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BERICHT/018: Pippo Delbono bringt mit "Guerra" die Bühne auf Kampnagel zum Kochen (SB)


Ein flammendes Plädoyer für den Frieden

von Julia Barthel


Der Italiener Pippo Delbono zählt seit Jahren zu den radikalsten und aufregendsten Theatermachern der Welt. Einer großen Fangemeinde rund um den Globus ist er als strahlender Stern am Himmel des dokumentarischen Theaters bekannt. Der Ausnahmekünstler ist unter anderem Preisträger des "Premio Europa für neue Theaterrealitäten" und neben seiner Arbeit als Theaterregisseur und Schauspieler auch berühmt für seine filmischen Werke. So konnte er für eine Hauptrolle seines Films "I am Love" sogar die Hollywood Größe und Independent Muse Tilda Swinton gewinnen. Neben unzähligen anderen Produktionen brachte er 1997 mit "Barboni" (Clochard) und 2004 mit "Urlo" (Schrei) Werke über das Leiden von Randständigen und die Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft auf die Bühne. Der größte Teil von Delbonos Arbeiten dreht sich um sozialkritische Themen und sie sind berüchtigt dafür, zu polarisieren. Seit den 80er Jahren gestaltet der bekennende Buddhist seine Stücke mit einer eigenen Kompanie, die neben professionellen Schauspielern zu großen Teilen aus ehemaligen Obdachlosen, früheren Patienten der Psychiatrie und Menschen mit einer Behinderung wie z.B. dem Down Syndrom besteht. Mit diesem Ensemble und dem Stück "Guerra" (Krieg) bestritt Pippo Delbono am 19. und 20. November das furiose Finale des Simple Life Festivals auf Kampnagel.

Der Regisseur Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

Der Regisseur Pippo Delbono
© 2010 by Schattenblick

Bedenkt man, daß sich die Leute in vielen europäischen Hauptstädten ein Bein ausreißen, um an Karten für eine Vorstellung der Compagnia Pippo Delbono zu kommen, so war das Publikum bei der zweiten Aufführung von "Guerra" am Samstagabend doch erstaunlich klein. Andererseits handelte es sich dabei auch um eine illustre Gesellschaft aus Individualisten, eingefleischten Fans und unkonventionellen Charakteren, wie man sie im Theater eher selten antrifft. Wie sich herausstellte, sprachen manche unter ihnen sogar italienisch und konnten so dem leidenschaftlichen Redefluß von Pippo Delbono auf der Bühne direkt folgen, ohne auf die Untertitel angewiesen zu sein, mit denen die Vorstellung für alle anderen verständlich gemacht wurde. Wie auch bei anderen Auftritten seiner Compagnia, ist Delbono nicht nur der Regisseur, sondern spielt eine tragende Rolle im Stück. Von größter Bedeutung ist dabei das gesprochene Wort, denn wie es dem dokumentarischen Theater geziemt, werden auch in "Guerra" wahre Geschichten erzählt.

Ohne jeden Aufwand steigt Delbono sogleich in das Thema ein, dem dieser Abend gewidmet ist. Es geht um das grausame Gesicht des Krieges und dieses wird beschrieben durch ein Gespräch mit einem Überlebenden. Langsam, bedacht und schlicht, aber mit großer Wirkung wird ein Dialog entfaltet, der sich durch Aussagen wie diese im Kopf des Zuschauers einbrennt: In Sarajevo traf ich einen jungen Mann, der eine Belagerung miterlebt hatte. Er sagte zu mir: Ich sah Knochen zersplittern wie Eisen, ich sah Kinder mit abgeschlagenen Köpfen und ich sah, wie Menschen zu Ungeheuern wurden... . In solchen und vielen weiteren Worten gibt Delbono ein Gespräch mit dem Opfer eines Krieges wieder, den die meisten Europäer längst vergessen, verdrängt und innerlich zu den Akten gelegt haben, obwohl er nur wenige Jahre her ist. Die Ausführung wirkt wie eine emotionale Nahaufnahme jener Schrecken, die ein Mensch erlebt, dessen Welt in Stücke gesprengt wird, und die Sprache erweist sich hier als mächtiger als jedes Fernsehbild. Es gelingt Pippo Delbono allein durch die Modulation seiner Stimme, unendliche Trauer und die Desillusionierung über das menschliche Wesen zu vermitteln, die der junge Mann durch den Krieg erleiden mußte.

