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INTERVIEW/005: Simple Life Festival 2010 - Gespräch mit der Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard (SB)


"Ich bin eine Alltagspezialistin im Kunstdschungel."


Zweifellos war das Simple Life Festival, das vom 12. - 21. November das Leben am Rande der Gesellschaft in den Focus rückte und in Hamburg auf Kampnagel Künstler der verschiedensten Sparten - Tanz, Theater, Literatur - und mit den unterschiedlichsten Biografien und Lebenshintergründen auf die Bühnen brachte, eine künstlerische Bereicherung für die Kulturszene Hamburgs. In sieben mitreißenden Produktionen beeindruckten Menschen mit Behinderung, professionelle Tänzer und Schauspieler, Laien, Arbeitslose, Straßenkünstler, etablierte Regisseure und Choreografen, Obdachlose und Migranten ihr Publikum.

Zur Halbzeit des Festivals hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Amelie Deuflhard, Indentantin der Kulturfabrik und eine der Initiatorinnen dieses Events, über Ausnahmekünstler, die Ziele ihrer Arbeit auf Kampnagel, Kulturpolitik in Hamburg und anderswo, die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst, Gesellschaft zu verändern und über die Schwierigkeiten des Lebens.


Schattenblick: "Die Ambivalenz des Titels Simple Life - 'Einfaches Leben' oder 'Einfach das Leben' - wird zum Thema, wenn scheinbare Verlierer als Lebenskünstler zu Gewinnern werden. Privates wird öffentlich und die Grenze zwischen Fiktion und Realität durchlässig." So hieß es in der Ankündigung zum ersten Simple Life Festival 2004 in Berlin. Hat Hamburg vergleichbare Ambitionen, gibt es eine Tradition, an die Sie anknüpfen oder wollen Sie ganz eigene, neue Akzente setzen?

Amelie Deuflhard: Das Festival Simple Life ist auf Initiative von Jutta Schubert von EUCREA, einem Netzwerk zur Förderung behinderter Künstler, entstanden. Sie ist Hamburgerin, hat aber ihr erstes Festival in Berlin gemacht, weil meine Vorgängerin auf Kampnagel, glaube ich, keine Lust auf das Festival hatte. Ich habe es in Berlin gesehen und verfolgt und habe mit Jutta Schubert, der Kuratorin, schon bevor ich hierher kam, Kontakt aufgenommen, um das Festival in ihre Heimatstadt zurückzuholen, dahin, wo sie auch wohnt und hauptsächlich wirkt. Ich glaube, es gibt sowohl eine Tradition auf Kampnagel für diese Art von Arbeit, aber auch eine persönliche Tradition in meiner Arbeit.

Einerseits beschäftigt sich das Festival mit Außenseitern, und zwar auf einem sehr allgemeinen Level, und natürlich mit der Arbeit mit behinderten Darstellern. Es soll aber nicht so eine Art Sozial- oder Mitleidsprojekt sein, sondern soll tatsächlich, wie Sie gerade zitiert haben, das Potential aus dem Anderssein schöpfen. Ich finde das persönlich sehr spannend und ich weiß, daß es viele interessante Arbeiten gibt, die man auf dieser Basis entdecken kann, was man ja auch an dem Festival sieht. Was hier in den zehn Tagen gezeigt wird, sind allesamt Produktionen, die extrem gut zum Gesamtprogramm Kampnagel passen und sehr viele Bezüge aufweisen. Teilweise sind auch Künstler eingeladen, die bei uns schon aufgetreten sind.

Amelie Deuflhard im Gespräch mit dem Schattenblick - © 2010 by Schattenblick

Amelie Deuflhard im Gespräch mit dem Schattenblick
© 2010 by Schattenblick

SB: Jedes Projekt mit sogenannten behinderten Menschen steht ja in dem Spannungsverhältnis zwischen Präsentation eines eigenen Selbstverständnisses und der Spiegelung karitativer Ambitionen. Wie haben Sie den Konflikt für das Festival lösen können?

AD: Das Entscheidende ist: Was provoziert eigentlich die Behinderung beim Betrachter? Am Anfang, wenn man behinderte Darsteller auf der Bühne sieht, empfindet man natürlich sehr stark die Andersartigkeit. Das Potential bei einer guten Bühnenarbeit, die auch eine interessante künstlerische Arbeit ist, liegt darin, daß dieses andere plötzlich zu einer ganz besonderen Kraft wird. Das haben wir sehr gut bei dem Stück vom Dance Theatre Chang aus Korea sehen können.

