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BERICHT/064: Abglanz der Einmaligkeit ... (SB)


"Eines Tages"

Gastspiel des Tilsit-Theaters aus Sovetsk am 23. Oktober 2015 im KulturForum in der Stadtgalerie Kiel


Melancholisch blickender Darsteller mit Clownsnase im Halbprofil, hinter ihm Mond und Sternenhimmel, um ihn herum wirbelt Bühnenschnee - Foto: © Tilsit-Theater

Szenenfoto aus dem Stück "Eines Tages"
Foto: © Tilsit-Theater

Die Komödianten riefen und die Kieler kamen. Das von Markus Dentler, dem Leiter des Kieler Privattheaters "Die Komödianten", im Rahmen des Kulturaustauschs mit der Kieler Partnerstadt Sovetsk initiierte Gastspiel fand vor ausverkauftem Haus statt. Mit fünf Schauspielern war die Intendantin des Theaters, Nina Lemesch, angereist, im Gepäck das Stück "Eines Tages" aus dem Repertoire des Hauses. Für das Tilsit-Theater, das überwiegend Dramen aufführt, ist es eher ungewöhnlich, denn es handelt sich um ein leichtes, melancholisch angehauchtes Stimmungsstück mit einer Reihe von Varieté-Einlagen. Auf dem Spielplan des Hauses, das zugleich auch Kinder- und Jugendtheater ist, wird es für ein jugendliches Publikum ab zwölf Jahren ausgewiesen.

Aus verschiedenen Gründen war das Stück für diesen Anlaß genau die richtige Wahl. Es ist eine Geschichte über die Liebe und das Leben, über die Suche nach dem Glück und nach dem Schönen, ein Stück, das sich mit den Sehnsüchten, Wünschen, Träumen und Hoffnungen der Menschen beschäftigt. Die Darsteller bedienen sich hauptsächlich der Gesten und der Mimik, es benötigt nur wenige Worte, die bei diesem Gastspiel auf deutsch gesprochen wurden. Verständigungsprobleme waren damit weitgehend ausgeschlossen, auch für die russischsprachigen Gäste, die Gehörlosen und die syrischen Flüchtlinge aus dem Erstaufnahmelager, die Markus Dentler zu diesem Abend eingeladen hatte.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Markus Dentler, Initiator des Gastspiel-Abends im KulturForum
Foto: © 2015 by Schattenblick

Um es gleich vorweg zu sagen, es war ein sehr gelungener Abend. Mit ihrem spannungsreich inszenierten Bilderbogen gelang es der Gastspieltruppe, das Publikum vom ersten bis zum letzten Moment zu verzaubern. Im Saal gab es wohl keinen, der sich dem entziehen konnte. Wie das mit diesem, eigentlich recht unspektakulären Stück, gelingen konnte, ist sicher ein Teil des Zaubers gewesen. Ohnehin riet eine Ansage zu Beginn des Abends, nachdem die dem offiziellen Hintergrund dieses Gastspiels geschuldeten Reden gehalten worden waren, nicht zu versuchen, etwas vom Inhalt dieses Stückes zu verstehen oder sich merken zu wollen. Auch sollte man das an diesem Abend Gesehene nicht in die Welt hinaustragen. Nur das Erleben, nur der Moment zähle.

In dem Stück werden Elemente aus dem Varieté mit traumartigen, romantischen Sequenzen verbunden. Eine schwarzgewandete Gestalt mit rührend improvisiert wirkenden Engelsflügeln und einer Laterne in der Hand wandelt durch die Szenerie, das Geschehen um sich herum staunend und sehr genau betrachtend. Das Wesen scheint aus der Zeit gefallen zu sein und ist als einziges nicht an den sozialen Interaktionen seiner Mitspieler beteiligt, die sich abwechselnd lieben und hassen, sich näherkommen und wegschubsen, sich bekämpfen und an einem Strang ziehen, mal melancholisch und nachdenklich, mal voller Schwung und Energie.

Die Darsteller, unter ihnen auch der Regisseur und Schöpfer dieses Stückes, Anatoly Gorbenko, benötigten nicht viele Requisiten, um die Illusion entstehen zu lassen: einen Hocker, einen Garderobenständer, eine leichte Stoffwand, ein großes Tuch, ein paar Laternen, einen schwarzen Vorhang mit Glitzer, einen milde leuchtenden Pappmond und eine Ladung Bühnenschnee aus Seifenschaum. Die Akteure waren in schlichte Gewänder gekleidet, barfuß, zwei von ihnen trugen Clownsnasen.

Mit vorsichtigen Schritten bewegten sich zu Beginn des Stückes die Schauspieler, jeder für sich allein und mit einer Laterne in der Hand, über die fast unbeleuchtete Bühne und an der ersten Zuschauerreihe entlang. Erst nach und nach, mit allmählich heller werdendem Licht, interagierten sie miteinander, nahmen vorsichtig Kontakt auf, nur um sich gleich darauf wieder voneinander zu entfernen.

