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BERICHT/046: Tellerrand (SB)


Wer bin ich wirklich? - Tanztheater "Tellerrand"

Premiere am 5. April 2013 im Kulturzentrum "LoLa" in Hamburg-Bergedorf



Wie formen Elternhaus, Schule, Gesellschaft den Menschen? Wer bin ich? Was ist wirklich? Lässt sich Wirklichkeit teilen oder ändern? Gibt es Sie überhaupt? Bin ich anders, wenn das Umfeld, in dem ich mich bewege, sich wandelt? Was ist echt, was bleibt fremd? Wie wäre ich gern? Fragen, wie diese im Programmheft, mögen für den Tanztheater-Neuling an der Theaterkasse zur ersten Überraschung des Abends werden. Im nächsten Moment macht sich Spannung breit. Eigene Fragen regen sich und nehmen im Hinterkopf Platz, um dem neugierig gespannten Blick auf das Parkett im Kulturzentrum "LoLa" in Hamburg-Bergedorf Gesellschaft zu leisten! Der Tanz, die Auseinandersetzung, hat begonnen.

Drei sonnenbebrillte Tänzerinnen ertasten die Wirklichkeit und definieren so 'Mensch' - Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

Am 5. April 2013, an einem Freitagabend, hat "Tellerrand" Premiere. Unter der Leitung von Choreographin Nina Marie Niedermaier ist ein einstündiges Tanztheater-Programm entstanden, in dem die Tänzerinnen Helen Hannak, Wiebke Heinrich und Frederika Hilgers eine Bewegungssprache entwickeln und einsetzen, die der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen Ausdruck verleiht und ein körperliches Verständnis zu erwirken vermag.

Videosequenzen von Tim-Urs Vogel sind Bindemittel, Übersetzungshilfe, Hinführung und Zuspitzung gleichermaßen und verdichten das Geschehen auf der Bühne, bei der es sich im Kulturzentrum "LoLa" um einen ebenerdigen Parkettboden handelt. Gleichzeitig markieren diese Bilder die Weiterentwicklung einer Frage und die jeweils nächste Stufe der Themenannäherung. So zeigt eine Filmsequenz zu Beginn unterschiedliche Gesichter, Köpfe von Männern und Frauen, jungen wie alten. Alle sind vor der gleichen weißen Mauer und lange genug zu sehen, um als Personen interessant zu werden, den Wunsch zu wecken, mehr von Ihnen wissen zu wollen. Dabei ist die Frage: "Wer bin ich?" diejenige, die aus den Gesichtern tonlos von der Leinwand klingt und auf die Bühne überspringt.

Die drei Tänzerinnen betreten einzeln das Parkett, zeigen ihre Charaktere, ohne daß Musik ihr Tun begleitet, durch Gesten und Bewegungen einerseits und dadurch, dass sie sich zum existierenden Raum, zu den Dingen, die sie vorfinden, in Beziehung setzen. Ein Tisch, ein Tischtuch und ein Buch werden zum Synonym für die Welt. Für die schüchtern Verstörte, dargestellt von Wiebke Heinrich, die zögerlich, unsicher tastend den Anfang macht und nervös am eigenen Kleidersaum nestelt, werden Tisch und Tuch zum Versteck, in dem es sich leben lässt. Die unerschrocken Taffe, Frederika Hilgers, betritt strammen Schrittes die Bühne und findet - den Blick stets geradeaus - das Buch erst unter einem ihrer hohen Hacken, als sie aus dem Tritt kommt. Wenig später balanciert sie das Buch, immer noch zackigen Schrittes, auf dem Kopf. Schließlich richtet sie sich mit der Welt auf ihre Weise ein und setzt den Balanceakt in meditativer Haltung auf dem Tisch sitzend fort. Helen Hannak zeigt, wie die kraftstrotzend Dynamische mit Tisch, Tuch und Buch umgeht. Wildes Tischrücken, Schmeißen des Buches in die eine Richtung, des Tuches in die andere, gefolgt von der sichtbaren Anstrengung, den Tisch mit einem einzigen kraftraubenden Schritt zu besteigen, um dann von dort unter großen Mühen das vorher in stattlicher Entfernung zu Boden geworfene Buch mit den Füßen oder das ebenso weit entfernte Tuch mit den Händen zu erreichen. Überaufwand und absurdes Ringen zeigen sich als Folge der eigenen, kaum erfüllbaren Vorgaben. Inklusive der schweißtreibenden Wiederholung des Ganzen. Als die Choreographin selbst zum Besen greift und Tuch und Buch von der Bühne fegt und den Tisch außer Sichtweite schiebt, kündigt sich ein weiterer Schritt in der Frageentwicklung an: Was und wer bin ich und was bleibt übrig, wenn die Bezüge fehlen?

