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BERICHT/102: Körpererzählungen - Bühnenpublikumsdialoge ... (SB)




In dem siebzigminütigen Tanzstück DÉBUT reihen sich vier Soli aneinander, dargeboten von Nina Wollny, Chris Leuenberger, Matthew Rogers und der Hamburger Choreographin Jenny Beyer, die diese Produktion ins Leben gerufen hat. Vom 16. bis 19. Januar 2019 gab es vier Vorstellungen auf Kampnagel mit einem Publikumsgespräch im Anschluß an die zweite Aufführung.



Das Plakat zeigt die Portraits der Solotänzer und -tänzerinnen mit geschlossenen Augen - Foto: © 2019 by Schattenblick

DÉBUT Ankündigungsplakat
Foto: © 2019 by Schattenblick


Das Solo, die Darbietung einer Person, kommt in DÉBUT[1] gleich im Viererpack vor. Einzeln ihren Stil darbietend, beginnen die Tänzer doch gemeinsam. Rechts neben der Bühne liegen die Körper ineinander verwoben. Geduldig wartet das menschliche Knäuel auf Stille im Raum, auf das Bereitsein des Publikums für den ersten Auftritt. Noch unbemerkt bewegen sich einige Finger. Eine Hand scheint eine ganz in Rot gekleidete Frau aus dem menschendurchdrungenen Stoffgefüge herauszuziehen. Der Stoffberg zu Beginn weicht später viel nackt gezeigter Haut.

Langsam bewegt sich Nina Wollny, überlegt und blickt zu den Sitzplätzen. Ist dies der erste Blickkontakt mit den Zuschauern, bei dem es bis zum Ende ihrer Darbietung bleiben soll? In DÉBUT ist das Thema laut Programm Begegnung, Austausch zwischen Solisten und Publikum. Doch nicht immer ist es der Blickkontakt, der dazu nötig ist. Es kommt auf den Tänzer selbst an, inwieweit er oder sie sich von Zuschauern, ja allein von dem Wissen über ihre Anwesenheit, gefangen nehmen läßt. Nina Wollny sagt im anschließenden Gespräch, daß ihr das Proben in den Offenen Studios[2] viel dabei geholfen habe, die Spannung dem Publikum gegenüber abzubauen, so daß sie bei der Premiere viel besser ihre Kräfte bis zum Ende des Stückes verteilen konnte und ihr Tanz nicht als steif wahrgenommen wurde. Und steif war Nina Wollny in keinster Weise.

Die junge Frau betritt das Feld, bestehend aus zwei Bahnen weißen Bühnenbodens. Eine dritte Bahn wird vor der Kulisse des quasi schwarzen Raumes nach oben gezogen und stoppt in ca. drei Metern Höhe. Die Tänzerin schreitet auf die Wand zu, bleibt rücklings stehen und bewegt ihren Kopf langsam hin und her. Die schwarzen, gelockten Haare stehen im Kontrast zu ihrer roten Kleidung und dem weißen Boden. "Nein, nein, nein", scheint der Kopf zu verkünden. Das Schütteln von Kopf und Haaren wird stärker und immer heftiger. Alsbald wird der Oberkörper in die Bewegung mit einbezogen, während die Beine noch in sich zu ruhen scheinen. Der Betrachter ist gespannt, wann auch diese in die Bewegung einsteigen. Die Spannung im Körper der Tänzerin überträgt sich auf das Publikum, auch wenn einige nicht davon eingefangen werden und nur den Kopf schütteln. Aber nicht nur Zustimmung, auch Ablehnung ist ein Austausch zwischen Darbietendem und Beobachter.


Bei ihrem extatischen Tanz wendet Nina Wollny dem Publikum den Rücken zu - Foto: © 2019 by Thies Rätzke

Nina Wollny
Foto: © 2019 by Thies Rätzke


Nina Wollny vermittelt Impressionen, in denen die Tanzbühne ebenso zur Diskothek wird wie zu einem Raum in einem Irrenhaus. Plötzlich ertönende Straßenbohrergeräusche erweitern ihr Repertoire um die Vorstellung, in eine Stadt einzutauchen. Es folgt das Spezifischte ihres Solos, eine Art Schlangenbewegung, welche große Körperbeweglichkeit und Körperbeherrschung voraussetzt.

