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BERICHT/041: Altes Stück - neu erzählt, Hänsel und Gretel bei den Komödianten (SB)


Theaterpremiere von Hänsel und Gretel
Die Komödianten am 2. Dezember 2012 in Kiel



Die Ankündigung der Premiere von Hänsel und Gretel im Theater "Die Komödianten" in Kiel, bekannt als Volksmärchen mit alter Tradition, erregt nicht gleich den Verdacht eines Kulturclash. Angesichts der verwunderten Frage eines kleinen Theatergastes im Zuschauerraum mitten im Geschehen: "Wann kommen denn Hänsel und Gretel?" wurde zumindest klar, daß die übliche Schatulle für Bekanntes hier nicht durchweg angewendet werden kann. Alleine die Darstellung aller Rollen durch eine Person erfordert Aufmerksamkeit und nicht zuletzt Respekt vor dem schauspielerischen Einsatz. Jedoch haben die meisten und etwas älteren Kinder, die im Abstrahieren schon geübter sind, den Rollenwechsel ohne Probleme mitvollzogen.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Hänsel im Rap
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie zufällig im Übergang vom Alltagsgeschehen zur 'Theaterwirklichkeit' kommt Hänsel, alias Anke Pfletschinger, rappend zur Tür herein und wundert sich, daß die Zuschauer schon da sind. Anke Pfletschinger hat sich für den modernen Hänsel entschieden, der, zeitgemäß in Schlabberjeans und schwarzem T-Shirt gekleidet, direkt von nebenan zu kommen scheint. Den Wechsel zur Gretel vollzieht sie mit einer Drehung, während sie gleichzeitig das Cap absetzt und Gretels blonde Zöpfe zum Vorschein kommen. Hänsel mimt mit kehlig rauher Stimme den jugendlichen Macho, während Gretel sich burschikos über diesen Angeber von Bruder aufregt. Mit ausladenden Bewegungen und Mienenspiel dargestellt sieht man Mädchen und Jungs vor sich, wie man sie überall heute antrifft.

Aber wo bleibt da das Märchen?
Nicht im Mindesten streiten sich die modern übersetzten Rollen von Hänsel und Gretel mit der Situation der in Armut lebenden Waldarbeiterfamilie, die in ihrer existentiellen Not ihre Kinder dem Hungertod im Wald ausliefert, weil das Essen nicht für alle reicht.

Hinsichtlich der Aktualität läßt das Märchen, wenn man es in einen gesellschaftlichen Kontext überträgt, nichts zu wünschen übrig. Die sich verbreitende Armut, von der gerade Kinder stark betroffen sind, kann heutzutage, ohne die Sonntagsruhe zu stören, völlig schmerzlos in Zahlen wiedergegeben werden. Nach Angabe des Deutschen Kinderschutzbundes leben in Deutschland über 2,5 Millionen Kinder in Einkommensarmut. Dies entspricht etwa 19,4 Prozent aller Personen unter 18 Jahren (1). Sozialverbände bemängeln ihre schlechte und ungesunde Ernährung. Chronische Krankheiten, Übergewicht und Verhaltensauffälligkeiten haben bei benachteiligten Kindern stark zugenommen", schreibt UNICEF. Wenn arme Kinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen können, kein Taschengeld und nur gebrauchte Kleidung bekommen, fühlen sie sich sozial ausgegrenzt (2). Die Kinderarmut in Deutschland ist einer UNICEF-Studie zufolge höher als in vielen anderen Industrieländern. Dazu bemerkt der UNICEF Geschäftsführer: "In reichen Industrieländern sollte kein Kind notwendige Dinge entbehren müssen" (3). Demzufolge dürfte im wohlhabenden Deutschland Kinderarmut kein Thema sein.

Wald als gemalte Kulisse - Foto: © 2012 by Schattenblick

... verliefen sich im Wald
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Wald, im Bühnenbild als reich gemalte Kulisse zu bewundern, hat auch in heutiger Zeit bei aller naturwissenschaftlichen, ökologischen oder idealisierten Betrachtung nichts von seiner beeindruckenden Unheimlichkeit verloren. Schon gar nicht für Kinder, die sich in die Lage der Ausgestoßenen hineinversetzen. Und dann noch die Hexe! Anke Pfletschinger's dritte Rolle als im Wald allein hausendes, altes Weib, mit krummem Rücken, Hakennase und dem hexentypischen Fisteln, fordert in der traditionellen Rollenzuweisung allein durch ihre schrille Stimme Respekt.

Die Hexe hockt auf dem Baumstumpf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Hexe schmiedet böse Pläne
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie die Handlung weitergeht, weiß man nicht nur als Märchenkenner, denn der Erzählverlauf samt seiner Charaktere gehört mit allen möglichen Varianten nach wie vor zum allgemeinen deutschsprachigen Kulturgut. Der Plot, würde man ihn erst heute erfinden und vermarkten, wäre für die Verwertungsindustrie beteiligter Medien im Fantasybereich womöglich ein Riesenerfolg. Märchen haben den besonderen Charme, aus der Vergangenheit zu erzählen und holen gleichzeitig ganz ursprüngliche Einschätzungen, Ahnungen und Befürchtungen hervor, die für Menschen offenbar zeitlos sind.

Der ständige Rollen-Switch im Stück war gut gespielt, hatte aber von dem vorgegebenen Handlungsverlauf bisweilen seine Grenzen. Deshalb sprangen im Vertrauen und Gewißheit um die Aktions- und Bewegungsfreude der kleinen Zuschauer, von der Regie so eingeplant, zum freiwilligen Mitspielen animierte Kinder ein und übernahmen für Anke Pfletschinger stellvertretend kurz die Rolle entweder von Hänsel oder von Gretel. Mit 'Basecap' ausgestattet und für jedermann als Hänsel sichtbar, hält der freiwillige Mitspieler seine neue Identität nicht länger aus, als es für ihn buchstäblich zu brenzlig wird. Unmißverständlich hatte die Hexe klar gemacht, daß sie ihn braten und essen will, worauf 'Hänsel' spontan das entlarvende Requisit, die Kappe, schnell vom Kopf nimmt.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Hexe will Hänsel als Braten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Allseitigen Spaß sah man nicht nur an der regen Beteiligung der Kinder, sondern gerade Gäste aus der Großelterngeneration amüsierten sich köstlich über den Hänsel, der rappend amerikanische Kulturattitüde bediente. Nur ein kleines Beispiel für kulturelle Einflußnahme, die das Gesicht und ein wenig die inhaltliche Bewertung von sogenannten Märchen verändert, eine Einflußnahme, die bei dem ursprünglich erzählten Volksmärchen mit der damaligen Aufzeichnung durch die Gebrüder Grimm längst begonnen hat.

© mit freundlicher Genehmigung Theater Die Komödianten, Kiel

Grafik von Bruno Guirini
Foto: © mit freundlicher Genehmigung Theater Die Komödianten, Kiel


Anmerkung:
(1) http://www.dksb.de - Deutscher Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
(2) http://www.tagesschau.de/
(3) http://www.welt.de/ - Internationale Studie, 20.05.2012 - Unicef
beklagt hohe Kinderarmut in Deutschland

6. Dezember 2012