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FRAGEN/004: Die indische Theaterbewegung Jana Sanskriti (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 105, 3/08

Eine kollektive Sprache entwickeln

Die indische Theaterbewegung Jana Sanskriti
Interview mit Sima Ganguly und Biti

Von Birgit Fritz


Im Juni 2008 trafen sich internationale Forumtheatergruppen und JokerInnen(1) beim MKFM-Festival in Pula, Kroatien. Neben TheateraktivistInnen wie Augusto und Julian Boal, Adrian Jackson, Chen Alon und Muriel Naessens war das Team der indischen Theaterbewegung Jana Sanskriti die Hauptattraktion am Istrischen Nationaltheater. Birgit Fritz traf Sima Ganguly und Biti von Jana Sanskriti, die im Interview über die Arbeit des Theaternetzwerks sprachen.


Jana Sanskriti(2) ist eine der größten kulturellen Bewegungen in Indien, die sich seit mehr als 20 Jahren mit den Mitteln emanzipatorischer Theaterarbeit für eine nachhaltige Veränderung herrschender Machtverhältnisse einsetzt. Die unabhängige Theaterorganisation hat ihren Ausgangspunkt in Westbengalen und ist in zwölf verschiedenen indischen Bundesstaaten aktiv. Das wichtigste Mittel ihrer Arbeit ist das von Augusto Baal begründete "Theater der Unterdrückten" (Theatre of the Oppressed), das - auf der Bühne, aber auch darüber hinaus - einen künstlerischen und demokratischen Raum für die Auseinandersetzung der Bevölkerung mit ihren Problemen bietet. Dabei wird Jana Sanskriti von rund 50 BürgerInnen-Interessenvertretungen, so genannten mass organisations, unterstützt.

Die meisten SchauspielerInnen von Jana Sanskriti - darunter Bauern und Bäuerinnen, Frauen, Unberührbare und SlumbewohnerInnen, ebenso Hindus wie MuslimInnen - waren von vornherein von gesellschaftspolitischen Diskussionen ausgeschlossen, hatten "nichts zu sagen". Mit Jana Sanskriti begannen die Menschen zu sprechen und zu handeln, eine kollektive Sprache zu entwickeln und ihre Realität aktiv zu gestalten. Um die zahlreichen aktiven SchauspielerInnen von Jana Sanskriti entstand auch ein weiteres breites Netzwerk von mehreren tausend MitarbeiterInnen.

Über die Theaterarbeit hinaus gründete Jana Sanskriti Menschenrechtskomitees und auch Schulen, um die in der Zusammenarbeit mit dem Publikum gefundenen Beschlüsse umzusetzen. Jana Sanskritis Engagement für soziale Veränderung mündet in einer kulturellen Bewegung, die weit über die normale Tätigkeit von politischer Theaterarbeit hinausreicht. Themen wie Alkoholismus, familiäre Gewalt, gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer, Menschenrechtsarbeit, Frauengesundheitsvorsorge, Korruption und das Recht der BürgerInnen auf Information werden vor den Augen aller und mit allen gemeinsam bearbeitet (durch Forumtheater-Aufführungen, an denen sich jede und jeder beteiligen kann), die gefundenen Handlungsvarianten und Lösungsvorschläge werden tatsächlich umgesetzt. Durch die Zusammenarbeit mit den erwähnten "mass organisations" wird Nachhaltigkeit gewährleistet.


BIRGIT FRITZ: Wie ist Ihr erster Eindruck von den Frauen in Europa?

SIMA GANGULY: Ich bin besorgt, allerdings weiß ich nicht, ob mein Eindruck der richtige ist. Mir scheinen die Frauen hier sehr unterdrückt, sie scheinen sich selbst und einander nicht besonders zu lieben. Hier in Europa sagen die Menschen: Das ist deine Trauer, dein Zimmer. Sie verstecken Dinge in sich, sie isolieren sich, sie beziehen die Dinge nur auf sich. "Dein Problem ist nicht mein Problem" - so etwas kann ich nicht sagen, es ist einfach nicht möglich. Die Menschen in Europa müssen einen Dialog beginnen. Es ist falsch, sich so alleine zu fühlen. Erst die gegenseitige Empathie macht uns menschlich.

In Beziehungen und bei Entscheidungen scheinen die Menschen hier nicht in einer politischen oder gesellschaftlichen Dimension zu denken, sondern sind immer nur auf sich bezogen. In Indien haben wir viele Probleme, aber wir haben eine politische Identität. Es gibt zwei Worte, die mir hier besonders wichtig sind: Anpassung und Kooperation. Der Kopf und das Herz müssen mit einander in Verbindung stehen. Unser Gespräch ist letztendlich nur möglich, weil du dein Englisch an mein Englisch anpasst, und wir auch mit dem Herzen verstehen. Weil wir beide es wollen und es uns wichtig ist, gelingt uns dieses Gespräch.

