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BERICHT/015: Dancetheater Chang beim Simple Life Festival auf Kampnagel (SB)


Unterwegs zwischen den Grenzen von Liebe und Hass

von Julia Barthel


Am 12. November eröffnete der koreanische Choreograf und Tänzer Nam-Jin Kim das Simple Life Festival auf Kampnagel mit zwei sehr bewegenden Stücken. In "Story of B" und "Brother" lotet er jenen Spielraum zwischen Liebe und Hass aus, der zwischen zwei Menschen entsteht, wenn sie in einer engen Beziehung miteinander verbunden sind. Die erste Geschichte ist auf der Straße angesiedelt, wo sich eine junge Frau und ein Mann neben einer Bettelschale und einem ärmlichen Lager aus nicht näher definierten Gegenständen begegnen.

Flyer des Simple Life Festivals

© 2010 by Schattenblick

Die trostlose Szenerie ist in schattenhaften Grautönen gezeichnet, als sei ein Hauch von Asche über der Bühne niedergegangen. So wird die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf die Bewegungen der beiden Darsteller gelenkt. Die junge Frau ist hingebungsvoll darin vertieft, halb kriechend mit einem Stückchen Kreide den Boden zu bekritzeln, während der Mann ganz mit seiner Fortbewegung beschäftigt zu sein scheint. Nam-Jin Kim verzichtet dabei bewußt auf die allseits beliebten, harmonisch fließenden Bewegungsabläufe und jene spielerische Leichtigkeit, mit der die meisten Tanzstücke den Zuschauer unterhalten. Er verkörpert den jungen Mann als eine Gestalt, für die kein einziger Schritt leicht zu bewerkstelligen ist. Mühsam zieht er seine Füße vom Oberkörper aus hinter sich her, die schwer wie Blei zu sein scheinen, niemals gelingt der Wechsel von A nach B, ohne daß ein Teil seines Körpers streikt und sich widersetzt. Er humpelt und kriecht vorwärts, nach jedem Aufbau folgt ein harter Sturz auf den Boden, bei dem Rücken oder Beine der Länge nach geräuschvoll hinschlagen. Was dort auf der Bühne passiert, entspricht überhaupt nicht den Erwartungen des Publikums, das bei Tänzern einen sicheren Tritt und gekonnte Figuren zu sehen gewohnt ist.

Dieser Bruch mit unserer westlichen Auffassung von Ästhetik ist gewollt. Man erkennt darin den harten, kompromißlosen Stil des Butoh wieder, einer zeitgenössischen Form des japanischen Tanzes. Mit Hilfe dieser brutal wirkenden Körpersprache gelingt es Nam-Jin Kim, den Schmerz des Protagonisten in den Zuschauerraum zu transportieren. Nach manchem Aufprall geht ein Raunen durch die Reihen und man ist wie gebannt von dem Zusammentreffen der beiden Tänzer auf der kargen Bühne. Zunächst tasten sich die beiden vorsichtig aneinander heran, umgarnen sich und sind im Duett wie durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden. Doch es dauert nicht lange, bis zwischen den beiden ein Kampf um die Kontrolle entbrennt. Der Mann übernimmt die dominante Rolle in der Beziehung, er reißt die Frau an sich, schleudert sie wie eine willenlose Puppe durch die Gegend und behandelt sie wie einen Gegenstand. Sie wehrt sich ihrerseits mit den Mitteln der Gewalt, bis diese beiden Menschen, die eigentlich in Liebe verbunden sein könnten, nur noch aneinander reißen und zerren. Zwischendurch flammt ein wenig Hoffnung auf, doch sie endet immer wieder in Enttäuschung. In diesen seltenen Momenten versucht einer den anderen an der Hand zu fassen und eine Verbindung herzustellen, doch der Griff geht immer ins Leere, weil ein Partner am anderen vorbei gleitet.

