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FRAGEN/006: Zeitgeister am Fenster ... (Christiane Baumann)


"Kruso" von Lutz Seiler in Magdeburg

Christiane Baumann im Gespräch mit Dramaturgin Dagmar Borrmann über die Adaption des Romans "Kruso"

von Christiane Baumann, September 2015


Der Schriftsteller Lutz Seiler erhielt im Jahr 2014 für seinen Roman "Kruso" den Deutschen Buchpreis. Inzwischen gibt es nicht nur eine Hörspielfassung zum Roman, sondern eine Verfilmung ist in Vorbereitung und an mehreren Theatern sind Aufführungen geplant, so in Magdeburg, Potsdam und Gera. Während die Bühnenbearbeitung für Gera Petra Paschinger besorgt, stammt die Adaption für die Inszenierungen in Magdeburg und Potsdam von Dagmar Borrmann. Mit ihr kam Christiane Baumann vor der Magdeburger Uraufführung am 25. September 2015, die den Reigen der Dramatisierungen eröffnet, ins Gespräch.


Christiane Baumann (CB): Lutz Seilers Roman "Kruso" wurde mit Preisen überschüttet, von der Literaturkritik gefeiert, aber er ist alles andere als "leichte Kost". Wie ist es zu der Bühnenfassung gekommen oder anders gefragt: Warum muss der Roman unbedingt auf die Bühne?

Dagmar Borrmann (DB): Meine Adaption entstand im Auftrag des Magdeburger Theaters und für die Regisseurin Cornelia Crombholz. Wir waren von "Kruso" beide sofort fasziniert, weil es sehr wenige Stoffe gibt, die auf eine so besondere Weise von den letzten Monaten der DDR erzählen - fernab der gängigen Klischees, die sich inzwischen sowohl in der politischen Beurteilung wie auch in der künstlerischen Reflexion dieser Zeit eingenistet und verfestigt haben. Seiler erfindet mit der Gemeinschaft des Klausners auf Hiddensee ein spezielles Milieu und erzählt die Geschichte einer nicht alltäglichen Freundschaft. Der Zerfall der DDR vollzieht sich gleichsam als Hintergrund, der jedoch durch die Klausner-Welt eine neue und sehr individuelle Deutung erfährt. Aber der Roman eröffnet auch darüber hinaus einen großen Hallraum und lenkt den Blick auf existentielle Fragen der Gegenwart. Leider haben nur wenige Stücke der neuen Dramatik diese Qualität: eine interessante Geschichte zu erzählen und zugleich wesentliche gesellschaftliche und philosophische Fragestellungen aufzuwerfen.

CB: Es ist in den vergangenen Jahren beliebt geworden, Romane für die Bühne zu adaptieren. Ein prominenter Versuch war im Frühjahr erst wieder Günter Grass' "Blechtrommel", die am Hamburger Thalia-Theater zur Aufführung kam. Was hat Sie gereizt, aus diesem Roman, der Spiegel sprach vom "proletarischen Zauberberg", eine Bühnenfassung zu entwickeln?

