Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → FAKTEN

FRAGEN/003: Die Sprache des Körpers ist universell (Publik-Forum EXTRA)


Publik-Forum EXTRA, Magazin für Spiritualität und Lebenskunst
Ausgabe 2/08 - Thema: Tanzen

Die Sprache des Körpers ist universell
Tanzen ist politisch. Denn wo getanzt wird, kommen Menschen miteinander in Berührung.

Ein Gespräch mit der Choreografin Helena Waldmann
Von Christoph Quarch


PUBLIK-FORUM: Seit Sie in Ihrer Choreografie "Letters from Tentland" iranische Frauen auf der Bühne haben tanzen lassen, stehen Sie im Ruf dem zeitgenössischen Tanztheater eine politische Dimension verliehen zu haben. Sind Sie eine politische Choreografin?

HELENA WALDMANN: Das wäre zu viel gesagt. Aber tatsächlich haben viele meiner choreografischen Arbeiten eine politische Farbe. Das ist aber gar nicht unbedingt gewollt, sondern hat oft einfach mit ihrer Entstehungsgeschichte zu tun. Letters from Tentland ist im Iran entstanden. Die Schauspielerinnen, mit denen ich dort einen Workshop gemacht habe, hatten mich ausdrücklich gebeten, gerade keine politischen Sachen mit ihnen zu machen. Sie sagten, sie seien es leid mit Europäern immer Politik treiben zu müssen - dass sie einmal einfach nur leben, lieben und lachen wollen. Mir leuchtete das ein, und ich habe versucht, ihre Bitte zu erfüllen. Aber kaum dass wir zu improvisieren begannen, kam die Politik ins Spiel. Wie sollte es anders sein? Wenn man in einem Land wie dem Iran lebt, ist es nicht möglich, einfach nur zu lachen, zu lieben und zu leben. Jede Äußerung spricht von der Unterdrückung der Menschen.

PUBLIK-FORUM: Dass im Iran der Tanz schnell politisch wird, leuchtet ein. Aber gilt das auch für unsere Breiten? Daher eine allgemeinere Frage: Was verleiht einer Choreografie einen politischen Anstrich?

HELENA WALDMANN: Entscheidend ist die Themenauswahl: das, was im Tanz besprochen werden soll. Vor Kurzem habe ich in Saarbrücken eine Choreografie mit dem Titel "Crash" auf die Bühne gebracht, bei der es um das Thema Migration ging. Die Art und Weise, wie hier getanzt wurde, machte etwas deutlich von der extremen körperlichen Brutalität, die Menschen erfahren, wenn sie an Grenzen abgewiesen werden. Dies mit dem Körper auszudrücken verleiht einem Tanz politische Wucht.

PUBLIK-FORUM: Lassen sich in der Sprache des Tanzes Dinge sagen, die man in der gesprochenen Sprache nicht ausdrücken könnte?

HELENA WALDMANN: Ja, wobei ich hinzufügen muss, dass es manchmal auch schwieriger ist, im Tanz etwas auszudrücken. Wir Menschen sind es nun einmal gewohnt, die Welt über Worte zu verstehen. Deshalb führt der direkte Weg über die Sprache zum Kopf. Aber die emotionale Seite der Dinge können Sie so nicht erschließen. Sie lässt sich besser über den Körper vermitteln. Das war in Crash der Fall, wenn Menschen gleichsam an Zäunen kleben bleiben: oder in Letters from Tentland durch das stark emotionale Bild, dass Frauen in Zelten gefangen sind und nicht aus ihnen herauskommen.

PUBLIK-FORUM: Erzählen Sie doch etwas mehr von dieser Choreografie! Was hat es mit Letters from Tentland auf sich? Sie waren die erste Europäerin, die auf die Idee gekommen ist, mit iranischen Frauen eine Choreografie einzustudieren.

