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BERICHT/053: Paradise Lost - Alter Kampf in neuen Kleidern (SB)


Paradise Lost - Alter Kampf in neuen Kleidern

Kommando Himmelfahrt interpretiert Milton am 4. Juni 2014 im Kampnagel



Heute liest kaum jemand "Paradise Lost", auch nicht in der englischsprachigen Welt im Original. Das zwischen 1658 und 1663 vom alternden, erblindeten John Milton im Schlaf, angeblich infolge göttlicher Eingebung, diktierte Gedicht erscheint den meisten Lesern offenbar als antiquiert und mit insgesamt zehntausend Zeilen zu lang. Das ist wirklich schade, denn das in Blankvers verfaßte Epos, darin Milton von der Vertreibung Satans samt seiner Anhänger aus dem Himmel und seinem anschließenden Racheakt, Gottes neueste Geschöpfe Adam und Eva zum Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis zu verführen, was zur Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies führt, erzählt, ist eine grenzenlos phantastische und sprachgewaltige Verarbeitung der christlich-abendländischen Legende davon, wie das Leid in die Welt gekommen ist. Löblich ist daher der Vorstoß der Theatergruppe Kommando Himmelfahrt, eine zwar auf ihre Quintessenz reduzierte, jedoch durch moderne Elemente angereicherte Version von "Paradise Lost" einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Als Staatsrechtler führte Milton im England des 17. Jahrhunderts zusammen mit Oliver Cromwell jene evangelischen Parlamentarier an, die 1649 den König und das Oberhaupt der anglikanischen Kirche Karl I. wegen Despotie absetzten und hinrichten ließen. Aufgrund seiner ideologischen Festigkeit und ungeheuren Gelehrsamkeit diente Milton, der nicht nur Latein, Altgriechisch, Hebräisch, Aramäisch, Altsyrisch, Französisch, Italienisch und Spanisch beherrschte, sondern das Englische um mehr Neologismen (630) als Shakespeare (229) bereicherte, der neuen Republik als Propagandist und Chefkorrespondent mit den Staaten Kontinentaleuropas. Nach dem Tod des Lordprotektors Cromwell 1658 ging das kurzlebige Commonwealth an Intrigen und Streitigkeiten zugrunde. 1660 erfolgte unter Karl II. die Stuart-Restauration. Um seinen Hals zu retten, zog sich Milton aus der Politik zurück. 1667 erschien "Paradise Lost: A Poem in Ten Books".

Im festen Glauben an die menschliche Vernunft ging es Milton nach eigenen Angaben mit seinem Magnum Opus um nichts weniger, als die Wege Gottes, die jahrhundertelang als unergründlich und daher nicht hinterfragbar gegolten hatten, zu erläutern. Tatsächlich glaubte Milton, daß der gebildete Mensch durch die Ausübung eines freien Willens, der diesen Namen verdient, unweigerlich und ohne Hilfe eines Klerus den Weg zu Gott finden werde. Seine kategorische Ablehnung jeder Art von Zwangsherrschaft, sei es theologisch in Form des Vatikans oder staatspolitisch der Stuart-Dynastie, führte ihn dazu, das Bild eines fast sympathischen Teufels zu zeichnen. Gottes erbittertster Widersacher zeugt zwar mit der eigenen Tochter, der Sünde, den Tod, versetzt später jedoch durch die gelungene Verführung die Menschheit erstmals in die Lage zur freien Willensbildung und -ausübung.

Mit seinem Satan schuf Milton quasi den ersten großen Anti-Helden der Weltliteratur. Dessen berühmter Grundsatz "Lieber in der Hölle regieren als im Himmel zu dienen" inspirierte unzählige Künstler wie die Romantiker Lord Byron und Perce Bysshe Shelley im 18. Jahrhundert oder später Maler wie William Blake, Eugene Delacroix und Salvador Dali. Ohne Miltons "Paradise Lost" und die monströsen Lithographien der Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert von Gustave Doré und John Martin wäre der Teufel moderner Prägung - siehe Viggo Mortensen, Al Pacino und Gabriel Byrne jeweils als Satan in den Kinofilmen "God's Army - Die letzte Schlacht" von 1995, "Im Auftrag des Teufels" von 1997 und "End of Days - Nacht ohne Morgen" von 1999 - unvorstellbar.

Das Kommando Himmelfahrt kommt in seiner humoristischen, poptheatralischen Version von "Paradise Lost" auf Kampnagel ganz ohne den Hightech-Bombast der Traumfabrik Hollywood aus. Die Aufführung vollzieht sich in einer großen, abgedunkelten ehemaligen Fabrikhalle. Zum Auftakt liegt in der Mitte des Raums auf dem Boden Satan, gespielt von Sarah Sandeh, der gerade aus dem Himmel verstoßen worden ist. Der Zuschauer findet sich ein im sogenannten Pandämonium zu einer Phase, als der Teufel und seine Anhänger nach der erlittenen Niederlage die nächsten Schritte überlegen, wie sie den Himmel zurückerobern können. Anstelle von Moloch, Beelzebub, Baal, Mammon und wie sie alle heißen, steht Satan ein zehnköpfiger Männerchor zur Seite, dessen Mitglieder, aufgereiht hinter aufragenden Mikrofonen, allesamt schwarze Anzüge tragen. Gleich hinter Satan und seinem Gefolge hängt eine dreigeteilte, leicht durchsichtige Leinwand, auf die die Mitglieder der Künstlergruppe niedervolthoudini im Verlauf des Abends jeweils passend zur Handlung verschiedene Bilder, Zeichnungen und Grafiken in Schwarzweiß projizieren.