DB: Das Adaptieren epischer Literatur gehört ja - wenn man etwa an Piscator denkt - schon seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den Praktiken, mit denen das Theater seinen Hunger nach guten Stoffen befriedigt. Insofern ist es gar nicht so neu, sondern heute eher eine Selbstverständlichkeit, dass neben Stücken auch szenische Fassungen von Romanen gespielt werden. Aber natürlich ist nicht jeder Roman gleichermaßen für die Bühne geeignet. Andererseits verfügen wir heute über viele Mittel wie etwa den Schnitt, die Montage oder den Wechsel zwischen epischem und dramatischem Erzählmodus, die auch "schwierigere" Stoffe für eine Adaption geeignet machen. Dennoch will ich nicht verhehlen, dass "Kruso" eine große Herausforderung für mich war. Das Buch enthält vergleichsweise wenige Dialoge und ist über lange Strecken nicht dramatisch. Erst im letzten Drittel überstürzen sich die Ereignisse. Es gibt auch keine klassische Gegenspieler-Konstellation, die einer dramatischen Form entgegen käme. Neben der notwendigen inhaltlichen Fokussierung stellten sich eine Fülle von dramaturgisch-handwerklichen Fragen: Wie kann man die Vielschichtigkeit des Romans in eine szenische Form transponieren und trotzdem eine stringente Fabel erzählen? Welche Entsprechungen findet man für die atmosphärischen Momente, die den Roman sehr stark prägen? Wie sind die surrealen Momente szenisch übersetzbar? Um ein Beispiel zu nennen: Im Buch wird ein toter Fuchs zu Eds intimem Vertrauten. Das ist auf dem Theater schwer darstellbar, ohne lächerlich zu sein. Zugleich ist es aber ein wichtiges Element, da Ed sich zunächst nur in der Kommunikation mit diesem Wesen wirklich öffnen kann. Ich habe den Fuchs schließlich in zwei Figuren aufgespalten: in den "Verrückten Jungen", das ist im Buch eine Episodenfigur, der in der Bühnenfassung zu einem stummen Vertrauten Eds wird und den emotionalen Aspekt des Fuchses übernimmt. Und zum anderen habe ich ein mephistophelisches Alter ego erfunden, das Ed piesackt und provoziert und ex negativo dazu beiträgt, dass er schließlich ein neues Selbst findet. Dieser "Andere" repräsentiert quasi den intellektuellen Aspekt des toten Fuchses.

CB: Die Literaturkritik hat den Roman zwar überaus gelobt, ihn jedoch unterschiedlich eingeordnet: als Robinsonade, als Wende-Roman, als ein "Stück Ostpoesie", als "Utopia in Seepferdchenform" oder als "Roman der Wahrheitssuche". Worauf legen Sie in der Bühnenfassung den Schwerpunkt?

DB: Vor allem hat uns die Idee der Freiheit interessiert, die Seiler anhand der Kruso-Figur entwickelt. Während sich das halbe Land aufmacht, um durch Reisemöglichkeiten und Konsum endlich seinen Traum von Freiheit zu leben, beharrt dieser Kruso darauf, dass die wahre Freiheit nur diejenige ist, die wir in uns selbst finden. Natürlich will das zu jener Zeit niemand hören; die Gemeinschaft des Klausners zerbricht, und mit ihr die Figur Kruso. Ed jedoch, dem Krusos Idee buchstäblich das Leben gerettet hat, übernimmt die Stafette - in der Gewissheit, dass die Freiheitsverheißungen der Warenwelt nur trügerische Seifenblasen sind und es bald neue "Schiffbrüchige" geben wird, die seiner Hilfe bedürfen.

CB: Lutz Seilers Roman lebt vom Assoziativen, von Gedankenfetzen, die sich in einer Art Bewusstseinsstrom verbinden und Vergangenheit und Gegenwart, Ort, Zeit und Identitäten verschwimmen lassen. Wie lässt sich das ohne Substanzverlust in bühnentaugliche Dialogstrukturen umsetzen?

DB: Ein Theaterabend hat ganz andere strukturelle, dynamische und wirkungsästhetische Gesetzmäßigkeiten als ein Roman. Insofern ist es ein inhaltlicher und dramaturgischer Transformationsprozess, der bei einer Adaption zwingend zu leisten ist. Zunächst muss man eine klare Entscheidung treffen, was man erzählen will. Was auch zwangsläufig heißt: Man muss weglassen und fokussieren. Dann gilt es eine Strukturidee zu entwickeln, die den Plot schlüssig erzählt, dynamische Wechsel vorsieht, die Figurenentwicklung plausibel transportiert, den Wechsel von Schauplätzen und Zeitebenen szenisch realisierbar macht usw. Das andere Medium erzwingt gleichsam eine Neugestaltung des Romanmaterials. Das Buch einfach nachbuchstabieren zu wollen, führt zwangsläufig in eine Sackgasse. Der wichtigste Aspekt jedoch ist: meine Adaption soll die Textgrundlage für einen Theaterabend sein. Erst im Zusammenwirken mit den anderen Elementen des Theaters - mit der Regie, dem Spiel der Schauspieler, dem Bühnenbild und den Atmosphären, die durch Licht, Musik und Geräusche entstehen - erlangt dieser Text seine "Vollständigkeit". Ich würde deshalb auch nicht von einem "Substanzverlust" gegenüber dem Roman sprechen, der möglicherweise eintreten könnte. Das Theater hat sinnliche Möglichkeiten, die dem Roman noch ganz andere Deutungen hinzufügen können, als es beim Lesen möglich ist. Insofern entsteht etwas Neues - und wenn man Glück hat, etwas ebenso Überzeugendes.