SB: Da war in der Choreographie sehr schön zum Ausdruck gebracht, daß man keinen Unterschied mehr empfindet.

AD: Obwohl er am Anfang ja gezielt eingesetzt wird. Der spastische Darsteller agiert so zerbrechlich auf der Bühne, aber in dem Moment, in dem die beiden Darsteller in Interaktion treten, tritt das einfach immer mehr zurück und man vergißt es fast. Es wird zu einer großen Kraft. Ein gutes anderes Beispiel war das Konzert von Station 17, das kurz vor dem Festival stattgefunden hat. Das ist eine Band, die im Wesentlichen aus Behinderten besteht. Wenn die auf die Bühne kommen, merkt man halt, der eine ist hyperaktiv, der andere macht immer so seltsame Bewegungen, zwei sind mongoloid usw. und je länger das Konzert fortschreitet, desto weniger sieht man es. Plötzlich wird das, was eigentlich als das andere oder das nicht normale definiert wird, normal, weil einfach das Konzert so gut ist. Das ist bei allen Theater- oder auch Tanzarbeiten, die wir hier sehen, so. Auch das Stück von Gerda König ist wahnsinnig beeindruckend: Wie sich die Künstler, mit denen sie in Afrika arbeitet und die mit ihren Behinderungen dort fast eingesperrt sind und eigentlich gar nichts machen können außer Betteln, durch so eine künstlerische Arbeit verändern, wie sie plötzlich selbstbewußt werden, wie sie eine eigene Kraft bekommen, die sich auch für uns als Zuschauer vermittelt, weil sie von den Akteuren so stark empfunden wird, vielleicht noch stärker als bei nicht behinderten Schauspielern oder Akteuren.

SB: Sie haben in einem anderen Zusammenhang von einer ganz eigenständigen Kunstform gesprochen, die gerade diese Akteure mitbringen. Könnten Sie das beschreiben?

AD: Ich habe vor allem davon gesprochen, daß eine von zwei oder drei der wichtigsten Erneuerungen im Theater überhaupt, nicht nur in Deutschland, sondern global gesehen, das Dokumentartheater ist. Die wichtigsten Vertreter in Deutschland sind Rimini Protokoll, aber auch Lola Arias, die ja auch beim Festival mit dabei ist, oder Pippo Delbono, einer der ersten Vertreter und ebenfalls auf dem Festival - es gibt noch ein paar andere. Künstler also, die mit Laien in einer Art und Weise arbeiten, daß professionelle Kunst, wirklich professionelles Theater auf höchstem Niveau entsteht. Diese Methode, die ein paar Vorläufer hatte, wie eben Pippo Delbono, hat sich eigentlich erst in den letzten zehn Jahren stark verbreitet und entwickelt und ermöglicht es, mit Laien aus unterschiedlichen Feldern, mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Außenseitern oder eben mit Behinderten eine professionelle, interessante Arbeit zu machen. Und das ist eben in all diesen Sparten eine riesige Chance.

Das heißt natürlich nicht, daß alles Behindertentheater professionell ist - dieser Umkehrschluß geht nicht. Aber für Künstler, die sich darauf einlassen und die dazu Lust haben, z.B. für einen Choreographen, und das gilt auch für Chang, ist diese andere Bewegungsgrundlage natürlich ein ganz anderes Material, als wenn er mit einem Tänzer arbeitet - und daraus entsteht auch etwas anderes. In seinem Fall ist es ja noch so, daß er einen behinderten Bruder hat, daß er um die Kommunikation weiß, die da entsteht. Ich finde das einen extrem aufregenden Vorgang und ich hoffe auch, daß wir daran weiterarbeiten. Wir machen das auch jetzt schon auf unterschiedlichen Levels, so daß den Zuschauern klar wird, daß es hier nicht um Behindertentheater oder Theater mit Behinderten geht, sondern um ein Tanzstück auf höchstem Niveau. Das sind natürlich auch Vermittlungsprozesse, daran kann man nur gemeinsam arbeiten, damit da ein gewisser Bewußtseinswandel entsteht und auch ein Interesse hervorgerufen wird.

SB: Würden Sie bereits jetzt, zur Halbzeit, eine vorsichtige Prognose wagen, was den Erfolg des Festivals anbetrifft? Wen erreichen Sie?