Nach dieser Szene gibt die Tänzerin ihre Position am hinteren Ende der Bühne auf und bewegt sich frei im Raum, noch immer den Blickkontakt mit dem Publikum meidend. Trauer, Schmerz, Krampf bis zur Extase, sowie Behindertsein werden im wirbelnden Tanz ausgedrückt. Zuletzt ganz nah dem Publikum, schwingt sie die Arme im Kreis wie ein überdrehtes Windrad. Der Zuschauer hofft, sie bleibt unverletzt. Erneut sucht sie den Bühnenraum auf. Ab und an blitzt ihr Gesicht durch ihre Locken. Im Vierfüßlerstand bewegt sie sich wie ein Tier, die Erscheinung einer Spinne ist wahrnehmbar. Keuchend tanzend, dann lacht sie. Lacht das Publikum an oder aus? Sie steigt über die Stuhlreihen, mischt sich unter die Zuschauer, wird Teil von ihnen und zeigt endlich Gesicht. Das Publikum braucht einen Moment, um zu begreifen, die wirbelnde Kraft, die sie zuvor ausgestrahlt und die sie ausgemacht hat, sitzt jetzt in Ruhe gebündelt zwischen ihnen. Erst als sie bemerken, die Tänzerin ist zur Zuschauerin geworden, geht der Applaus los.


In kurzer roter Hose und grau-weiß-schwarzem Pullover steht Chris Leuenberger in Angriffsposition vor dem weißen Banner - Foto: © 2019 by Thies Rätzke

Chris Leuenberger
Foto: © 2019 by Thies Rätzke


Im Gegensatz zur vorherigen Solistin sucht der Tänzer des zweiten Parts von Anfang an den direkten Kontakt zum Publikum. Chris Leuenberger beginnt mit Geräuschen und scheint den Zuschauer mit all seinen Sinnen aufsaugen zu wollen. Der frontale Blickkontakt ist hier Spannungsmittel. Als suche er sich jemanden aus, blickt er die Reihen der Zuschauer entlang. Das weibliche Opfer ist gefunden. Er nähert sich ihr, ganz dicht. Einen kurzen Moment wartet er ab, ob ein Funke überspringt, sie wagt eine zarte Berührung, mehr nicht. So betastet er den Boden und berührt die danebensitzende Person.

Wichtig ist diesem Akteur das Arbeiten mit der eigenen Stimme, mit Tönen, Schall und Echo, überdies mit der Musik von Janis Joplin, dem Song "Work me Lord", den er zum Besten gibt. Wenn er singt: "Please don't you leave me ...", ist der Zuschauer betroffen. Er fühlt sich angefleht, den Tänzer nicht im Stich zu lassen.

Auch Chris Leuenberger erzählt Geschichten. Als Sportler, Fotograph oder Forscher erscheint der Solist. Die Arbeit mit der Stimme bleibt bis zum Schluß. Erneut singt er: "Don't leave me." Der Gesang geht in ein Jodeln über, was dem Publikum ein Lachen entreißt. Es beginnt ein Versteckspiel, als wolle der Tänzer seinen Auftritt beenden, aber nicht ohne den ihm gebührenden Applaus. Doch das Publikum erwartet noch weitere Aktionen, ist nicht gewillt, den Tänzer zu entlassen. Er sucht ein Versteck an der hinteren Wand, vor der jetzt das zuvor herabgelassene weiße Banner wieder nach oben gezogen wird. Kein Applaus. Auch nicht, als der Tänzer hinter dem Banner hervortritt. Er versucht es erneut und versteckt sich hinter einer der schwarzen Säulen. Noch immer kein Applaus. Er protestiert mit Jodelklängen und verschwindet dann weiterhin jodelnd in einer Tür. Das Publikum klatscht. Wäre das Klatschen ausgeblieben, sicher wäre die Wirkung ein erneutes Auftreten des Tänzers gewesen. Das zweite Soli hat das Zwiegespräch mit dem Zuschauer auf die Spitze getrieben und nicht verfehlt.


Nur mit einem roten Fundoshi bekleidet, trägt Matthew Rogers das ca. 100 x 80 cm große Kissen, an sein Gesicht gedrückt, durch den Raum - Foto: © 2019 by Thies Rätzke

Matthew Rogers
Foto: © 2019 by Thies Rätzke


Einem Requisit in Form eines Kissens kommt im dritten Solo besondere Bedeutung zu. Während die anderen Soli den Betrachter direkt einbeziehen, quasi als Spiegelung des Tänzers, wird hier das Kissen zur Projektionsfläche, sowohl für den Tänzer als auch für den Zuschauer.

Für Matthew Rogers bleibt das Kissen nicht einfach ein Objekt, sondern wird zum Tanzpartner und zum Gegenspieler, der bekämpft, ja bezwungen werden muß, wird zum Kind, das er auf seinen Schultern trägt bis hin zur Geliebten, die mal sanft, mal hart behandelt wird. Hingegen ist das Kissen für den Zuschauer eine Art Versteck. Er ist dem Geschehen nicht mehr direkt spürbar ausgeliefert, denn die Konfrontation findet zwischen Tänzer und Kissen statt und nicht zwischen Tänzer und Zuschauer. Matthew Rogers scheint kein Publikum für seinen Tanz zu benötigen.

