundsätzlich viel entfernter waren, sind selbst nicht gerade religiös geprägt. Die allermeisten meinen, man müsse es aushalten, dass es keinen Gott gebe. Es herrscht das Bewusstsein vor, im Leben eine bestimmte Frist zur Verfügung zu haben und diese human gestalten zu sollen. Die Theaterkunst formuliert vor diesem Hintergrund Krisen-Szenarien: Sie zeigt gelegentlich das wunderbare Gelingen, häufiger aber Scheitern, Leid und schmerzhaftes Versagen. Der Zuschauer kann dabei oft auch eigene Lebenswirklichkeit erkennen. Wenn man die Eheschlacht in Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" erlebt, strahlt das schon aus auf das Gestalten der eigenen Beziehung.

HK: Was interessiert aber Theaterleute dann an explizit religiösen Fragen?

KHUON: Autoren und Dramaturgen können sich dafür begeistern, wenn ihre Charaktere sich dem Unbedingten verschreiben. Die Kraft des Angerufenseins, etwa jener Erika, die morgen in Tschenstochau sein will, oder auch der Gotteskriegerin Johanna in Friedrich Schillers "Jungfrau von Orléans", sind ein Faszinosum. Angesichts des Kontingenten unseres Lebens, der Zufälligkeit der Welt, ist diese erfahrene Angesprochenheit etwas, was Künstler immer wieder sehr beeindruckt. Natürlich erschreckt das Gewaltpotenzial, welches vielen Religionen auf Grund ihres Alleinvertretungsanspruches eingelagert ist. Gleichzeitig fasziniert eine solche Entschiedenheit in einer Welt, in der sich viele nicht entscheiden können und alle Alternativen für gleichermaßen möglich halten.

HK: Ist eine solche Entschiedenheit nicht auch jenseits ausdrücklicher Gewaltausübung ambivalent? Immerhin besteht heute einer der Hauptvorwürfe gegen die Religion im Allgemeinen, dass die Überzeugung von einer letzten Wahrheit die Menschen intolerant werden lasse.

KHUON: Wir machen zu Beginn der nächsten Spielzeit Henrik Ibsens "Brand". Da geht es um einen Kirchenmann, der ein großer Eiferer ist. Er verteidigt die reine Lehre und plädiert mit großem Nachdruck für den moralisch einwandfreien Weg. Er predigt damit eine Radikalität, die in ihrer Verstiegenheit unmenschlich ist und die es den anderen unmöglich macht zu folgen.

HK: Das erinnert wiederum an jene Form der Kirchenkritik, die es im Theater als gesellschaftskritischer Institution immer gegeben hat. Gibt es heute überhaupt noch im vergleichbaren Maße Vorbehalte gegenüber dem institutionalisierten Glauben?

KHUON: Für viele Theaterleute spielt die Kirche gar keine Rolle. Sie akzeptieren, dass es sie gibt, meinen aber weder, dagegen kämpfen, noch sich damit intensiver beschäftigen zu sollen. Viele Künstler haben vielmehr selbst einen Alleinvertretungsanspruch: Sie sind überzeugt, sich am besten auszukennen, was das menschliche Leiden und alle anderen Katastrophen des menschlichen Lebens sowie deren Durchdringung angeht. Da fühlen sie sich als Fachleute. Allerdings lassen sie sich deshalb gelegentlich auch etwas entgehen: den Reichtum religiöser Erfahrungen.

HK: Inwiefern könnten Theaterschaffende von der Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen etwas lernen, wenn sie sich intensiver mit deren Traditionen beschäftigen würden?

KHUON: Im Blick auf Jesus und insbesondere auf das christliche Passionswissen fallen doch signifikante Gemeinsamkeiten zwischen dem Theater und dem christlichen Glauben auf. Die Kunst ist eine Art Dunkelkammer des Passionswissens, das uns nicht souveräner, sondern eher unsicherer macht. Wir kommen aus dieser Dunkelkammer, aufgrund unseres Wissens um das menschliche Leid, verändert wieder heraus. Das Theater kann eine hohe Empathie erzeugen, noch mehr als die bildende Kunst, vielleicht ähnlich wie die Musik. Gleichzeitig konfrontiert die Theaterkunst mit menschlichen Schicksalen. Aus der Fähigkeit zum Mitleiden erwächst eine ganz intensive Nachbarschaft zwischen der Theaterkunst und der Religion. Der Theologe Johann Baptist Metz hat diese Mit-Leidenschaft als Mitgift des Christentums für die europäische Kultur bezeichnet.