AD: Für bestimmte Leute, die normalerweise herkommen, entsteht eine Schwelle, die sie nicht überschreiten wollen, weil sie denken, ach nein, so mit Außenseitern und auch Behinderten, da komme ich lieber nicht. Das ist die eine Sache. Und die positive Seite ist, daß jetzt Menschen kommen, die sonst nicht kommen, weil sie sich eben für das Thema interessieren. Es gibt natürlich auch eine Schnittmenge. Ich merke, daß wir unser normales Theater- oder Tanzpublikum teilweise richtig überreden müssen, weil sie denken, wir kommen lieber nächste Woche, wenn wieder richtige Tänzer oder richtige Schauspieler auf der Bühne sind. Da braucht es so eine Art von Überzeugungsarbeit. Aber ich finde, für das erste Festival, das wir hier in Hamburg in dieser Richtung machen, ist es sehr erfolgreich. Beim Tanztheater Chang war die Halle bestimmt gut halb voll - und das ist ein Choreograph, den niemand hier kennt, der überhaupt noch nie in Hamburg war. Das ist für einen ersten Schritt ganz gut.

Amelie Deuflhard - © 2010 by Schattenblick

Positive Bilanz
© 2010 by Schattenblick

Was ich mir natürlich immer wünsche ist, daß da so ein richtiger Hype entsteht, das, würde ich sagen, ist noch nicht passiert, aber das schaffen wir dann eben beim zweiten Mal in Hamburg. Ich bin wirklich sehr, sehr zufrieden mit der Auswahl der Produktionen und ich finde, das ist ein spannendes, ein rundes Festival, das uns sehr unterschiedliche ästhetische Handschriften nahebringt, wo es aber trotzdem eine Verbindung zwischen den Arbeiten gibt. Dieser erste Doppelabend mit den Zwillingen und der Frage: Was bedeutet es für die Identität, Zwilling zu sein? von Lola Arias zusammen mit dem zweiten Stück dieses Abends mit den beiden Brüdern - das sind unglaublich interessante Gegenüberstellungen. Das eine Stück ist von einem Choreographen aus Korea, das andere von einer Regisseurin aus Argentinien, da sieht man dann, daß es universelle menschliche Probleme sind, wozu aus diesen ganz unterschiedlichen Kontinenten Arbeiten herkommen, die hohe Bezüge aufweisen.

SB: Das Besondere an dem Festival, wie es jetzt hier auf Kampnagel stattfindet, ist ja auch, daß Sie nicht nur sogenannte behinderte Künstler präsentieren, sondern Künstler aus den verschiedensten Randbereichen der Gesellschaft: neben Menschen, die nicht in einem der Norm entsprechenden Körper wohnen, solche in prekären Lebenssituationen, Migranten, arbeitslose Jugendliche wie in Evgeni Mestetschkins Stück Lady, Lady on the Sea-Shore. Es gibt - Sie haben es gerade gesagt - manchmal Schwellen oder auch Berührungsängste zu überwinden, was vielleicht auch nicht immer gelingt. Carina Kühne von der Redaktion Ohrenkuss, einem Magazin von Menschen mit Down-Syndrom, hat am Ende einer Veranstaltung einmal erklärt: "Das Down-Syndrom ist keine Krankheit. Man leidet nicht darunter, sondern nur an der Ablehnung der Menschen." Das heißt, daß das Anderssein nicht, wie ja auch in dem Zitat deutlich wird, von den jeweilig Betroffenen ausgeht, sondern von der Gesellschaft zugeschrieben wird. Wäre das der politische Aspekt eines solchen Festivals, eine Ausgrenzung von gesellschaftlicher Seite deutlich zu machen, die ja immer mehr Menschen betrifft und in Zukunft betreffen wird, denn immer mehr Menschen geraten ja in die sogenannten Randbereiche?

AD: Ja absolut. Es ist ja immer so, gesellschaftlich gesehen, daß die Mehrheit, in der Kunst der Mainstream, die Normalität definiert. Und es gibt im Grunde genommen keinen besseren Raum als Kampnagel, der ja ein Raum für die Avantgarde ist - und die Avantgarde ist schon immer explizit nicht Mainstream gewesen -, um sich mit solchen gesellschaftlichen Phänomenen zu beschäftigen. Wir machen da keinen Punkt. Weder in der Kunst versuchen wir, die Mehrheit zu bedienen noch in unseren politischen Ansichten, sondern wir versuchen, kritisch in Kunst und Gesellschaft hineinzufragen, reinzuhorchen. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, der Außenseiter definiert sich nicht selbst als Außenseiter, sondern wird von dem Teil der Gesellschaft definiert, der sich die Definitionshoheit anmaßt.