Bald streift er sein Hemd ab und tobt nur noch in einem roten Fundoshi[3] über die Bühne. Er setzt in seinem Stück körperliche Praktiken ein wie das Tantra. Mehr Athlet als Tänzer erzählt auch er zu Klaviermusik seine Geschichten. Mal Fisch, mal Fakir, bald Frosch, räderdrehend, laufend, springend und immer wieder sich rückwärts durch den Raum bewegend, mit dem Kissen an das Gesicht gedrückt. Wovon die Nacktheit ablenkt, wird erst viel später deutlich: diese Art der Fortbewegung wäre für den sich im normalen Rahmen bewegenden Menschen gar nicht möglich, ohne zu stürzen.


In einem dunklen Sweatshirt und langer roter Hose steht Jenny Beyer in erwartungsvoller Pose mit Blick zum Himmel da, eine Hand fragend unter das Kinn gelegt, die andere zum Schutz an der Stirn - Foto: © 2019 by Thies Rätzke

Jenny Beyer
Foto: © 2019 by Thies Rätzke


Jenny Beyer, die Produzentin von DÉBUT, schließt den Kreis der Soli. Sie spricht keine Worte aus, dennoch formt ihr Mund ab und an einen tonlosen Laut. Das Publikum schaut gespannt, wenn sie es keck anlächelt, ihm mit ihrer Hand einen Spiegel vorhält oder durch Körperbewegungen einläd, die besagen: "Nun kommt schon mit in meine Welt." Ihre Welt besteht aus dem sich 'Durchboxen' im Tagesgeschehen, aus Weiterkommen und Stillstand gleichermaßen, aus Abwendung von anderen, den eigenen Raum schützend, aber spricht auch von dem Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein. Es begegnen uns Gedanken an Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Immer wieder der Wechsel zwischen Stillstand und Bewegung. Ist das Kind, das da ein Eis leckt, aus ihrer Vergangenheit aufgetaucht? Oder sind es die Gedanken einer zukünftigen Mutter, die ihr Kind schon aufwachsen sieht? Alles ist möglich.


Alle vier Tänzer nebeneinander auf der Bühne nehmen den Applaus entgegen - Foto: © 2019 by Thies Rätzke

V.l.: Matthew Rogers, Jenny Beyer, Nina Wollny und Chris Leuenberger
Foto: © 2019 by Thies Rätzke


Wie unterschiedlich die Soli auch waren - die der beiden Frauen mehr tänzerisch, der beiden Männer eher athletisch -, bedienten sie sich doch oft der gleichen Ausdrucksformen zum Beispiel des Vierfüßlerstandes. Dies war nicht beabsichtigt, wie die Tänzer später erklären, aber es war für sie eine Art Zeichen ihres gemeinsamen Prozesses, ihrer jahrelangen Arbeit miteinander. DÉBUT ist der Anfang einer Trilogie. Das nächste Stück wird zum Thema Duett getanzt und als "Pas de deux" voraussichtlich 2020/21 aufgeführt. Der dritte Teil der Reihe bearbeitet "Corps de Ballet".

Ein Schwerpunkt, auf dem das Konzept zu DÉBUT fußt, ist die gewählte Darstellungsform des Solos, das es den Tänzern ermöglicht, auf sich selbst gestellt, dem Publikum gegenüber zu treten und sowohl deren Aufmerksamkeit als auch der Kritik ausgesetzt zu sein. Die Soli wiederum sind auch für den Zuschauer eine Herausforderung, da er sich wie eine Art Spiegelbild des Solisten wiederfindet und sich mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, die der Tanz oder die Nacktheit in ihm auslösen, viel stärker auseinander zu setzen hat. Er kann sich bei Ablehnung einer Szene nicht einfach einem anderen Tänzer zuwenden, wie es in einer Gruppenformation möglich wäre.

Den zweiten Schwerpunkt, den Jenny Beyer thematisiert, faßt ein Satz aus der Ankündigung wie folgt zusammen: "Ein Theater- oder Tanzsolo formt in besonderer Weise Wahrnehmung und Präsenz des Publikums." Um Wahrnehmung geht es der Choreographin in zweierlei Hinsicht. Was nehmen einerseits Solist oder Solistin während des Tanzes über ihren Körper wahr und welche Möglichkeiten finden sie, sich auszudrücken? Andererseits, welche Wahrnehmung hat der Zuschauer, wie wirken die getanzten Körpererfahrungen auf ihn, kommt er zu den selben Schlüssen? Kommt es zum Austausch zwischen beiden?