CB: Das Figurentableau des Romans ist anspruchsvoll, dennoch ist eine Bühnenfassung sowohl als Kammerstück als auch als Stück mit reicher Personnage vorstellbar. Wie ist Ihre Perspektive?

DB: Da gab es von vornherein konkrete Absprachen mit der Regisseurin Cornelia Crombholz. Wir hatten das Glück, uns in der Personenzahl nicht allzusehr einschränken zu müssen. So spielen neben Ed, Kruso und der Gemeinschaft des Klausners etwa auch die Toten eine Rolle.

CB: Der Roman lebt von einem dichten Geflecht aus intertextuellen Bezügen, angefangen von Defoes's "Robinson Crusoe" über Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." bis zu Texten von Hauptmann, Jahnn, Trakl, Rimbaud oder Castaneda, um nur einige zu nennen. Welche intertextuellen Bezüge waren für Sie wichtig?

DB: Ich habe diejenigen ausgewählt, die für die Entwicklung des Plots und die Figurenzeichnung wichtig sind. Um ein Beispiel zu nennen: Die tiefe Freundschaft zwischen Ed und Kruso entwickelt sich nicht zuletzt über ihre gemeinsame Liebe zu bestimmten Autoren, wie etwa Georg Trakl. So wird Trakls berühmtes Gedicht "Sonja" (Krusos tote Schwester heißt ebenso) zu einem Medium der Verständigung über ihren gemeinsamen Verlustschmerz. Auch eine Figur wie der kellnernde Philosoph Rimbaud wäre ärmer ohne Texte des Dichters, von dem er den Namen entliehen hat. Aber ich habe diese intertextuellen Bezüge eher sparsam eingesetzt, weil sonst leicht die Gefahr eines intellektuellen "Fußnoten-Theaters" entsteht, das nur für denjenigen verständlich ist, der die Anspielungen erkennt.

CB: Der Epilog wurde von Rezensenten vielfach als angepappt kritisiert. Welche Bedeutung hat der Epilog aus Ihrer Sicht und wie gehen Sie in der dramatischen Fassung mit ihm um?

DB: Der Epilog berührt zweifellos ein wichtiges Thema - die vergessenen Toten der Ostsee - und Ed emanzipiert sich hier endgültig aus Krusos Schatten, indem er nach diesen Toten forscht. Trotzdem war für mich von Anfang an klar, dass ich den Epilog nicht in die Adaption aufnehmen würde. Hier beginnt eine neue Geschichte und der ästhetische Bruch in der Erzählweise ist gravierend. Ich hatte größte Bedenken, dass mir die Geschichte zerfällt, wenn ich kurz vor Schluss des Stückes nochmal eine ganz neue Tür öffne. Wie gesagt: man muss sich entscheiden, was man erzählen will, und das geht nicht ohne entschlossenes Weglassen.

CB: Lutz Seilers Sprache hat Prägungen, die in seiner Kindheit und Jugend im thüringischen Uranbergbaugebiet wurzeln. Der Roman entwickelt eine ganz eigene, an naturalistische Ästhetik erinnernde Sprache. Wie setzen Sie diese, Seiler spricht von seiner "lexikalischen Poetik", in der Bühnenfassung um?

DB: Seilers Idiom ist mir sehr vertraut. Ich stamme aus Sachsen und aus einem ähnlichen sozialen Milieu wie er. Insofern musste ich mich beim Schreiben der Dialoge oft nur an den Tonfall und Duktus meiner Familie erinnern. Im Unterschied zu Seilers Buch geht es bei meiner Adaption aber nicht vorrangig um Literarizität. Mein Text muss in erster Linie Spiel und spannende szenische Situationen evozieren und den Schauspielern sprechbare und gestische Dialoge anbieten.