Amelie Deuflhard - © 2010 by Schattenblick

Kunst muß kritisch in die Gesellschaft hineinhorchen
© 2010 by Schattenblick

Mongoloide Menschen sind ja unglaublich charmante, begabte, kommunikationsoffene Menschen, nur hat sich die Mehrheit der Gesellschaft, auch dadurch, daß seit dem Prozeß der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Außenseiter aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, zunehmend abgewöhnt, mit Außenseitern überhaupt in Kontakt zu treten. Es gibt einfach ganz viele Menschen, die wissen gar nicht, wie man mit Menschen, die anders sind, umgeht, egal, ob das Obdachlose, Epileptiker, Mongoloide, Arbeitslose oder Drogenabhängige sind, die haben den Zugang verloren. Und das ist natürlich auch ein Ziel dieses Festivals, möglichst vielen den Zugang wieder zu eröffnen und dazu anzuregen, ein bißchen wacher durch die Gesellschaft zu gehen und auch andere Kontakte aufzunehmen als nur zu ihresgleichen. Das andere zu suchen und in Kommunikation treten zu wollen, das ist ja eigentlich das, was wünschenswert wäre, damit eine Gesellschaft in all ihrer Unterschiedlichkeit zusammenleben kann.

SB: In Ihrer Programmankündigung sprechen Sie von den Akteuren als "Menschen in besonderen Lebenssituationen, die besondere Kreativität erfordern". Welcher Bereich als die Kunst im Allgemeinen und Kampnagel sicherlich im Besonderen wäre mehr dazu geeignet, genau solche Kreativitäten auf die Bühne zu bringen.

AD: Absolut. Ich glaube natürlich auch - und das ist nicht so eine Art Glauben, der ins Diffuse geht, sondern ich bin aus meiner Arbeit heraus davon überzeugt -, daß künstlerische Projektarbeit einfach extrem stärkend ist für das Selbstwertgefühl, das Selbstbewußtsein. Das befördert ganz viele Kompetenzen: sich auf andere einlassen, zuhören können, lernen, sich selber auszudrücken. Das ist einfach ein Ergebnis meiner Arbeit, deshalb glaube ich so sehr an Projektarbeit und ich finde, wir können es hier bei dem Festival jeden Abend wirklich sehen, wie die Menschen da gestärkt werden. Das sind natürlich immer nur Utopien im Kleinen, das gilt nur für die einzelne Arbeit. Man wird mit so einem Festival nicht gleich die Gesellschaft verändern, aber ich finde, man schafft immer kleine Verschiebungen des Blicks. Das ist ja was ganz Wichtiges, daß sich der Blick verschiebt, daß man plötzlich die Menschen - das kann in einem Stück, das kann aber auch im öffentlichen Raum, auf einer Kreuzung oder im Kaufhaus sein - plötzlich anders wahrnimmt. Und ich glaube, es sind diese kleinen Blickverschiebungen, die wir mit interessanten Arbeiten in der Kunst sehr gut bewirken können.

SB: Als Sie 2007 die Intendanz auf Kampnagel übernommen haben, haben Sie gesagt, Sie hätten sich zur Aufgabe gesetzt, den Anfangsmythos von Kampnagel wieder zu entdecken, zu erforschen und neu zu beleben. Hat das etwas mit dieser von Ihnen eben beschriebenen Richtung zu tun oder was ist der Anfangsmythos von Kampnagel?

Amelie Deuflhard (re.) mit SB-Redakteurin im Gespräch - © 2010 by Schattenblick

Amelie Deuflhard (re.) mit SB-Redakteurin
© 2010 by Schattenblick

AD: Ich wollte wissen, was gemeint ist, wenn Leute gesagt haben: Kampnagel war früher ganz toll. Kampnagel war sehr stark in der Vergangenheit verortet, ich wollte wissen, warum. Und inzwischen habe ich es auch rausgefunden: Das war einfach dieser Gründungsmythos, die Anfangszeit, der lange Kampf um das Gelände. Den kann man natürlich nicht mehr zurückholen. Aber wenn ich die Vitalität, die Aufbruchsgefühle oder auch die Einmischungen in die Politik der Stadt und der Gesellschaft ansehe, ist es, glaube ich, mir und meinem Team tatsächlich ganz gut gelungen, Kampnagel wieder sehr deutlich in die Gegenwart zu rücken. Wir haben es auf der Landkarte der Hamburger Kulturinstitutionen, wo Kampnagel ja immer eine wichtige Rolle gespielt hat, gestärkt und bei vielen wieder mehr ins Bewußtsein gerückt.

SB: Nicht nur in Hamburg wird jetzt viel von Kürzungen, von Schließungen von Theatern und Museen gesprochen. Welche Vision haben Sie angesichts der Streichung von Fördermitteln für die Kultur in dieser Situation? Wohin treibt die Kunst?

