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BERICHT/071: Lust auf Leben - Menschheitssignale auf finsterer Bühne ... (SB)


Wilder Osten. Ereignis Ukraine.
Auftakt des Theater-Festivals in Magdeburg: Emotionaler Hardcore und berührende Momente

Festival vom 19. bis 22. Mai 2016

von Christiane Baumann, Mai 2016


Nichts ist im Magdeburger Schauspielhaus an diesem Theater-Abend, mit dem das Festival Wilder Osten. Ereignis Ukraine beginnt, so wie immer. Das Foyer ist zur Bühne umgebaut. Der Weg zur Studio-Bühne führt durch bislang unbekanntes Theater-Terrain. Es ist der Auftakt eines Abends, der ein wenig Abenteuer-Atmosphäre aufkommen lässt. Piroschki, russische Teigtaschen, stimmen das leibliche Wohl auf nahezu vergessene Sinnesfreuden ein. Die Besucher tauchen schon im Foyer in ein Sprachengewirr ein, in dem ukrainische und russische Klänge dominieren. Überall ist die Anspannung zu spüren, vor allem bei den ukrainischen Gästen, die der Aufführung ihrer Stücke entgegenfiebern.

Dann ist es soweit: Das Festival startet mit Pavlo Arie's Am Anfang und am Ende aller Zeiten, einer deutschsprachigen Erstaufführung und einem Thema, das in den vergangenen Wochen von einer ungeheuren Medienpräsenz begleitet wurde: Das Leben in der Sperrzone von Tschernobyl. Was ist das für ein Leben in dieser Region, dreißig Jahre nach dem Reaktorunglück? Der Titel bringt prägnant zum Ausdruck, was das Stück erzählt.


Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Iris Albrecht (Oma Prisja)
Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Die alte Oma Prisja hat nach der Reaktorkatastrophe die Zone, ihre Heimat, die in den Märchen und Mythen der Sümpfe wurzelt, nicht verlassen. Ihr Leben und Handeln werden bestimmt von einem Wissen, das noch von den Vorfahren, den Urvätern stammt. Nach der Katastrophe führt sie ihr Leben fort, in ihrem Dorf, das zu einem Ort außerhalb der Zivilisation geworden ist und in dem der Mensch als Jäger und Sammler allein für sein Überleben sorgt. Die hochentwickelte Zivilisation mit ihrem wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist moralisch am Ende und hat die Menschen von Tschernobyl in die Steinzeit zurückbefördert. Ihr Leben knüpft an die Anfänge menschlicher Existenz an, ist wieder eingebettet in den Lauf der Natur. Ihre Existenz gründet vor allem auf Dingen, die Flora und Fauna bieten. Dabei erweist sich die verstrahlte Natur als weniger gefährlich für diese Menschen als der Einbruch der sogenannten zivilisierten Welt in die Sperrzone. Die Tochter von Prisja, Slawa, ist bei dem Versuch, sich an einem anderen Ort ein neues Leben aufzubauen, gescheitert. Slawa und ihr geistig zurückgebliebener Sohn wurden als "Tschernobyler" stigmatisiert, kehrten krank, aber voller Sehnsucht nach Leben zur Großmutter und damit zu ihren Wurzeln, zurück.


Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Iris Albrecht (Oma Prisja), Ralph Opferkuch (Inspektor der Miliz)
Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Ein Inspektor der Miliz sorgt regelmäßig für Panik, weil ein Leben in der Sperrzone per Gesetz verboten ist. Reiche, sensationshungrige Touristen machen Adventure-Trips in die Zone und schießen dabei wild um sich. Dem Sohn von Slawa, Wowka, wird das zum tödlichen Verhängnis. Eine hochzivilisierte inhumane Gesellschaft trifft auf einen zivilisatorischen Urzustand, in dem Menschlichkeit aufgehoben und bewahrt ist, der aber selbst in dieser abgeschotteten Gefahrenzone nicht geschützt werden und nicht überleben kann. Es ist ein rechtsfreier Raum, in dem die Bewohner plötzlich vogelfrei und dadurch der politischen Macht einmal mehr ausgeliefert sind. Die Inszenierung lebt von einem schwarzen Humor, bei dem einem zuweilen das Lachen im Halse stecken bleibt. Das Leben in der Sperrzone ist mythisch und mit tödlicher Strahlung aufgeladen. Die Bühne taucht die Szenerie in ein surreales Licht. Die Dialoge sind zum Teil drastisch und spiegeln die Härte des Lebens in Armut und Abgeschiedenheit ebenso wieder wie die Einsamkeit und Sehnsucht der Menschen, deren alltägliche Konflikte zum Überlebenskampf werden. Regisseur Stas Zhyrkov, der in Kiew als jüngster Intendant das Golden Gate City Theatre leitet, leuchtet diesen Alltag facettenreich und mit einer ungeheuren Intensität aus, die den Zuschauer vor allem in der zweiten Hälfte nicht mehr loslässt. Iris Albrecht legt in der Charakterrolle der Oma Prisja einmal mehr Zeugnis ab von ihrem schauspielerischen Können und ihrer Verwandelbarkeit. Geradezu traumwandlerisch springt sie von einem Moment zärtlicher Liebe zu einer Härte, Brutalität und Entschlossenheit, die sich aus dem Wissen der Vorfahren und aus einem Kampf speist, der in politischen Diktaturen, Krieg, Faschismus und eben auch in der Reaktorkatastrophe von Tschnobyl Überleben ermöglichte. Sie ist, anders als ihre Tochter Slawa, von Alissa Snagowski gespielt, überlebensfähig. Ralph Opferkuch als Milizionär füllt diese Rolle, angefangen von Sinnenfreude und Schlitzohrigkeit bis hin zum Repräsentanten staatlicher Macht, überzeugend aus. Raphael Gehrmann in der Doppelrolle als Wowka und dessen Vater zeichnet berührend das Bild eines jungen Mannes, der auf sein Recht auf Leben besteht, ohne seinen Anspruch auf Glück einlösen zu können.


Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Iris Albrecht (Oma Prisja), Ralph Opferkuch (Inspektor der Miliz), Raphael Gehrman (Wowka/Vater)
Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Nach zweieinhalb Stunden Sperrzone Tschernobyl, vom Publikum verdient mit Standing Ovations honoriert, bleiben nur wenige Minuten, um von der Studiobühne ins umgebaute Foyer zu wechseln, wo das zweite Stück des Abends Die Frauen und der Scharfschütze von Tetjana Kyzenko seine Uraufführung erleben soll.

Es ist ein harter Cut von der surreal-grotesken Welt in Pavlo Arie's Stück mitten in die Kämpfe des Maidan, jenes Platzes, der zum Synonym für die ukrainische Protestbewegung 2013/2014 geworden ist, die auf dem "Maidan Nesaleschnosti", dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, ihren Ausgang nahm. Hunderttausende protestierten damals gegen die Regierung, die überraschend angekündigt hatte, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Die Auseinandersetzung eskalierte im Februar 2014, als Sicherheitskräfte auf Demonstranten schossen und dabei fast 80 Menschen töteten.


Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Raphael Kübler (Serjoscha), Marie Ulbricht (Marina), Michaela Winterstein (Anna Iljinitschna)
Leinwand: Sebastian Reck (Onkel Maya), Timo Hastenpflug (Ljoscha)