Darauf aufbauend, entfaltete sich im Laufe der folgenden Stunde ein Reigen von Szenen, der, getragen von der Spielfreude und dem breiten Spektrum an schauspielerischen Möglichkeiten, Altbekanntes in neuem Licht erscheinen ließ: die unter einem Tuch zunächst am Boden liegende und dann zu schweben scheinende Frau, die sich geschickt auf einem ihrer Knie aufrichtete, wie das gnadenlos von einem Mitspieler weggezogene Tuch offenbarte, die kurios vor einer Wand tanzende "Zwergin", bestehend aus einer Person, von der man nur den Oberkörper sah und einer anderen, deren Arme die Beine der Zwergin waren, die länger und länger werdenden und sich am Ende mit Hilfe einer weiteren Akteurin noch vermehrenden Hände, die hinter einer beweglichen Wand agierten, ein imaginäres Tischtennisturnier und verschiedenes mehr, bis hin zum Auftritt eines Kraftmenschen, der mit einer "unglaublich schweren" Kette (aus Gummi) allerhand Angeberisches anstellte, dabei inbrünstig um die Gunst des Publikums heischend. Anschließend brachte er die in drei Gruppen aufgeteilte und nach seiner Anweisung rhythmisch klatschenden Zuschauer dazu, eine schwungvolle Walzermelodie zu begleiten. Durch die aus unterschiedlichen Ecken des Saales kommenden Klatscher konnte sich das Ergebnis durchaus hören lassen und war dem von der Vorstellung ohnehin schon begeisterten Publikum einem Extra-Applaus wert.


Zwei Darsteller (Mann und Frau) stehen nebeneinander und blicken sich an; sie vorwurfsvoll, er eher fragend - Foto: © Tilsit-Theater

Zwischenmenschlichkeiten in Szene gesetzt
Foto: © Tilsit-Theater

Doch auch die leisen Töne waren vorhanden. So entwickelte sich aus dem Spiel mit einem an einem Garderobenständer hängenden Mantel eine sehr anrührende Szene: Der Schauspieler, der selber hell gekleidet war, schlüpfte in einen Ärmel des schwarzen Mantels, den eine andere Darstellerin zuvor getragen und dann dort aufgehängt hatte. Mit seinem anderen Arm begann er, den Mantel zu befühlen und zu streicheln, ihm zärtlich näherzukommen. Mit dem Arm, der im Mantel steckte, tat er das gleiche. Für den Betrachter sah es tatsächlich so aus, als würde der Mantel selbst den Mann liebkosen. Unterstützt wurde die Illusion dadurch, daß der Mantel ein Stück über der Schulterhöhe des Schauspielers hing und durch den hell/dunkel-Kontrast der Kleidungsstücke. Als Zuschauer hatte man bei dieser Szene nicht nur den Eindruck, an einer innigen Zweisamkeit teilzuhaben, man fühlte sich gleichzeitig auch darin einbezogen, denn es ging nicht etwa darum, daß der Schauspieler dem Mantel näherkommen wollte, weil er dessen Trägerin verehrte, sondern vielmehr wurde eine Art universelle Geborgenheit vermittelt, nach der sich wohl jeder insgeheim sehnt.

Neben zwei langjährigen Mitgliedern des Tilsit-Ensembles, dem führenden Darsteller Anatoly Gorbenko und Vera Alexandrowna Krasovitskaia, bestand die Gastspieltruppe aus Wladimir Wladimirowitsch Komissarovsky, Kirill Gorbunov und Sofia Kutserabova. Die beiden letzteren wurden an der Saint-Petersburg State University of Culture and Arts ausgebildet und sind seit 2015 am Tilsit-Theater, Komissarovsky, der seit 2013 in Sovetsk spielt, absolvierte seine Ausbildung am Boris Shchukin Theatre Institute in Moskau, das als renommierteste Schauspielschule des Landes gilt.


Drei der Schauspieler schleichen geduckt hintereinander her - Foto: © Tilsit-Theater

Spannungsvolle Momente ...
Foto: © Tilsit-Theater

Nein, sie haben die Schauspielerei nicht neu erfunden, und doch gelang den Gästen aus Rußland, die mit ihrer ausgefeilten Darbietung lebendiger Unterhaltungskunst im besten Sinne an eine Gauklertruppe erinnerten, etwas Besonderes, denn mit ihrer Aufführung verschafften sie ihrem Publikum ein Theatererlebnis, wie man es nur selten hat. Dies alles war ganz im Sinne von Markus Dentler, der den Abend mit einem überzeugenden Statement zu "Embargos" eröffnet hatte, die ein Kulturaustausch wie dieser zu unterwandern wisse.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Intendantin des Tilsit-Theaters Nina Lemesch und ihre Dolmetscherin Ludmila Ljubov
Foto: © 2015 by Schattenblick

20. November 2015


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