Großen Einfluß auf die Stimmung im Raum hatte in diesem besonderen Fall aber auch das Publikum selbst. Bei den ersten Worten von Delbono legt sich ein ernstes und beredtes Schweigen über den Raum. Man spürt deutlich die Übereinkunft aller Anwesenden darüber, als welch in höchstem Maße inakzeptable Grausamkeit sie den Krieg betrachten. Es liegt ein gespanntes Lauschen in der Luft und ein stilles Zwiegespräch zwischen dem Herzen von Pippo Delbono und den Herzen des Publikums. Solche Momente sind sehr selten, denn sie lassen sich nicht vorhersehen, geschweige denn künstlich hervorrufen.

In der gleichen, intensiven Weise erzählt der Regisseur von einer wundersamen Begegnung in Indien, wo er auf eine Gruppe von Menschen traf, die keiner Kaste, keiner Klasse oder gesellschaftlichen Schicht angehören. Die Rede ist von einem ungezähmten Clan, einer rebellischen Truppe von Außenseitern, die sich jeglichen Gesetzen und Regeln widersetzen. Ihre einzige Religion ist die Bewegung, denn sie lieben es zu tanzen. Über diese Anekdote steigt Pippo Delbono selbst in einen wilden Tanz ein und in einem wüsten Reigen schließen sich auch andere Darsteller an. Begleitet wird das ungezügelte Spektakel durch ein urtümliches, martialisches Krähen und Schreien des taubstummen Bobò, der hinter einem Mikrophon hemmungslos von seiner unzivilisierten Stimme Gebrauch macht. Damit verkörpert er perfekt eben jene elementare Wildheit, wie Delbono sie den gesetzlosen Indern zuschreibt. Diese unverfälschte Ausdrucksform, mit der ein Mensch sein Innerstes nach außen kehrt und dabei die Ketten der Zivilisation für kurze Zeit sprengt, fegt über das Publikum hinweg wie eine Schockwelle. Daran ändert auch die musikalische Begleitung nichts.

Es ist sicherlich einer jener markerschütternden Momente, für die das Ensemble berüchtigt ist, in denen einige Zuschauer beschließen, den Saal zu verlassen. Spätestens jetzt werden auch alle Besucher entlarvt, die hinter der Maske der Toleranz nur ihre Angst vor Andersartigkeit verbergen. Man muß allerdings der Gerechtigkeit halber auch sagen, daß es wohl den meisten, die das erste Mal ein Stück von Delbono sehen, schwer fällt bei diesem unerwarteten Auftreten die Contenance zu wahren. Rücksichtslos wird hier die sorgfältig abgesteckte Grenze der eigenen Erwartungshaltung überschritten, und eine äußerst rauhe Version der Wirklichkeit dringt in den sonst so zuverlässigen Sicherheitsbereich des Zuschauers ein. Es ist ein kritischer Punkt, an dem Pippo Delbono gezielt den weichen Vorhang aus Kunst und Schein niederreißt und nur, wer es wagt, zu bleiben, kann die befreiende Wirkung dieser kühnen Handlung genießen.