HK: Von Metz und seiner neuen politischen Theologie her wäre auch der Hinweis auf die Bedeutung des Narrativen für die Konstitution christlicher Identität eine gemeinsame Ebene des Gesprächs von Theater und Christentum.

KHUON: Auch das Theater möchte Geschichten erzählen, weil diese uns einen Zugang zu Erfahrungen ermöglichen. Es gibt die Möglichkeit, Vieles abstrakt oder theoretisch zu begreifen. Aber im Grunde sind wir Erfahrungswesen. Da wir nicht alle Erfahrungen selbst machen können, braucht man die Geschichten jenseits der eigenen Welt. Jeder hat dies schon angesichts von großer Literatur erlebt. Die Geschichten verknüpfen uns mit anderen Erfahrungswelten. Es handelt sich - im positiven Sinne - um Surrogate von Erfahrungen, die deshalb wichtig sind, weil man nicht alle Erfahrungen unbedingt selbst machen muss.

HK: Das hat auch in der Geschichte der Theatertheorie, angefangen von der Aristotelischen Philosophie, eine große Rolle gespielt. Welche unterschiedlichen Traditionen kennt das Theater, Leiden und Leid auf spezifische Weise zu thematisieren?

KHUON: In der Entwicklung des Theaters gab es immer wieder Wellenbewegungen. Auf der einen Seite hat man die Emotionalität in den Vordergrund gestellt: das Erschrecken und das Mitleiden lernen. Dann gab es auch stärker rationale Zugänge, etwa im Brechtschen Theater, das den Zuschauer dazu bringen will, die Verknüpfung der Handlungsfäden zu durchschauen, sie zu bewerten und dann auch die Konsequenzen zu ziehen. So wie die Epochen wechseln, ändern sich auch hier die Akzente.

HK: Wo steht das Theater am Beginn des 21. Jahrhunderts?

KHUON: Früher dauerte eine Epoche fünfzig Jahre und länger. Wir sind heute insofern in einer neuen Situation, als wir in einer Phase der Gleichzeitigkeit leben. Es wird alles zitiert, wir haben zu allem Zugriff, viele Bewegungen verlaufen parallel. Natürlich haben wir nur begrenzte Aufnahmekapazitäten, aber theoretisch können wir immer auf alles zugreifen. So wie die Generationen heute nur noch fünf bis fünfzehn Jahrgänge umfassen, erfolgen auch die Pendelschläge im Theater immer rascher.

HK: Lässt sich nicht trotz aller Vielfalt der Themen und Zugangsweisen ein charakteristischer Zug für das gegenwärtige Theaterschaffen ausmachen?

KHUON: Die Schärfung des sozialen Sensoriums nimmt zu. Die Theaterkunst nimmt heute für sich in Anspruch, genauer und beinahe dokumentarisch auf die Welt zu schauen. Sie akzeptiert für sich, dass sie nicht grundsätzlich bereits alles weiß. Wenn wir schon über emotionale Verwahrlosung und über gewaltbereite Jugendliche reden, sollten wir sie auch zu Wort kommen lassen. "White Trash" war bei uns so ein Versuch, mit Jugendlichen zu sprechen und daraus einen Theaterabend zu machen. Ein anderes Beispiel: Der Regisseur Frank Abt hat das Theaterformat "Stadtnotizen" gemacht, kleine Stücke über Vorgänge in verschiedenen Stadtteilen Hamburgs. In ihnen geht es um die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts, wie wir sie erleben: angefangen von Hartz-IV-Schicksalen bis zu atomisierten Familien und überforderten Eltern. Es geht hier um das Atmen kleiner sozialer Einheiten, ihre Bewegungen und Katastrophen, von denen man - oft genug nur in Kurznotizen - täglich in den Zeitungen liest.

HK: Denken Sie mit Blick auf diese neorealistischen Beschäftigung mit den heutigen sozialen Spannungen mehr an neue Stücke oder auch an die gegenwärtigen Inszenierungen der Klassiker?