Oft bricht die Verbindung zwischen den beiden ganz ab und sie entfernen sich voneinander. Die junge Frau nimmt jedoch immer wieder Kontakt zu dem Mann auf. Auf der Bühne entfaltet die Tänzerin dabei eine außergewöhnliche Präsenz, indem sie sich bei den zaghaften Annäherungen von ihren Fingerspitzen führen läßt wie ein zartes Insekt. Während der gesamten Aufführung sind diese Finger ständig in Bewegung und dienen der Frau als hoch empfindliches Tastinstrument, das sie mit der Welt verbindet. Sie krabbelt damit immer aufs Neue zwischen den Beinen des Mannes hindurch, zugleich unverwüstlich und fragil. Wer öfter einmal japanische Animes gesehen hat, fühlt sich unwillkürlich an die besondere asiatische Bildsprache erinnert, wie sie beispielsweise in dem Film "Nausicaä aus dem Tal der Winde" auftaucht, wo fremde Insektenwesen über feine, tastende Tentakel mit der Umwelt Kontakt aufnehmen.

Es liegt ein besonderer Zauber in dieser Form von Kommunikation, die ganz ohne Worte auskommt. In dem Stück "Story of B" kommt die Sprache des Körpers so vollständig zum Einsatz, daß es gelingt, nicht nur das Wort zu ersetzen, sondern sogar in Bereiche vorzustoßen, die oft jenseits unserer verbalen Ausdrucksfähigkeit liegen. Nam-Jin Kim und seine Partnerin übertragen durch einen unglaublichen Körpereinsatz sämtliche schmerzvollen Gefühlslagen, die in einer engen Beziehung zwischen Mann und Frau vorkommen. Liebe, Dominanz, Unterordnung, Hilflosigkeit und Einsamkeit, es werden all jene Dinge angesprochen, die sich im Grenzbereich zwischen Liebe und Hass abspielen und über die man so selten spricht. Die Beziehung auf der Bühne endet tragisch und in einem schmerzlichen Abschied der beiden Liebenden. Auch dieses Ende, bei dem die Frau in einem Lichtstrahl davonschreitet und den Mann einsam zurückläßt, kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Obgleich das letzte Bild ein Inbegriff asiatischer Ästhetik ist, macht erst der Verzicht auf Schönfärberei und ein Happy End das Stück zu einer gnadenlos ehrlichen, absolut sehenswerten Arbeit über die Randbereiche des menschlichen Daseins.

Szenefoto aus Brother - © 2010 Kim Goon

Szenefoto aus "Brother"
© 2010 Kim Goon

Weniger metaphorisch, aber dafür genauso schonungslos geht es in dem Stück "Brother" zur Sache. Darin holt Nam-Jin Kim einen höchst persönlichen Teil seiner eigenen Geschichte aus dem Dunkel der Vergangenheit ins helle Rampenlicht. Es handelt sich dabei jedoch um jene finsteren Gedanken und Emotionen, die man normalerweise lieber im Schatten vergangener Tage versteckt hält. Die Rede ist hier von der Diskriminierung behinderter Menschen, von der Ablehnung des Schwachen und der Wut auf jene Personen, die unsere geeichte Vorstellung vom erfolgreichen Leben allein durch ihr Dasein täglich widerlegen. Wie so viele andere Leute auf der Welt hat auch Nam-Jin Kim diese Gefühle durchlebt und den Widerspruch zwischen krank und gesund, normal und atypisch erlitten. Sein eigener Bruder kam mit einem Herzfehler zur Welt, der ihn zum Behinderten machte. In der koreanischen Gesellschaft bedeutet das lebenslange Ausgrenzung, denn anders als in Europa fürchtet man sich dort vor Menschen, die nicht der Norm entsprechen, wie vor einer ansteckenden Krankheit. Kinder sind meist bis zu einem gewissen Alter unvoreingenommen und bewerten andere nicht nach den strengen Maßstäben der Erwachsenen. So wurden auch Nam-Jin Kim und sein Bruder Sung Gook in großer emotionaler Nähe groß, bis der gesunde Bruder den Druck der Öffentlichkeit zu spüren begann. Das abschätzige Verhalten der Mitmenschen brachte den jungen Tänzer dazu, seinen Bruder als Belastung wahrzunehmen und ihm seine Liebe zu entziehen.