HELENA WALDMANN: Das hat den einfachen Grund, dass es Frauen im Iran verboten ist, in der Öffentlichkeit zu tanzen. Insofern war es einigermaßen absurd, mich dazu einzuladen, dort eine Choreografie einzustudieren. Aber mich reizte die Sache, und so habe ich mich darauf eingelassen. Als wir in Teheran das Stück entwickelten, war der heutige Präsident Ahmadinedschad noch nicht an der Macht. So konnten wir etwas bewegen und "das Wunder von Tschadorestan" vollbringen, wie "Die Zeit" es genannt hat. Tatsächlich konnten wir in Teheran zwei Vorstellungen realisieren. Danach waren wir noch drei Monate auf Tournee.

PUBLIK-FORUM: Was passiert in dem Stück?

HELENA WALDMANN: Sechs Frauen bewegen sich in Zelten. Das war ein Trick, denn es ist im Iran zwar untersagt, dass Frauen in der Öffentlichkeit tanzen. Es ist aber nicht untersagt, dass Zelte, in denen Frauen sind, in der Öffentlichkeit tanzen. Und genau das geschieht auf der Bühne: Zelte tanzen. Das hatte aber gleichwohl eine provokante politische Komponente, die mir allerdings erst später bewusst wurde: Das Wort 'Tschador' bedeutet sowohl Kleid als auch Zelt. Und so ging das iranische Publikum davon aus, dass die Zelte ein Symbol für den Tschador sind, den Frauen in der Öffentlichkeit tragen müssen. Dabei ging es mir ursprünglich gar nicht darum. Mich hatten vielmehr die vielen Zelte am Stadtrand von Teheran inspiriert, in denen Menschen leben, die vom Land in die Stadt gekommen sind.

PURUK-FORUM: Und welches Thema wollten Sie damit transportieren?

HELENA WALDMANN: Mir ging es um das Thema Öffentlichkeit und Intimität. Es gibt im Iran zwei Leben. Das eine ist innen, das andere ist außen. Man braucht das, um in diesem Land nicht wahnsinnig zu werden. Die Menschen brauchen Rückzugsorte, um ein Gegengewicht zu der Verlogenheit des öffentlichen Lebens zu finden. In der Öffentlichkeit darf man nichts sagen, nichts zeigen: Jedes offene Wort ist gefährlich. Aber daneben gibt es das andere Leben, das wahre Leben, bei dem man sein Gesicht zeigen darf. Dieses Leben spielt sich undercover ab: in den Häusern, in den Wohnungen, in den Hinterzimmern. Dieses innere Leben ist wahr. Das ist es, was die Tänzerinnen zum Ausdruck bringen wollten.

PUBLIK-FORUM: Das innere Leben hinter der Hülle des Zeltes?

HELENA WALDMANN: Genau. Das eigentliche Leben ist verhüllt. Und ich habe im Iran erlebt, dass dieses Leben viel extremer und teilweise auch lustiger und munterer ist als bei uns. Wenn ich privat eingeladen wurde, habe ich dort eine große Lebendigkeit und Lebensfreude erlebt: berstende, bebende Körper, Tanz und Spaß ohne Ende. Hier finde ich das fast gar nicht.

PURUK-FORUM: Sie haben Letters from Tentland überall auf der Welt aufgeführt. Eines Tages hieß das Stück dann "Return to Sender". Was war passiert?

HELENA WALDMANN: Nach einem Jahr und drei Monaten erreichte uns ein wirklicher Brief aus dem "Zeltland", also: aus Teheran. Unsere iranischen Tänzerinnen baten uns, das Stück aufzugeben. Mit der Wahl von Ahmadinedschad hatten sich die Verhältnisse im Iran geändert, und unsere Frauen dort fühlten sich bedroht. Ich wollte sie einerseits nicht gefährden, mir andererseits aber auch nicht vom Iran diktieren lassen, welche Stücke ich zeigen darf. Deshalb habe ich in Berlin lebende Iranerinnen gecastet und sie gefragt, ob es für sie interessant wäre, dieses Stück gleichsam zu überschreiben. So entstand Return to Sender.