KHUON: Wichtiger ist im Moment die eigene Stückentwicklung. Aber es geht auch um Inszenierungen von bekannten Dramen. Wir haben beispielsweise das Schauspiel "Rose Bernd" von Gerhart Hauptmann wieder auf die Bühne gebracht. Wenn wir zeigen, wie ein Mädchen zwischen vier Männern benützt, zerrieben und fallen gelassen wird und am Schluss in ihrer Not das eigene Kind tötet, erinnert das sehr an heutige Fälle von Überforderung junger Eltern. Wer zerstört wird, zerstört weiter. Der Regisseur Michael Thalheimer erzählt damit eine auch uns heute sehr berührende Geschichte.

HK: Inwiefern ist das Anknüpfen an solche Fälle, die stets auf ein großes Medienecho stoßen, auch ein Versuch, wieder auf das Publikum zuzugehen? Dem Theater ist zuletzt oft genug vorgeworfen worden, vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein.

KHUON: Im Bemühen, die Rätsel der Welt nicht allzu sehr in einfache Muster aufzulösen, sondern ihnen mit komplexen ästhetischen Erzählweisen zu begegnen, ist es schon häufig im Theater zu schwer verstehbaren Verschlüsselungen gekommen. Wenn man aber die Verrätselung so weit treibt, dass das Publikum das Stück nicht mehr entschlüsseln kann, wird es ratlos. Im Moment gibt es eine stärkere Tendenz, narrativer zu werden und verstehbarer zu erzählen. Der Reiz des ästhetischen, auch intellektuellen Rätsels wird eher zurückgenommen.

HK: Was bedeutet das für Produktionen, in denen religiöse Fragestellungen eine wichtige Rolle spielen? Wie dankbar reagiert das Publikum darauf wenn solche Fragen in den Vordergrund gestellt werden?

KHUON: "Der Bus" war eine Uraufführung und sehr gut besucht, ähnlich die Stücke von Dea Loher, in denen - wenn auch im Sinne negativer Theologie - immer etwas Religiöses eingebaut ist. Das Theaterpublikum hat dafür schon ein offenes Ohr.

HK: Gibt es so etwas wie eine spirituelle Suche im Publikum?

KHUON: Das glaube ich schon.

HK: Und was hat das Theater angesichts dieser Erwartungshaltungen dann anzubieten?

KHUON: Es kann bei der Orientierungssuche helfen, weil es selbst mitsucht. Es ist immer leichter zu suchen, wenn man weiß, dass man nicht alleine auf dieser Suche ist. Dass andere dieselben Fragen stellen, ist manchmal wichtiger als eine schnelle Antwort. Die bisherigen Antworten reichen nicht aus. In einer Gesellschaft, die deshalb wieder mehr Fragen stellt, ist das Theater ein Akteur.

"Die Kirche sollte grundsätzlich geduldiger und gesprächsfähiger sein"

HK: Treten die kleinen und großen Bühnen damit in Konkurrenz zur Kirche, indem sie sich als Ort für die Reflexion der eigenen Lebensfragen exponieren? Oder ganz direkt gefragt: Gehen manche Leute heute deshalb lieber ins Theater als in die Kirche?

KHUON: Der jüngst veröffentlichte Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat wieder gezeigt, dass viel mehr Menschen religiös sind, als man gemeinhin denkt - einmal abgesehen davon, dass mehr Menschen Mitglieder der Kirche sind, als so ohne weiteres offensichtlich ist. Viele basteln sich allerdings eine eigene Religion zusammen. Das hat sich im Vergleich zu früher schon stark verändert. Die Kirche ist nicht mehr die Autorität bis in den letzten Winkel der eigenen Lebenswelt. Die Zeiten, in denen sich die Menschen von ihren Bischöfen Befehle erteilen lassen, sind vorbei. Die eigene Intellektualität und die Bildung des Gewissens sind heute viel bedeutender. Dafür spielt das Theater dann schon eine Rolle. Auch die Kirche gibt hier Antworten. Das Theater verhindert diese nicht, bekämpft sie auch nicht.

HK: Gibt es unter Theaterleuten keine Lust an der Provokation mehr? Auch in den letzten Jahren war es so, dass in steter Regelmäßigkeit Stücke für Aufregung gesorgt haben, weil Christen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sahen...