Als wir 2006 die "SpectActor Rally"(3) durchführten, fühlten sich die Frauen bei uns zu Hause. Sie kamen, weil sie offen und frei sprechen konnten, und das ist eine "Revolution", die sie sehr lustvoll und freudig erleben. Wir zwingen die Menschen zu nichts, nicht wie die politischen Parteien, wir machen auch keine Versprechungen. Heute kann ich sagen, dass viele Frauen, mit denen wir arbeiten, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Seit 1984 haben wir viel erreicht. In Indien heiratest du nicht einen Mann, wenn du heiratest, heiratest du eine ganze Familie. Aber im Gegensatz zu früher triffst du jetzt auch Entscheidungen. Vor einigen Jahren erfuhr ich während eines Aufenthalts in Frankreich, dass eine Frau von ihrem Mann ermordet worden war. Wie kann das hier geschehen? Bei diesem äußeren Grad der Emanzipation und Gleichberechtigung? Es fehlt die innere Revolution.

Weil ich keine Zeichen einer verheirateten Frau trug, fragte man mich: Bist du nicht verheiratet? Ist dein Schwiegervater tot? Hast du keine Schwiegermutter? Ich wurde eine Tochter, keine Schwiegertochter. Mein Schwiegervater, der sehr progressiv war, schlug vor, dass ich Theater machen sollte. Ich lehnte das damals ab und sagte: Das kann ich nicht. 1989/1990 fand das große Festival "300 Jahre Kolkata" statt. Jana Sanskriti machte eine Alternativperformance dazu, aber es fehlte ihnen eine Schauspielerin. Ich studierte die Rolle und trat auf, ich spielte gut. So begann ich mein neues Leben als Schauspielerin. Ich stamme aus einer konservativen, traditionellen westbengalischen Familie. Andere Frauen wollen nicht verheiratet sein, doch in meinem Fall öffneten mein Mann und sein Vater eine Tür für mich.

BIRGIT FRITZ: Was wünschen Sie sich von der Theaterarbeit von Jana Sanskriti?

SIMA GANGULY: Dass eines Tages alle Menschen einen Dialog miteinander führen können, die ganze Welt. Die "Theater-der-Unterdrückten"-Familie ist groß, vielleicht sind alle Menschen einmal frei genug, um ihr eigenes Selbst zu entdecken. Ich liebe es zu jokern. Weil ich dann zugleich eine Mediatorin, eine Zuschauerin, eine Schauspielerin und eine Aktivistin bin. Das "Theater der Unterdrückten" macht Platz für intellektuelle und spirituelle Entwicklung und ich beobachte, wie die Menschen dabei ihren Weg gehen. Wir leben alle unter einem Himmel, wir sind nicht so verschieden.

BIRGIT FRITZ: Wie erleben die Menschen die Theaterarbeit von Jana Sanskriti in ihrem Alltag?

BITI: Wir haben unser eigenes Dorf-Theaterteam, und jeder kann sehen, wie wir uns durch die Arbeit verändern. Da war ein Schauspieler in der Theatergruppe, der seine Frau regelmäßig schlug. Als er es wieder einmal tat, weil er beleidigt war, stoppte er ganz plötzlich und sagte: Das kann ich nicht mehr tun, das ist falsch! Wir lachten aus ganzem Herzen, als wir davon hörten. Unser wichtigstes Thema ist die Bildung. Die LehrerInnen bei uns unterrichten nicht, es gibt eine Menge Korruption. Die Regierung zahlt Geld für das Essen der SchülerInnen, die Schulen manipulieren die Zahlen. Wenn es z.B. 15 SchülerInnen gibt, sagen sie, es seien 80, und die Lehrer nehmen dann das Essensgeld oder das Essen, das zugeteilt wird. Wenn wir über diese Situation Forumtheaterstücke machen und sie in den Dörfern aufführen, dann haben wir Schreiber mit uns, die nach den Interventionen und Publikumsdiskussionen einen Bericht an den Unterrichtsminister verfassen und ihm diesen schicken.

Wir leiten auch selbst Schulen. Die Dorffrauen unterrichten und die Dorfgemeinschaft entscheidet, wer die Lehrerinnen sind. Wir verlangen fünf Rupees im Monat. Die Menschen bevorzugen unsere Schulen gegenüber den Regierungsschulen. Es ist Vorbereitungsniveau. Wir unterrichten den Rhythmus des Lebens, die alltäglichen Routinen, wir verwenden keine Bücher. Wir unterrichten, wie man lernt.


Anmerkungen
(1) Bezeichnung für die LeiterInnen von "Theater-der-Unterdrückten-Workshops und Forumtheater-Aufführungen, einer zentralen Methode des Theater-Konzepts.
(2) Übersetzt "People's culture" oder "Volkskultur".
(3) Siehe Frauensolidarität 1/2007.

Links:
www.janasanskriti.org
www.theatreoftheoppressed.org
www.tdu-wien.at

Zu den Autorinnen:
Sima Ganguly ist Gründungsmitglied und Hauptschauspielerin von Jana Sanskriti, dem weltweit größten indischen "Theater-der-Unterdrückten"-Netzwerk. Sie ist Ehefrau von Sanjoy Ganguly, der die Theaterbewegung nach außen vertritt und leitet.
Biti ist Schauspielerin und Aktivitstin bei Jana Sanskriti.
Birgit Fritz ist Lektorin für transkulturelle Theaterarbeit am Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien und Mitbegründerin des "Theater der Unterdrückten" in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 105, 3/2008, S. 30-31
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
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http://www.frauensolidaritaet.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2008