Auf der Bühne inszeniert Nam-Jin Kim diese dramatische Entwicklung gemeinsam mit dem spastisch gelähmten Performer Sung kuk Kang, der die Rolle des behinderten Bruders übernimmt. Zu Beginn erleben die Zuschauer eine rührende Szene, in der die enge Verbundenheit des Geschwisterpaares zum Ausdruck kommt. Beide sitzen einander gegenüber auf dem Boden, wobei ihre Füße sich berühren, als wären sie miteinander verwachsen. Der gesunde Bruder beginnt damit, seine Kleidung anzuziehen und kleidet dabei wie selbstverständlich auch sein Gegenüber mit ein. Bevor er sich selbst die Socken über die Füße zieht, tut er dies bei dem anderen. Untermalt wird das harmonische Bild größter Innigkeit von den wundervollen Klängen eines asiatischen Saiteninstruments, das ein paar Meter weiter live auf der Bühne gespielt wird. Zu den raumfüllenden Tönen der Musik gesellt sich ein melancholischer Gesang, scheinbar einfach, aber doch wirkungsvoll genug, um alle Sinne auf die Erzählung einzustimmen. Die wahre Magie aber findet zwischen den beiden Darstellern statt, die in dem einfachen Prozess des Anlegens von Kleidung vollkommen der Welt entrückt werden. Ihre simplen Handgriffe werden auf eine Weise ausgeführt, als gäbe es nichts anderes im Universum zu tun. So entsteht eine beinahe meditative Situation, in der die Brüder wie eine Einheit erscheinen, die vom selben Geist beseelt ist. Gleichzeitig ruft diese besondere Achtsamkeit im Umgang miteinander beim Zuschauer ein lang verschüttetes Gefühl hervor, eine Erinnerung an jene Momente, in denen er mit dem eigenen Bruder oder der Schwester genau diese Art von Vertrautheit geteilt hat. Wieder glückt es Nam-Jin Kim, ohne ein einziges Wort, etwas in mir anzusprechen, das so empfindlich ist, daß es bei jedem lauten Ton sofort wieder verschwunden wäre.

Inzwischen sind die beiden Darsteller vorn auf der Bühne im Aufstehen begriffen und Nam-Jin Kim knotet sich ein Seil um die Hüften, das ihn mit seinem hilfsbedürftigen Bruder verbindet. Schon nach den ersten Schritten wird klar, daß diese Verbindung zugleich Nabelschnur und Leine ist. Im weiteren Verlauf des Stückes jedoch wird das Band immer mehr zur Leine, an welcher der gesunde, kräftige Tänzer seinen Schutzbefohlenen hinter sich her schleift wie ein Tier. Während Sun Gook ganz im Spiel mit einem Plüschhasen versunken ist, driftet Nam-Jin Kim immer weiter von ihm fort zu den Reizen der realen Welt hin. Der junge, agile Tänzer findet eine Kamera und fängt an, die äußerlichen Dinge um sich herum abzufilmen. Schon bald vergißt er den traumversunkenen Bruder am anderen Ende der Leine. Über all dem hängt das Klagelied der Sängerin und hindurch schießen die schneller werdenden, schwingenden Töne der Musik am Rande des Spielfeldes.