KHUON: Alle Theatermenschen, die ich kenne, sind nicht wild darauf, die Kirche zu provozieren. Die Kirchen haben ihre eigenen Probleme. Wenn man provoziert, sollte man eher starke Positionen in Frage stellen. Alles andere hat mit Mut nichts zu tun. Die einzelnen Tabuverletzungen, die es gibt, sind sehr unterschiedlicher Natur und haben sehr verschiedene Hintergründe. Ich sehe da keine Bewegung.

HK: Das Theater wird sich dennoch fragen lassen müssen, warum es immer wieder zu solchen Auseinandersetzung kommt ...

KHUON: Ein Beispiel wäre der Streit über Plakate für Theateraufführungen. Da hängt etwa eine Schauspielerin an einem Kreuz. Ein solches Plakat wird nicht geboren aus dem Bedürfnis, die Kirchen zu provozieren. Da steht nicht die Berechnung im Vordergrund, mit dem Ärger aufgrund eines vermeintlichen Skandals auf das Stück aufmerksam zu machen. Es handelt sich einfach um ein starkes Bild, bei dem im Vordergrund steht, dass viele christliche Symbole bekannte Topoi sind, mit denen man ganz schnell etwas erzählen und mit denen auch jeder etwas anfangen kann.

HK: Auch an einzelnen Produktionen haben Kirchenvertreter in der Vergangenheit immer wieder Kritik geübt. Vor einigen Jahren sollten die "Zehn Gebote" von Johann Kresnik ursprünglich im Bremer Dom aufgeführt werden, man ist dann aufgrund der laut gewordenen Proteste in eine andere evangelische Kirche ausgewichen.

KHUON: Seinerzeit ging es um die Grundfrage, ob ein Theaterstück überhaupt in einer Kirche aufgeführt werden darf. Es wäre durchaus legitim gewesen, die Kirche als Gotteshaus dem Gottesdienst vorbehalten zu wollen. Man muss nicht in jedem Raum alles machen. Wenn man aber Johann Kresnik das machen lässt, müsste man wissen, dass ganz verstörende Bilder dabei herauskommen werden. Man kann nicht so blauäugig sein und erwarten, dass dies ein netter animierender Abend über die Zehn Gebote werden wird. Natürlich geht es auch Kresnik um Leiden und Zerstörung, einschließlich des Leidens, das von der Kirche ausging. Wenn man sich dazu entschließt, muss man ein solches Stück auch sehenden Auges aushalten.

HK: Was ist Ihr Rat an die Adresse der Kirchen, wenn ihnen einzelne Produktionen aus ihrer Sicht als problematisch erscheinen?

KHUON: Die Kirche sollte grundsätzlich geduldiger und gesprächsfähiger sein. Bevor wir uns, auch als Einzelne, in unseren Gefühlen beleidigt zurückziehen, sollten wir das Gespräch suchen. Auch stünde der Kirche ein hohes Maß an Selbstironie gut an. Da nähme sie auch nichts von sich zurück. Gerade wer aus einer Position der Souveränität und Selbstgewissheit spricht, sollte die eigenen Überzeugungen kenntlich machen. Dann kann er aber auch relativ entspannt mit vermeintlich Provokativem umgehen - und etwa eine Diskussion am Ende eines Theaterabends einfordern, wenn man beispielsweise die Gestaltung des Werbeplakates ärgerlich oder verletzend findet. Das ist dann eine viel fruchtbarere Diskussion, als sich über die Forderungen nach Verboten streiten zu müssen.

HK: Im Verhältnis der Kirche zu Kunst und Kultur ist es heute insgesamt nicht zum Besten bestellt. Während in vielen anderen Kultursparten immerhin einzelne gut etablierte Initiativen für einen entsprechenden Dialog existieren, erscheint das Gespräch zwischen Theater und Kirche besonders schwierig zu sein. Ein Trugschluss?