In dem Stück treffen Kunst und Krieg unmittelbar in dem Ehepaar Marina und Ljoscha, einer Museumsmitarbeiterin und einem Scharfschützen, aufeinander. Während sich Marina in die Kunst zurückzieht, will Ljoscha nicht mehr kämpfen und heuert als Hausmeister im Museum an. Am Ende funktionieren beide Handlungsmuster nicht. Ljoscha geht wieder dem Töten nach und Marinas Kunstwerke werden vom Krieg buchstäblich zerschossen. Die collageartigen Bilder kreisen konzentrisch um die Frage, warum man Krieg führen muss, um des Friedens willen. Die Inszenierung von Oleksandra Sentschuk kommt nahezu ohne Kulissen aus. Mit Mitteln der Pantomime werden Szenen in Räumen assoziiert, die nicht vorhanden sind. Teilweise simultan ablaufend, lassen übermächtige Filmsequenzen auf einer Leinwand neben der Museumswelt eine zweite Welt entstehen, die der Krieg, das Töten als Handwerk und Arbeit bestimmen. Die Frage, wer auf welcher Seite steht, stellt sich plötzlich nicht mehr. Der Pervertierung durch den Krieg wird in "Werbepausen" jene Scheinwelt gegenübergestellt, die den Menschen zum Verbraucher degradiert und in Konsumrausch und Wellness aufgeht. Während in Am Anfang und am Ende aller Zeiten von Pavlo Arie der Super-GAU durch einen abgründigen Humor und bis ins Groteske verzerrte Bilder erzählbar wird, führt in Die Frauen und der Scharfschütze der Bruch mit tradierten Erzählmustern zu schockierenden Filmszenen, die den Krieg als Verbrechen und Ausdruck nicht zu überbietender Inhumanität demaskieren, wobei seine Ursachen nicht zur Sprache kommen. Das Stück ist vielmehr ein expressionistischer Aufschrei auf der Bühne, der sich bei den Stilmitteln der modernen Medienwelt bedient. Was die Schauspieler auf der Bühne in diesem Szenen-Marathon leisten, ist hoch anzuerkennen, allen voran Raphael Kübler als mephistophelischer Serjoscha bzw. als Freischärler, Marie Ulbricht in der Rolle der etwas aus der Zeit gefallenen Marina und Timo Hastenpflug als zweifelnder und verzweifelter Ljoscha. Durch konsequentere Schnitte und Kürzungen hätte der Gesamteindruck der Inszenierung gewonnen, die nach eineinhalb Stunden ohne Pause die Konzentration dann doch ein wenig überstrapazierte.

Müdigkeit sollte jedoch auch nach diesem Theatererlebnis nicht aufkommen, denn zu später Stunde erlebten die Dakh Daughters aus Kiew im Magdeburger Schauspielhaus ihre Deutschlandpremiere. Im bis zum letzten Platz ausverkauften Saal startete das "Freak-Kabarett", geradewegs von einem Gastspiel bei den Wiener Festwochen kommend, mit einer Power und Farbigkeit durch, dass einem Hören und Sehen verging. Was diese sieben Musikerinnen, die verschiedene Instrumente von der Gitarre über die Violine, das Keybord und den Kontrabass bis zum Schlagzeug auf der Bühne an Musikkabarett bieten, ist ein Mix aus Folklore, Pop, Chanson und Klassik, der mit literarischen Texten von Shakespeare und Bukowski spielt und dabei einen erfrischenden Humor an den Tag legt. Dass die Dakh Daughters 2013 mit einer Performance auf dem Kiewer "Maidan Nesaleschnosti" weltweit für Aufsehen sorgten, fügt sich nahtlos in einen ukrainischen Theaterabend, der modernes politisch ambitioniertes Schauspiel in einer Kompromisslosigkeit bot, die man vielfach an deutschen Bühnen vermisst. Die Dakh Daughters waren ein einmaliger Act, aber wer die beiden Theaterstücke sehen möchte, hat dazu nicht nur an diesem Festivalwochenende Gelegenheit, denn beide Werke werden auch nach dem Ereignis Ukraine noch gezeigt.


Mehr zum Festivalprogramm unter www.theater-magdeburg.de


Die Berichterstattung des Schattenblick zum Theaterfestival "Wilder Osten" in Magdeburg finden Sie unter INFOPOOL → THEATER UND TANZ → REPORT:

INTERVIEW/030: Lust auf Leben - Hunger nach Kunst ...    Cornelia Crombholz im Gespräch (SB)
www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0030.html


20. Mai 2016


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