CB: Ein Autor muss ja ein solches Bühnenprojekt genehmigen. Wie hat Lutz Seiler auf das Ansinnen, den Roman zu theatralisieren reagiert? Gab es Bedingungen oder Abstimmungen für ein solches Vorhaben, wenn ja, welche?

DB: Seine Haltung war von vornherein sehr offen. Es gibt ja mehrere Theater, die den Stoff adaptieren und eigene Fassungen entwickeln. Ich habe den Eindruck, er ist neugierig auf diese verschiedenen "Abkömmlinge" seines Romans und will diese Aneignungsprozesse - der Stoff wird ja auch verfilmt - nicht durch Auflagen behindern. Insofern hat er auch keinerlei Bedingungen gestellt, sich aber natürlich ein Vetorecht vorbehalten, wenn eine Fassung von den Intentionen des Buches total abweichen sollte. Da ich ihn nicht persönlich kannte, war ich durchaus nicht sicher, wie er auf die inhaltlichen und sprachlichen Neuformungen in meiner Adaption reagieren würde. Interessanterweise lobte er sie aber gerade mit dem Argument, sie interpretiere und montiere seine Motive vollkommen neu und treffe gerade dadurch das Wesentliche des Romans.

CB: Potsdam wirbt mit einer "eigenen Bühneneinrichtung". Worin unterscheiden sich die Bühnenfassungen für Magdeburg und Potsdam, das "Kruso" im Januar aufführen wird?

DB: Ich habe mich gefreut, dass Potsdam meine Adaption nachspielen will, weil es eher üblich ist, dass sich jedes Theater seine eigene Fassung passgenau einrichtet. Ich kann auch noch nicht sagen, worin sich die Potsdamer Bühneneinrichtung von meinem Text unterscheidet, weil sie vom dortigen Regieteam entwickelt wird und noch nicht fertig ist. Zum Teil betrifft es ganz pragmatische Dinge. In Potsdam stehen zum Beispiel nicht so viele Schauspieler zur Verfügung. Ein wichtiger inhaltlicher Punkt ist jedoch, dass die Potsdamer den Epilog gern einbeziehen wollen. Wir hatten darüber eine lange Diskussion. Ich fand die Argumente durchaus seriös, sie haben aber meine Zweifel, ob dieser Bruch dramaturgisch funktionieren kann, nicht beseitigt. Insofern habe ich den Potsdamer Kollegen "grünes Licht" für eine eigene Bearbeitung gegeben und bin sehr gespannt darauf.

CB: Sieht man sich die Amazon-Kommentare von Lesern des Romans an, so ist da mehr Ablehnung als Zustimmung zu finden. Die Kommentare reichen von "langatmig und streckenweise esoterisch vermumpft" bis zur "Ästhetik des Spülwassers". Warum sollten sich "Kruso"-Leser aus Ihrer Sicht unbedingt Ihre Bühnenfassung ansehen?

DB: Ich kenne zum Glück auch ganz andere Reaktionen auf das Buch. Aber natürlich ist das nichts, was man in der S-Bahn mal so wegliest. Ich vermute, eine Schwierigkeit könnte für manche Leser sein, dass sich dieser Roman jeder eindeutigen Zuordnung entzieht. Nur wenn man sich auf seine Uneindeutigkeit einlässt, entwickelt er seinen Zauber. Und warum man sich die Bühnenfassung anschauen sollte? Weil sich möglicherweise die Lese-Schwierigkeiten in Schau-Lust verwandeln. Weil die Auseinandersetzung mit einer anderen Sicht auf den Roman spannend ist und die eigene Rezeption bereichert. Weil die Versinnlichung solch einer verrückten und versponnenen Welt wie der des Klausners durch das Theater von großem Reiz sein kann. Und weil das Changieren zwischen Realität und Traum und der selbstverständliche Dialog zwischen Lebenden und Toten die angestammte Domäne des Theaters ist.

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Quelle:
© 2015 by Dr. Christiane Baumann
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2015

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