Alt-68er-Männerchor und Begleitgruppe, getrennt durch eine Leinwand, auf die ein High-Tech-Satellitenbild der Erdoberfläche projiziert wird - Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Pandämonium - Auch ohne Satan läßt sich die "Himmelfahrt Music Hall" rocken
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Hinter der Leinwand spielen die vier Musiker Christian Bekmulin an der Gitarre, Jan Dvorak am Keyboard/Orgel, Andrew Krell am Bass und Leo Lazar am Schlagzeug auf. Zusammen mit dem bereits angesprochenen 68er-Männerchor bilden sie die "Himmelfahrt Musikhalle", die den laufenden Monolog Sandehs gelegentlich durch eigene Lieder, deren Texte dem Werk "Paradise Lost" entstammen, unterbrechen und für eine ironische Heiterkeit sorgen. Musikalisch schaffen die rock- und jazzangehauchten Stücke eine Atmosphäre, die an das Vaudeville Tom Waits' aus der Schaffungsphase um die Platte Franks Wild Years erinnern (Wie der Zufall es will - oder auch nicht -, hat Waits 2009 als "Mr. Nick" in Terry Gilliams Phantasiestreifen "Das Kabinett des Doktor Parnassus" ebenfalls den Satan gegeben).

Sarah Sandeh allein auf der Bühne bei gedämpftem Licht, die Nahaufnahme ihres Gesichts auf die Leinwände hinter ihr projiziert - Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Satan plant den Ausbruch aus der Hölle
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Das Kommando Himmelfahrt kommt gänzlich ohne Miltons Charaktere Adam, Eva, Gott der Vater, Gott der Sohn und die beiden Engel Raphael und Michael aus. Seine Interpretation von "Paradise Lost" reduziert sich auf die Person Satan sowie dessen Überlegungen und Handlungen, was eine beachtliche Herausforderung für Sarah Sandeh darstellt. Die deutsch-iranische Schauspielerin meistert ihre Aufgabe mit Bravour. Am Anfang spielt sie einen Teufel, der vor Wut und Vergeltungsdrang fast zu platzen droht. Um sich jedoch Genugtuung zu verschaffen, besinnt er sich auf List und Heimtücke. Die Miene wird ruhiger, der Gedankengang systematischer und weniger stürmisch. Bei der Versuchung der menschlichen Urahnen läßt Sandeh der Laszivität freien Lauf. Gegen Ende, nach der Schaffung der "neuen" Welt, führt sie dem Publikum eine lange Liste der geschichtlichen (Fehl-)Entwicklungen der letzten rund 6.000 Jahre vor, um die schwere existentielle Verantwortung, die mit dem Anspruch auf Freiheit einhergeht, zu unterstreichen.

Sarah Sandeh und der Alt-68er-Männerchor vor physiologischen Zeichnungen des menschlichen Körpers - Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Satan schweigt, sein Begleitchor singt
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Was sich bei Milton gedankenschwer und philosophisch-tiefgründig präsentiert, kommt bei Kommando Himmelfahrt beschwingt und leicht rüber. Sandeh mit ihrem langen schwarzen Haar trägt während der gesamten Aufführung einen engsitzenden, zweiteiligen silberfarbenen Körperanzug, der sie wie einen Raumfahrer oder einen auf die Erde gefallener Alien à la David Bowie erscheinen läßt. Zu Beginn bilden verschieden große Luftballons, die sie auf der Schulterpartie und am Rücken trägt und die von einem Netz gehalten werden, die eingefalteten Flügel, Rückenhörner und den Schwanz des Fürsten der Finsternis, derer sich Sandeh, sozusagen bei der Eingewöhnung an die neue Umgebung, nämlich die Hölle, per Nadelstich entledigt. Später legt sie eine weiße Stola an, die mit weiß bemalten Kinderpuppenkörperteilen über und über besetzt ist (schließlich machen die von Satan losgetretenen Schrecken vor Unschuldigen keinen Halt). Beim Eindringen in das Paradies symbolisiert ein grüner Lichterkranz um Sandehs Kopf samt einer langen grünen Seidenschleppe die Verwandlung in jene Schlange, die Eva den Kopf verdrehen und das Schicksal von ihr, ihrem Mann und all ihren Nachkommen besiegeln wird.

Sarah Sandeh mit grüner Lichtergirlande und verführerischem Blick - Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Die Schlange dringt in den Garten Eden ein
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Besiegeln ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Denn nach Auffassung Miltons ist es gerade der Verlust des Paradieses, der den Menschen zu einem eigenständigen Subjekt macht und sein eigenes Geschick finden läßt. Welches zweischneidige Schwert Satan Adam damals in die Hand legte, zeigt Miltons eigenes geschichtliches Vermächtnis. Als Literat und Philosoph formulierte er jene Gedanken, die über John Locke, die Puritaner und Thomas Paine hundert Jahre später zum Aufstand der nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Krone und zur Ausrufung der Vereinigten Staaten mit der zu jener Zeit progressivsten und vorbildlichsten Regierungsform auf Erden führen sollten. Gleichwohl rechtfertigte Milton zu Lebzeiten als Staatsmann die Greueltaten in Irland, derentwillen Cromwell auf der grünen Insel noch heute als Handlanger des Teufels verflucht wird.

Alt-68er-Männerchor mit bemalten Oberkörpern und Gesichtern: Leinwände sind gefallen, die Band spielt die letzten Akkorde, dahinter steht Sarah Sandeh allein - Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Satans Rache ist vollbracht - der Tod ist in die Welt gekommen
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

20. Juni 2014