Formen der Zweisamkeit - Zwei der Tänzerinnen in Aktion - Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

Gleich zu welcher Frage, zu welchem der verschiedenen Aspekte von Wahrnehmung und Wirklichkeit - die Tänzerinnen machen mit ihrem Können durchgehend deutlich, wie geeignet und direkt Körpersprache als Transportmittel für Emotionen, Gedanken und Gefühle ist. Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang jene Szene, in der sich die drei Frauen geradezu euphorisiert herausputzen, in Glitzerkleid und Pumps werfen, ganz offensichtlich um zu gefallen. Sie tanzen zu "Hey Big Spender", jenem Song, der von einem Amüsiermädchen erzählt, das auf den reichen Gentleman hofft, ihn bittet, Zeit mit ihr zu verbringen, in der Hoffnung, er und sein Geld wären ihre Rettung. Das kann nicht gut gehen! Das drohende Unheil lässt sich fast mit Händen greifen, und noch ehe das Lied verklungen ist, hockt die schüchtern Verstörte, alias Wiebke Heinrich, zusammengekauert am äußersten Bühnenrand. Verletzung, Not und Angst breiten sich von dieser Ecke aus. Big Spender verschwindet - die Musik wechselt. Die beiden anderen Tänzerinnen bemühen sich unmissverständlich darum, die auf diese Weise erfahrene Demütigung abzuschütteln und versuchen mit Gewalt das schreckliche Erlebnis loszuwerden. Sie reißen an ihren Kleidern, in ihren Gesichtern spiegeln sich Ekel und Entsetzen, die Körper ringen mit jeder Regung um Befreiung davon. Das ist verstörend eindeutig und eine großartige Leistung der Tänzerinnen. Am Ende der Szene kommt die schüchtern Verstörte wieder auf die Füße, die anderen beiden helfen ihr auf.

Die im Programmheft angekündigte Auseinandersetzung setzt sich fort. Fließend. Bruchlos. Ob Videosequenzen, der Einsatz von Sprache, die nicht auf ein auditives erklärendes Verstehen gerichtet ist, sondern vielmehr einer Betonung gleicht, die die Körpersprache der Tänzerinnen akzentuiert, ob die Musikauswahl, der Einsatz von Lichteffekten oder die sparsamen Requisiten, alles greift ineinander und führt den Zuschauer mühelos durch die Szenen und zu den Kernfragen. Wahrnehmung und Wirklichkeit, Selbstbild und Fremdbestimmung, das Ich und der Andere liefern in Bild, Ton und Körpersprache mit "Tellerrand" reichlich Stoff für eine bewegte Konfliktdarstellung, die diesen Theaterabend zu überdauern sicher geeignet ist. Dieser Produktion sind ein feinsinniger Sponsor und ein voller Tourneespielplan auf jeden Fall zu wünschen! Eine weitere Aufführung ist derzeit leider nicht absehbar.

Die drei Tänzerinnen bewegen sich ausgelassen zu dem Song 'Hey Big Spender' - Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

Foto: © 2013 by Nina Marie Niedermaier

9. April 2013