PUBLIK-FORUM: Was war daran neu?

HELENA WALDMANN: Durch die ganz andere Situation der Exil-Iranerinnen veränderte sich die Symbolik: Die Zelte wurden nun zu Bildern für die ungewisse Situation dieser Frauen, die immer auf dem Sprung sind und mit einer Abschiebung rechnen müssen. Aber auch das Verhüllungsmotiv war für die Frauen wichtig. Ich habe begriffen, dass sie sich nach Verhüllung sehnten, um nicht immer gleich als Ausländerinnen wahrgenommen zu werden. Und so haben die Iranerinnen, die in Deutschland leben, ihre "Briefe an den Absender" geschrieben und darin ihren Schwestern in Teheran ihre Exil-Situation dargestellt.

PUBLIK-FORUM: Verblüffend ist, dass diese unterschiedlichen Lebenssituationen mit der gleichen Bildsprache zum Ausdruck gebracht werden können - und dass diese Sprache von Menschen überall auf der Welt verstanden wird. Ist Tanzen so etwas wie eine universale Sprache?

HELENA WALDMANN: Absolut ja. Die Körpersprache gibt es überall und jederzeit. Und in ihr können sich Menschen mit noch so unterschiedlicher kultureller Herkunft verständigen.

PUBLIK-FORUM: Aber es gibt doch große Unterschiede: In Japan tanzen die Menschen ganz anders als in Afrika, und die Latinos tanzen anders als die Inder.

HELENA WALDMANN: Die unterschiedlichen Tanzformen erzählen etwas von den unterschiedlichen Kulturen, in denen Menschen leben. Und doch kann man entziffern, was sich in ihnen jeweils auf eigene Weise ausspricht. Denn die Körpersprache ist bei allen kulturellen Differenzen am Ende doch eine und dieselbe.

PUBLIK-FORUM: Dann wäre der Tanz ja ein wunderbares Verständigungsmittel in der globalisierten Welt.

HELENA WALDMANN: So ist es. Und wissen Sie: Ich bin davon überzeugt, dass der Tanz ein Medium ist, in dem Kulturen und Religionen miteinander kommunizieren können - eine Sprache, in der sich Muslime und Christen, Juden und Buddhisten verständigen können.

PURUK-FORUM: Was sie aber selten tun. Warum?

HELENA WALDMANN: Weil wir - gerade in Deutschland - den Sinn dafür verloren haben, uns im Tanz auszudrücken. Die Menschen tanzen kaum noch. Sie schauen sich vielleicht Tanz-Filme im Kino oder Tanz-Performances in Theater und Oper an, aber sie haben den Bezug zu ihrem eigenen Körper verloren und dessen Sprache verlernt. Es wäre gut, wenn die Menschen hierzulande wieder entdecken würden, was es bedeutet, auch mal den Kopf zu verlieren.

PUBLIK-FORUM: Wie wollen Sie das unseren Zeitgenossen beibringen?

HELENA WALDMANN: Die Menschen müssten wieder lernen, Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu werden: nicht vorm Fernseher oder im Zuschauerraum sitzen und tanzen lassen, spielen lassen, kochen lassen. Was wäre das für eine Alternative zu sagen: Wir machen das jetzt selbst!

PUBLIK-FORUM: Aber die Leute tanzen doch. Tango steht hoch im Kurs, bei der Love-Parade raven Hunderttausende. Es ist nicht so, dass die Leute in Deutschland nicht tanzen würden.