KHUON: Obwohl sich das Theater durchaus für Religion interessiert, gibt es tatsächlich an vielen Orten kaum eine Berührung mit der real existierenden Kirche. Viele Kirchenmänner suchen den Kontakt zum Theater nicht, umgekehrt ist es ähnlich. Jeder hat seine eigene Überzeugung. Die Begegnung kann man nicht verordnen und sie geschieht auch nicht von selbst. Das hat viel mit handelnden Personen zu tun. Wir haben hier durchaus regen Kontakt mit der evangelischen St. Katharinenkirche, der Gemeinde St. Petri oder mit Margot Käßmann, der Bischöfin der hannoverschen Landeskirche. Aber auch der Hamburger Erzbischof Werner Thissen hat jüngst einen Vortrag bei uns gehalten und für unser Programmheft zu "Der Bus" ein Interview gegeben, mit der Katholischen Akademie beginnen wir gerade Kontakte zu knüpfen. Solche Kontakte gehen weiter, wenn man merkt, dass man sich etwas zu sagen hat. Letztlich aber herrscht die uralte Tradition einer Aversion dem Theater gegenüber in der Kirche vor. Die Kirche kann mit dem Sinnlichen des Theaters, mit der Sinnenvielfalt nichts anfangen. Sie übersieht dabei völlig, dass die Themen extrem nahe beieinander, wenn nicht dieselben sind.

HK: Dabei hat die Kirche, vor allem die katholische, doch selbst eine sehr sinnenfreudige Tradition: angefangen von den Kirchenräumen über die farbenprächtige Liturgie bis hin zu einem hier und da andauernden barocken Lebensstil. Könnten nicht sogar Theaterleute hier etwas lernen?

KHUON: Natürlich gibt es auf Seiten der Kirchen eine hohe Inszenierungsqualität. Man muss schon zugestehen, dass gerade die Inszenierungen rund um den Vatikan, insbesondere die Selbstinszenierungen von Johannes Paul II. ihresgleichen suchen. Das Theater selbst übrigens inszeniert sich heute viel weniger als früher. Da überkreuzen sich zwei Bewegungen: Das Theater mit seinen Funktionsträgern ist nüchterner geworden und versteht sich heute bescheidener vor allem als Arbeiter im Weinberg der Gesellschaft. In den Zeiten von Gustaf Gründgens bis hin zu Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann wurde das Theater auch über die kraftvolle Selbstinszenierung von Personen wahrgenommen. Meine Generation versucht - nur auf den ersten Blick paradoxerweise - im Theater eher mehr Sein als Schein zu produzieren: mehr Verbindlichkeit und mehr Sensibilität für die Wirklichkeit und nicht für die Inszenierungen. Wir wollen eher in den Inhalten und Geschichten verschwinden.

HK: Umgekehrt versucht man inzwischen, vor allem in der evangelischen Kirche, in der Ausbildung von Pfarrern auch Regisseure oder Schauspieler zu beteiligen, um die Kunst Gottesdienst zu feiern, besser zu vermitteln

KHUON: Diese Versuche, wie in der Wirtschaft Prozesse zu optimieren, sind von außen schwer zu beurteilen. Nicht bequem werden zu wollen, ist allerdings eine sehr wichtige Maxime. In der Nachfolge Jesu darf man nicht irgendwie defensiv, ängstlich und verschüchtert oder gar verstockt wirken. Es gilt, an den eigenen Glauben zu glauben und gerade deshalb gesprächsfähig und kommunikationsfreudig zu sein. Man muss die Welt schon aushalten und in sie hineinagieren. Einen Willen zur Weltberührung, eine entsprechend offensive und trotzdem kommunikative Haltung sind sowohl für das Theater wie für die Kirche sehr wichtig.


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Ulrich Khuon (geb. 1951), 1970 bis 1979 Studium an der Universität Freiburg. Staatsexamen in Jura, Germanistik und Theologie. Ab 1977 arbeitete er zunächst als Theater- und Literaturkritiker bei der Badischen Zeitung. Seine Theaterarbeit begann 1980 als Chefdramaturg am Stadttheater Konstanz. 1988 wurde er dort Intendant. 1993 wechselte Ulrich Khuon an das Niedersächsische Staatsschauspiel Hannover und wurde 1997 zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. Seit 2000 ist er Intendant des Thalia Theaters Hamburg, ab der Spielzeit 2009/2010 wird er Intendant des Deutschen Theaters Berlin sein.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 4, April 2008, S. 178-182
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2008