Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → FAKTEN

INTERNATIONAL/007: Flüchtlinge machen Theater - wie kann das sein? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 122, 4/12

Flüchtlinge machen Theater - wie kann das sein?
Über die Kunst des Überlebens

Von Bettina Dobnig



Die kurdische Künstlerin Nigar Hasib überlebt nach dem zweiten Golfkrieg den Flüchtlingstreck aus dem Irak. Wie die Migration ihr Experimentaltheater verändert und über die Kunst als Dialog erfahren Sie im folgenden Beitrag.


Jänner 1991. Sirenengeheul zerreißt die Gemächlichkeit der frühen Morgenstunden in Sulaimaniyya, einer Großstadt im irakischen Teil von Kurdistan. In ihrem abgedunkelten Zimmer gehen Nigar Hasib und ihr Ehemann Shamal Amin hektisch das Notfallsprotokoll durch. Türen und Fenster sind mit Planen abgedichtet. Die Essensrationen, das Wasser, der Nachttopf, alles ist hergerichtet. Und die Gasmasken?

Anfang der Neunziger, in der Zeit während des zweiten Golfkriegs, fürchtet man einen Giftgasangriff. Von wem genau ist eigentlich nicht ganz klar: von der amerikanischen Armee, sagt das irakische Regime. Vielleicht aber auch von der irakischen Seite, um die kurdische Autonomiebewegung zu schwächen, fürchtet man in Sulaimaniyya. Waren nicht schon ein paar Jahre zuvor, gegen Ende des letzten Krieges im März 1988, Zigtausende KurdInnen beim Giftgasanschlag auf die Widerstandshochburg Halabdscha gestorben?

Eine Lage Stoff, eine Schicht Salz, darüber wieder Stoff, dann Kohle, nochmals Stoff, Salz, Stoff, Kohle. So bastelt man eine behelfsmäßige Gasmaske nach den offiziellen Angaben. Aber für unter Fünfjährige sei dieser Schutz Marke Eigenbau sowieso unbrauchbar, verlautbaren die Behörden. Nigar legt die selbstgemachten Masken bereit. Genug für die ganze Familie - für die Erwachsenen eben. Daneben bettet sie ihren fünf Monate alten Sohn.

Auch zwanzig Jahre später denkt sie manchmal an diese klammen Momente. Wie sie mit ihrem Mann und dem Kind im stockdunklen Zimmer sitzt, mit dieser Angstkälte in sich und der Winterkälte draußen und der Totenstille nach dem Sirenengeheul. Das unendliche Warten auf den Moment, wo sie den Atemschutz anlegt und ihren kleinen Sohn in den Armen wiegt. Ihr Kind. Ohne Maske. "Irgendwann, da sagte ich mir: Es ist zuviel. Ich habe diese Kraft nicht mehr." Nigar Hasib will nicht dabei zusehen, wie ihr Kind in ihren Armen stirbt. Sie hat doch schon einen Krieg überstanden, während ihrer Studienzeit an der Bagdader Theaterakademie. Der Iran griff an, und Kurden wie sie waren den Behörden suspekt. Wöchentlich gab es Verhöre durch die Geheimpolizei. Hätten sie ihre arabischen Professoren nicht beschützt, wäre Hasib damals leicht für immer verschwunden, wie so viele andere. Die Aufführungen ihres Experimentaltheaterensembles wurden von der Obrigkeit bespitzelt.

Wenige Monate nach den Flugzeugangriffen wird auch der zweite Golfkrieg beigelegt. Im südlichen und nördlichen Teil Iraks folgen Aufstände. Kurdistan ist frei, für den Moment jedenfalls. Aber wie lange? Die Bevölkerung fürchtet Saddams Vergeltungsmaßnahmen. Ein großer Flüchtlingstreck setzt sich in Marsch. Unter den drei Millionen befinden sich auch Hasib und ihre Familie. Eine Woche lang wandert sie zu Fuß durch die Berge Richtung Iran. Im Durcheinander verliert sie ihre Leute, läuft alleine weiter mit ihrem Baby. Aus Furcht vor vergifteten Brunnen trinkt sie nur Regenwasser, ohne gegessen zu haben, schafft sie es mit letzter Kraft auf die sichere Seite des Zagrosgebirges.


"Das ist meine Chance"

Zwei Tage nach Weihnachten 1991 findet die Kleinfamilie wieder zusammen, diesmal in Österreich. Sie hatten das Glück, mit einem Kontingent für 200 Kurden hier aufgenommen zu werden. Eine abenteuerliche, monatelange Flucht liegt hinter ihnen.

Kaum sind sie in ihrer Wiener Notunterkunft angekommen, beginnen sie schon mit den Proben für ihre erste Aufführung. Experimentaltheater, wie schon davor im Irak. Shamal Amin als Regisseur und Nigar Hasib als Schauspielerin. Weil das Geld nicht reicht, spazieren sie zu Fuß zum WUK im neunten Bezirk, wo sie das Stück entwickeln und einstudieren. Die Requisiten werden von Freunden zusammengeschnorrt. Die Uraufführung findet schon im Frühjahr 1992 statt, nur drei Monate nach der Ankunft in Österreich. Der kleine Sohn ist im Kinderwagen mit dabei, das Asylverfahren ist zu der Zeit immer noch anhängig.