Mit den Saiten des Instruments schwingt auch der ganze Körper des spastisch gelähmten Sung kuk Kang. Ein unaufhörliches Zittern und Schwanken außerhalb seiner Kontrolle versetzt den Darsteller in ständige Bewegung, die er auf brilliante Weise in sein Spiel einzubeziehen versteht. Nam-Jin Kim und sein Partner liefern hier eine Zusammenarbeit auf höchstem Niveau ab, verstehen und ergänzen sich blind, als hingen sie an den Strippen ein und desselben Puppenspielers. Bei dieser faszinierenden körperlichen Leistung schmelzen die Unterschiede zwischen gesund und behindert von selbst wie Eis in der Sonne. Über all den Eindrücken bemerkt man auch erst spät ein weiteres Stilmittel, das dem Stück beinahe die Qualität eines Films verleiht. Mittels einer Leinwand hinter den Darstellern werden schwarzweiß Aufnahmen aus der Kindheit von Nam-Jin Kim gezeigt, auf denen er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder zu sehen ist. Auf der Bühne kommt der Tänzer recht bald an einen Punkt, an dem ihm der behinderte Gefährte an der Verbindungsschnur zur Last wird. Es genügt nicht mehr, diese Person, die in einer ganz eigenen Wirklichkeit zu leben scheint, einfach nur mitzureißen und zu schleppen wie ein willenloses Objekt. Nam-Jins Gleichgültigkeit schlägt in Haß um, der so lange wächst, bis er einen Haufen Steine nimmt und Sun Gook mit einem lauten Getöse darunter begräbt.

Die Lautstärke der punktgenau eingesetzten Requisite ist erschreckend und symbolisiert wohl den Höhepunkt der Wut eines Jugendlichen, der sich ungerechterweise an ein schwächeres Familienmitglied gekettet sieht. Vor und nach diesem Wendepunkt gibt es jedoch einige Längen in dem Stück. Der ästhetisch höchst wirkungsvolle Gebrauch ergänzender Komponenten wie der Musik oder der Fotos ist sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche der zweiten Inszenierung dieses Abends. Neben der gelungenen Erweiterung des Schauspiels zu einer filmischen Breite verhindern die zusätzlichen Sinnesreize jene konzentrierte Wahrnehmung der dargestellten Gefühle, wie sie im ersten Stück durch die Beschränkung auf eine reizarme Umgebung möglich wurde. Davon abgesehen schleichen sich bei "Brother" auch einige Wiederholungen und Längen ins Spiel ein, die im Vergleich zu "Story of B" zu routiniert daherkommen.

Nach dem Versuch, den behinderten Bruder irgendwie auszulöschen, stellt sich heraus, daß selbst der drastische Einsatz von schweren Steinen nicht reicht, um die tief verwurzelte Verbindung zueinander zu kappen. Sun Gook kriecht unter den schweren Brocken hervor und fällt seinem Bruder immer wieder vor die Füße. Nam-Jin Kim sieht sich gezwungen, das Band zwischen sich und dem anderen endgültig durchzuschneiden. Er tut dies in großer Geste mit einer Schere und das Hintergrundfoto von Nam-Jin und Sun Gook geht in Flammen auf. Endlich von dem ständigen Zerren seines älteren Bruders gelöst, kann auch Sun Gook sich eigenständig bewegen. Auch er ist wütend auf seinen Gefährten, dem er von Geburt an verbunden war. Als die beiden sich das erste Mal auf Augenhöhe begegnen, kommt es zur körperlichen Auseinandersetzung. Sie schubsen und schlagen sich gegenseitig und machen so der lange aufgestauten Wut Luft. Durch diesen Streit werden aber auch die vordem in Stein gemeißelten Gesetze ihres Zusammenseins aufgehoben. Plötzlich ist der eine nicht weniger oder mehr wert als der andere. Beide sind voneinander unabhängige Persönlichkeiten, die nun frei entscheiden können, ob sie miteinander zu tun haben wollen oder nicht. Schließlich kommt es zu einer knappen, aber herzerwärmenden Versöhnungsszene zwischen den beiden, die ohne jeden Kitsch auf den Punkt genau das Ende der Inszenierung bildet.

Ganz nebenbei ist es Nam-Jin Kim mit diesem Stück geglückt, auch ein sehr universelles Problem in einer wunderschönen Erzählung zu behandeln, nämlich jene Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, der sich jedes Geschwisterpaar irgendwann im Leben stellen muß. Im wahren Leben wie auf der Bühne gelang es ihm, den Widerspruch zwischen stark und schwach, gesund und behindert, innerer Lebenswirklichkeit und äußerer Realität durch die Aussöhnung mit seinem Bruder zur Strecke zu bringen.

15. November 2010