HELENA WALDMANN: Das stimmt, aber am Ende ist es nach meinem Eindruck doch eine Minderheit, die tanzt. Und selbst dann fehlt oft der Sinn dafür, dass Tanz Kommunikation ist. Damit will ich nicht sagen, dass nur der Paartanz ein richtiger Tanz wäre. Man kann auch auf andere Weise tanzend mit dem Körper kommunizieren. Entscheidend ist, dass Sie beim Tanz das Interesse haben, mit einem anderen Menschen "ins Gespräch" zu kommen. Und das fehlt mir in diesem Land. Die Menschen schauen sich kaum in die Augen, sie machen immer mehr zu. Wie soll man da erwarten, dass sie miteinander tanzen? Sie tun es nicht.

PUBLIK-FORUM: Womit wir wieder bei den Zelten wären.

HELENA WALDMANN: Genau. Aber jetzt kommt das Entscheidende: In den Zelten, hinter den Verhüllungen, rumort und pulsiert es. Da regt sich ein Schrei nach Freiheit. Da rührt sich eine herumirrende Seele, die wild tanzt und wirbelt. In Letters from Tentland drehte sich eine Frau in ihrem Zelt wie ein Derwisch. Das war ihre Art, Gott anzurufen. In solchen Momenten wird der Tanz zu einer hochspirituellen Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob die Zuschauer in Deutschland das wahrgenommen haben, aber im Iran und in anderen islamischen Ländern war den Leuten klar, dass sie einem spirituellen Tanz beiwohnten.

PUBLIK-FORUM: Haben Ihre Tänzerinnen das auch so gesehen?

HELENA WALDMANN: Sie haben immer wieder betont, dass sie ein intensives Verhältnis zu Gott haben und das auch zum Ausdruck bringen wollen. Allerdings nicht in den ritualisierten Formen von Niederwerfungen und dergleichen. Sie haben Gott mit ihrem ganz individuellen, improvisierten Tanz angerufen. Ich fand das sehr schön.

PUBLIK-FORUM: Tanzen - das spirituelle Gegengift in einer kommunikationsarmen Welt. Steht diese These im Hintergrund Ihrer neuen Choreografie namens "feierabend! - das gegengift"?

HELENA WALDMANN: Nicht das Gegengift, aber ein mögliches bestimmt. Tanzen bedeutet für mich immer auch Feiern: Und auch Feiern ist etwas, das wir hierzulande wiederentdecken müssen. Die Menschen in Deutschland sind total auf Arbeit fixiert - und wissen mit ihrem Feier-Abend oft nichts mehr anzufangen. Diesem Thema gilt meine neueste Choreografie. Sie handelt vom Feiern als Gegengewicht zur Arbeit. Zu einer guten Feier gehört aber immer der Tanz. Weil der Tanz ein Mittel ist, das es erlaubt, einfach mal den Kopf abzuschalten. Der Kopf ist der Eintrittspreis. Wenn Sie zum Fest des Lebens wollen, dann kostet Sie das den Kopf - oder wenigstens den Verstand.


Helena Waldmann
(geboren 1962) ist Regisseurin und Choreografin. Ihr Handwerk erlernte sie unter anderem bei Heiner Müller, George Tabori und Gerhard Bohner. Ihren bislang größten Erfolg feierte sie mit dem 2005 in Teheran produzierten Stück "Letters from Tentland" und dessen Fortsetzung "Return to Sender". Am 13. Februar 2008 wurde ihr jüngstes Stück "2008 feierabend! - das gegengift" in Hamburg uraufgeführt.


*


Quelle:
Publik-Forum EXTRA, Magazin für Spiritualität und Lebenskunst
Ausgabe 2/08, März/April 2008, S. 11-13
Redaktion und Verlag:
Publik-Forum - Zeitung kritischer Christen
Postfach 2010, 61410 Oberursel
Telefon: 06171/70 03-0, Fax: 06171/70 03-40
E-Mail: redaktion@publik-forum.de
Internet: www.publik-forum-extra.de

Publik-Forum erscheint 14-täglich.
Einzelpreis: 3,80 Euro
Abonnement: Deutschland/Österreich 43,80 Euro
(Preis pro Halbjahr inclusive Versandkosten)


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2008