"Unser Publikum hatte ein anderes Bild von uns. Und wir von ihnen. Zwei Fremde aus Kriegsgebieten machen Theater - wie kann das sein?", erzählt Hasib von ihren ersten Anfängen in Wien. Das österreichische Publikum schien skeptisch gegenüber den im Irak mit Preisen ausgezeichneten Künstlerinnen. "Aber warum nicht?", kontert Hasib. "Durch die Kunst treten wir miteinander in Dialog. Niemand ist besser oder schlechter. Wir sind einfach alle anders, und das ist gut. Nur durch Vielfältigkeit gibt es einen bunten Garten in der Welt."

Aus Überzeugung bleibt sie auch nach ihrer Migration dem Theater treu. "Diese Flucht, diese Heimatlosigkeit soll mich nicht von meinem Weg trennen", unterstreicht sie. Es kam für Hasib nie in Frage, in einem anderen Bereich zu arbeiten, um schnell Geld zu verdienen. Im Gegenteil, nach einem Deutschkurs beginnen die Eheleute an der Universität Wien Theaterwissenschaft und Anthropologie zu studieren. Der im Irak verbliebene Vater unterstützt ihr Vorhaben: "Gib nicht deine Träume auf", schreibt er. Hasib lebt mit dem Blick nach vorn. Sie stemmt alles auf einmal: Studium und Kind, Deutsch lernen und Flüchtlingsleben, Praktikum und arbeiten nebenbei.

Hasib gibt sich bescheiden: "Ich habe das nicht geplant, ich mache das einfach." Ihr Leben erlaubt kein wehmütiges Verweilen. Nur nicht daran denken, dass sie nur eine Stunde Zeit hat fürs Lesen und eine Stunde Zeit fürs Kind. "Und nur eine Stunde Zeit für Heimweh", fügt sie lachend hinzu. Nur nicht aufgeben. Wenn es nicht anders geht, nimmt sie den Kleinen in die Vorlesungen mit. Es geht weiter. Hasib schließt als Doktora ab.

Die Migration sieht sie als ihre Chance. In ihrer neuen Heimat kann sie neue Ausdrucksweisen verwenden, ohne Angst vor Zensur. Gerade in dieser schwierigen Anfangszeit, in der sie versucht, in Wien Fuß zu fassen, ist ihre Kunst für sie sehr wichtig. Auf der Bühne findet sie Ablenkung von ihrer angespannten Situation. In Tanz und Gesang drückt sie ihre Gefühle aus, und so kann sie ihr Schicksal besser verarbeiten. Am allerwichtigsten ist ihr der Kontakt mit dem Publikum: Hasib fühlt sich geschätzt.


Lalish - Licht und Leben

1998 ist es so weit: Sie eröffnet gemeinsam mit ihrem Mann in Wien ihr eigenes Theater. Mittels großer Bankkredite bauen sie einen alten Kinosaal im 18. Bezirk um. "Wir haben zwei Kriege überlebt", feixt sie, "dann wird uns die Bank auch nicht umbringen." Den Veranstaltungsort benennen sie Lalish, nach dem kurdischen Wort für Licht und Leben. Hier hat Hasibs künstlerische Ausdrucksform eine Bleibe gefunden. Wie in einem Entwicklungslabor erarbeitet sie ihre Performances. Nach langer Zeit der Unterdrückung kann sie sich Gehör verschaffen, und nun bekommt die Stimme in ihrer Kunst besonderes Gewicht.

Die Mitte des finsteren Probenraums beleuchtet ein gelblicher Spot. Seit ein paar Tagen arbeiten Hasib und Amin an ihrem neuen Stück. Zwei Sessel stehen einander gegenüber, daneben ein Gefäß mit Mehl. Über den Boden sind lange Metallnägel verteilt. Hasib tritt in schwarzer Kleidung auf, ihr Singsang erfüllt den Raum. In einer speziellen Kehlkopftechnik trägt sie eine erfundene Kunstsprache vor. Ihre Stimme bewegt sich, der Körper folgt nach.

Viele ihrer geflüchteten Kolleginnen haben in der Migration ihre Theaterarbeit aufgegeben. Nigar Hasib hat mit Löwenmut an ihrem Traum festgehalten. Wie hat sie das alles geschafft? "Nur nicht aufgeben. Einfach machen."(1)


ANMERKUNG:
(1) Das Lalish Theaterlabor wurde allein im Jahr 2012 mit drei internationalen Preisen prämiert. Im September beim 5. Al Toqus International Theatre Festival in Amman mit dem "Award for Best Voice and Ritual" und dem "Honor Award" für Theaterarbeit. Und im Juli beim 10. Internationalen Theaterfestival "Actor of Europe" in Prespa (Mazedonien) mit dem "Jaques Laccariere Award" für die Performance "No Shadow". Nähere Informationen: http://www.lalishtheater.org

HÖRTIPP:
"Die Reise des Experimentaltheaters. Bettina Dobnig im Gespräch mit der kurdischen Künstlerin Nigar Hasib." in der Sendereihe "Globale Dialoge" am 12. Feber 2013 zwischen 13:00 und 14:00 Uhr auf Radio Orange 94.0 (livestream www.o94.at) und danach jederzeit abrufbar auf www.noso.at

ZUR AUTORIN:
Bettina Dobnig veröffentlicht ihre Recherchen in freien Medien wie MALMOE und als Radioredakteurin bei Women On Air. Sie lebt in Wien.

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 122, 4/2012, S. 18-19
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2013