Bobò und Gianluca Ballarè - © Jean-Louis Fernandez

Bobò und Gianluca Ballarè
© Jean-Louis Fernandez

Von hier aus entwickelt sich eine Reihe anarchistischer Auftritte, in denen ein Mann mit Down Syndrom eine verschrobene und sehr komische Karaokeshow zum Besten gibt, die eine augenzwinkernde Anleihe auf das beliebte japanische Freizeitvergnügen ist. Der ehemalige Obdachlose Nelson Lariccia erzählt, wie er im fernen Amerika im geselligen Beisammensein mit Freunden seine eigenen Songs vorgetragen hat und bietet den Zuschauern sogleich eine überaus eigenwillige Performance in schrägen Tönen dar. Zwar handelt es sich hierbei um sorgfältig einstudierte Showeinlagen, doch die Darsteller folgen weiter dem aufrührerischen Impuls, sich mit ihrer Kunst unabhängig von ästhetischen Spielregeln einfach auszuleben. Pippo Delbono läßt seine Protagonisten ganz nach ihren jeweiligen Fähigkeiten agieren und verzichtet auf jede artifizielle Verbrämung ihres Tuns. Jeder von ihnen bringt seine eigene Lebensgeschichte mit auf die Bühne. Sie hängt in den abgerissenen Klamotten des ehemaligen Obdachlosen Nelson und findet sich in der hintersinnigen, ironischen Performance des vom Down Syndrom gezeichneten Gianluca, dessen Blick die Zuschauer hin und wieder bis auf den Grund durchleuchtet. Noch während man den besorgniserregend ausgemergelten Körper von Nelson betrachtet und sich fragt, ob soviel Authentizität gut für das eigene Seelenheil ist, wird man kurzerhand mit all den Personen auf Augenhöhe gebracht, von denen man sich auf der Straße hastig abwendet. Vom Leben deutlich mitgenommen, mit verkrüppelten Beinen und verformten, nonkonformen Körpern wandern sie über die Bühne. Hinter sich her ziehen sie eine Vergangenheit, die es nicht gut mit ihnen gemeint hat. Ebenso wie der taubstumme Bobò verkörpern sie die grausamen und finsteren Facetten des Daseins, weigern sich jedoch, ihre Existenz deshalb unsichtbar zu machen oder sich in die Schatten des gesellschaftlichen Abseits zu verkriechen. Hier imitiert die Kunst nicht das Leben, sondern das Leben entert die Bühne.

Dennoch droht in diesem Abschnitt der rote Faden des Stückes irgendwann zu reißen. Trotz der bestechenden Echtheit des Schauspiels fragt man sich manchmal als Zuschauer nach dem inneren Zusammenhang zwischen der losen Szenenfolge und dem großen Thema der Inszenierung. Vermutlich ist auch dies von Pippo Delbono so gewollt, ergibt sich doch daraus eine weitere Möglichkeit, mit der Erwartungshaltung des Publikums Katz und Maus zu spielen.

Wenig später greift Delbono die losen Enden wieder auf, bringt sich mit Macht wieder ins Spiel ein, indem er eine existentielle Frage in den Raum stellt, die sinngemäß lautet: "Als ich auf Kuba war, habe ich mich gefragt, wie es sein kann, daß manche Menschen auf der Welt alles haben und andere überhaupt nichts." So simpel die Formulierung auch klingt, die Art, wie Delbono sie vorträgt, läßt erahnen, daß diese Ungerechtigkeit, dieser Widerspruch letztlich der Keim aller Kriege sein muß. Wieder durchflutet ein stilles Einvernehmen den Saal. Was in den Schulen und in den meisten Elternhäusern der wohlgenährten ersten Welt längst ein Tabuthema geworden ist, wird hier in aller Selbstverständlichkeit ausgesprochen, nämlich, daß es so lange, wie ein Teil der Menschheit sich satt essen kann, während der andere Teil elendig hungern muß, auch Krieg auf der Welt geben wird. Punkt. Die Stimmung im Raum ist ernst und nachdenklich und Delbonos Absichten sind von reiner Unterhaltung so weit entfernt wie der Pluto von der Erde. Dann haut Pippo Delbono das nächste Tabuthema auf den Tisch, indem er in etwa sagt: "Ich fand ein Zitat von Che Guevara, das lautete: 'Eine große Revolution kann nur aus großer Liebe entstehen.'" Wer jedoch darin einen versöhnlichen Ansatz vermutet, hat sich geschnitten. In dem nun folgenden Drama zeigt Delbono auf, daß eine Revolution der Gewalt nichts anderes ist, als ein Krieg.