Gesprächsleiterin, die vier Tänzer und der Musiker beim Podiumsgespräch auf Stühlen sitzend der Publikumstribüne gegenüber - Foto: © 2019 by Schattenblick

Beim Publikumsgespräch
V.l.: Assistentin der Dramaturgie auf Kampnagel Lenja Busch und die Tänzer Jenny Beyer, Nina Wollny, Matthew Rogers, Chris Leuenberger sowie der Musiker Jetzmann
Foto: © 2019 by Schattenblick


Der Hamburger Choreographin geht es schon seit mehreren Produktionen immer wieder um die Begegnung mit dem Publikum. Der direkte Kontakt ist für sie eine Herausforderung, die sie immer wieder bereit ist, anzunehmen. In Form der Offenen Studios pflegt sie mit ihren Mitstreitern einen regelmäßigen Austausch mit Interessierten. Diese Arbeit zeigt, die Mitwirkung von Außenstehenden ermöglicht es, ein Stück ausgereizter zu erarbeiten. "Gewisse Situationen entstehen nur, wenn Publikum dabei ist", bestätigt Jenny Beyer.

In den Offenen Studios können Sachen ausprobiert werden, auf die Choreograph und Tänzer sonst gar nicht kommen würden. Sie bekommen Feedback und führen viele Gespräche. Dies hilft herauszufinden, ob die angestrebte Aussage des Stückes auch kommunizierbar ist.

Doch die Offenen Studios erzielen nicht nur in eine Richtung Wirkung. Auch die Zuschauer haben ihren Spaß. Sie können an Trainings- und Aufwärmphasen teilnehmen und selbst Dinge ausprobieren, die auch die Tänzer mit ihren Körpern anstellen. Die Offenen Studios geben den interessierten Zuschauern die Chance, mehr Einblick in das Geschehen eines Stückes zu erlangen und somit bereits in verschiedenen Stadien die unterschiedlichen Szenen einmal oder gleich mehrmals zu erleben und sich so schon vor der Vorstellung mit dem Stoff auseinandersetzen zu können. Und was im Vorfeld dennoch unklar bleibt, hat die Chance, in einem späteren Publikumsgespräch Vertiefung zu finden.

Gerade in dieser Zeit, wo der einzelne Tänzer oder die Tänzerin ihr Potential entdeckt, entfaltet und auslebt, sich genau nicht auf einen einzigen Stil formen lassen will, ist es wichtig, dem Publikum etwas an die Hand zu geben, um in diese Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten eintauchen und aus dem Dschungel der Bilder wieder heraus finden zu können.

Welche Form auch gewählt wird - Offene Studios, Publikumsgespräch oder das Gesamtpaket -, es zeigt sich, der Austausch zwischen Akteur und Publikum ist zum Verständnis und zur Beziehung zwischen beiden wichtig, um als Zuschauer nicht mehr nur Konsument eines Stückes zu sein und als Akteur nicht mehr nur der Konsumierte.


Das Kissen mit dem Matthew Rogers getanzt hat liegt verlassen auf dem Bühnenboden - Foto: © 2019 by Schattenblick

Nach dem Tanz verlassen
Foto: © 2019 by Schattenblick


BESETZUNG

Konzept: Jenny Beyer
Solisten: Nina Wollny, Chris Leuenberger, Matthew Rogers, Jenny Beyer
Musik: Jetzmann
Dramaturgie: Igor Dobricic, Anne Kersting
Kostüm: Gloria Brillowska
Licht: Henning Eggers
Bühnenbild: Marian Gegodsz
Künstlerische Produktionsleitung: Stückliesel


Anmerkungen:

[1] Laut Programmflyer: "DÉBUT ist eine Produktion von Jenny Beyer, koproduziert von Kampnagel Hamburg, gefördert im Rahmen des Bündnisses Internationaler Produktionshäuser der Beauftragten für Kultur und Medien und der Behörde für Kultur und Medien Hamburg, unterstützt durch Residenzen in der Dampfzentrale Bern und dem Centro per la Scena Contemporanea / Bassano del Grappa"

[2] Offene Studios: Die Choreografin Jenny Beyer lädt zu sich ins Studio ein, um das Publikum an der Entwicklung einer Choreographie teilhaben zu lassen. Auch in 2019 soll es wieder Offene Studios geben.

[3] Fundoshi war die traditionelle japanische Unterwäsche für Männer und wurde aus Baumwolle hergestellt. Heutzutage wird der Fundoshi als Festkleidung oder auch als Badebekleidung getragen.


25. Januar 2019


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