Szene aus dem revolutionären Aufstand - © Jean-Louis Fernandez

Szene aus dem revolutionären Aufstand
© Jean-Louis Fernandez

Nach und nach entsteht auf der Bühne ein bewegtes Bild vom Leben reicher Leute. Rote Plüschsessel und eine Vase voller Blumen bilden den Schauplatz für den Alltag der feinen Gesellschaft. Zu sehen sind eine menschliche weiße Statue in klassischer Pose, eine exzentrische, dürre Dame in absolut alltagsuntauglichem Abenddress mit Zigarette und ein hektischer Mann im langen, adretten Mantel mit Arbeitskoffer. Ergänzt wird die Aufstellung durch einen Butler, ein putzendes Dienstmädchen und eine Schülerin im Faltenrock. Ihre aufwendige Aufmachung und das vornehme Gehabe werden zur Satire über ihre Schicht, weil sie mit leeren Gesichtern in stereotypen Bewegungsabläufen gefangen sind und sich damit selbst ins Lächerliche ziehen. Trotz der ständigen Wiederholung leben sie jedoch in einer scheinbar ungetrübten Idylle.

Dann beginnt Pippo Delbono langsam und ruhig etwas zu zitieren, das er als das Wort Buddhas benennt. Darin wird das Land von der Pest heimgesucht, Leichenberge türmen sich am Wegesrand auf, die Ernten verdorren, die Menschen verhungern, es kämpft Bruder gegen Bruder, die Tiere auf den Feldern sterben und alles gerät ins Wanken. Er beschwört das unvermeidliche Gegenteil der vom Menschen als friedlich empfundenen Ordnung herauf, läßt es blitzen, stürmen und schwarze Wolken aufziehen. Wort für Wort manifestiert sich vor dem inneren Auge des Zuschauers der Konflikt zwischen Elend und Reichtum als Quell der Vernichtung. Schon die Frage nach dem Warum im Vorfeld, vorgetragen in solch bekümmerter, gedankenschwerer Art und dabei bis in die kleinsten Ausläufer jedes einzelnen Wortes akzentuiert und somit unabweislich, hat die Abwehrmechanismen des Verstandes aufgeweicht. Nun sind die Gefühle des Publikums an der Macht und rühren wohl den einen oder andern zu Tränen.

Während man noch atemlos wie ein Kind an den Lippen des Erzählers Delbono hängt und auf ein gutes Ende hofft, wird die kleine, heile Welt auf der Bühne von Eindringlingen zerstört. Pippo Delbono steigert sich in ein lautes Schreien und Wehklagen hinein, beschwört Feuer auf Himmel und Erde herab, zehntausend glühende Sonnen, roten und grünen Regen, kurz, das Chaos. Gleichzeitig stürmen Soldaten mit Gewehren und die Ausgestoßenen der Gesellschaft die Bühne, wo sie die Sphäre der Reichen in Schutt und Asche legen. Es wird gemordet und gewütet, bis nur noch Brand und Tote übrig bleiben. Die Darsteller überzeugen wieder einmal durch ihre unglaubliche Ernsthaftigkeit und Authentizität, mit der sie in beklemmender Weise Mörder, Gewalttäter und rasende Außenseiter mimen. Man kauft ihnen den Zorn und die Zerstörungswut ab. Am Ende des Stückes "Guerra" hat man das Gefühl, nicht im Theater gewesen zu sein, sondern eine Schlacht ausgefochten zu haben. Zurück bleibt eine Art Schockzustand, als wäre man gerade von einem Zug überrollt worden und man kann kaum der widerstreitenden Emotionen in seinem Innern Herr werden. Pippo Delbono ist tatsächlich in der Lage, seine Zuschauer nachhaltig zum Nachdenken zu bringen. "Guerra" geht im wahrsten Sinnes des Wortes unter die Haut, es ist eine Grenzerfahrung und ein Stoff, der süchtig macht.

23. November 2010