AD: Die Wirtschaftskrise, in der wir uns ja angeblich noch befinden, ist ja eigentlich schon wieder vorbei, aber darüber redet die Politik nicht. Deutschland hat glänzende Wirtschaftszahlen, aber im Moment muß das ganze Geld, das zur Unterstützung der Wirtschaft ausgegeben werden mußte, was durchaus auch Sinn ergibt, wieder zurückgeholt werden von anderen Institutionen. Eigentlich geht es um einen Transfer aller öffentlichen Einrichtungen.

Jetzt ist natürlich die Frage, ob es sinnvoll ist, weniger Geld für Kultur auszugeben. In einer Großstadt wie Hamburg ist es meiner Meinung nach nicht sinnvoll, weil längst nachgewiesen ist, daß sich jeder Euro, der in Kultur investiert wird, in großen Städten vervielfacht, wenn er sinnvoll investiert wird. Aber auf der anderen Seite finde ich schon richtig, daß Kulturinstitutionen evaluiert werden, daß sie Konzepte schreiben müssen für die Zukunft. Wir machen das auch ständig und ich finde es gut, wenn man das auf alle Kulturinstitutionen bezieht.

SB: Was jetzt im Altonaer Museum passiert?

AD: Genau, das finde ich prima. Allerdings sollte man diese Konzepte allen abverlangen und sich erst dann überlegen, wie man was verändert, aber nicht einfach mal zwei Institutionen rausgreifen, denen ganz viel wegnehmen und dann sagen, jetzt gucken wir mal.

SB: Welchen Platz und Stellenwert kann Kunst in einer Zeit, wo zunehmend nach Verwertungs- und Verwertbarkeitskriterien gehandelt und entschieden wird, überhaupt haben?

AD: Was ist denn Kultur? Was ist Kunst? - Das ist ja alles, was unser Zusammenleben ausmacht. Wie unsere Städte aussehen - Architektur -, was wir essen - Eßkultur -, wenn wir ins Theater gehen und uns ja nicht nur mit dem Heute, sondern gleichzeitig auch mit der Literaturtradition auseinandersetzen, wenn wir Museen besuchen. Wenn wir das aufgeben, dann ist unser Zusammenleben gerade in den Großstädten nur noch ein rein funktionales. Das wäre eine totale Katastrophe. Das ist die inhaltliche Ebene. Auf der kommerziellen Ebene gibt es eine Entsprechung: In Wien ergaben Studien des Finanzministeriums, daß sich jeder Euro, der in Kultur investiert wird, verdreifacht, in Berlin gibt es Studien, daß sich jeder Euro, der in Kultur investiert wird, vervielfacht und ich bin ganz sicher, daß wegen des Imageverlustes, den die Hamburger Politik in den letzten Monaten mit ihren Kulturkürzungen verursacht hat, um ein Vielfaches ins Marketing investiert werden muß, um den Schaden auszugleichen. Kultur schafft Image für Städte und ist ein unglaublich wichtiger Faktor, das weiß jeder. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Hamburger das ignorieren.

In Hamburg ist, wie gesagt, der Stellenwert von Kunst- und Kultur nicht sehr hoch. Es ist eine Handelsstadt, die Kaufleute denken wie Kaufleute und die haben hier die Meinungsführerschaft. Viele meinen, daß es schon okay ist mit der Kunst, aber daß sie nicht von der öffentlichen Hand subventioniert sein darf, und viele haben dazu auch noch das Gefühl, es wäre besser für die Kunst, wenn sie privat subventioniert wird. Ich z.B. finanziere die Projekte, die wir machen, aus sehr unterschiedlichen Quellen, also durch öffentliche Förderung, aber wir akquirieren auch sehr viel Geld privat. Ich will Projekte machen, sowohl produzieren als auch zeigen, und ich will die Dinge, die ich interessant finde, auch auf die Bühne bringen. Dafür hole ich dann privates und öffentliches Geld, für mich ist das eine nicht schlechter als das andere.

SB: Der Hamburger Kulturschlüssel ist ein Versuch, die Tür zur Kultur auch für die Menschen zu öffnen, die sich das normalerweise nicht leisten können. Sehen Sie im Zusammenhang dessen, was Sie eingangs gesagt haben, die Gefahr, daß diese Initiative ähnlich wie die Tafeln zu einer karitativen Einrichtung verkommt und den Staat von Verpflichtungen entlastet, die eigentlich zu seinen grundlegenden Aufgaben gehören?

AD: Ich finde alle Arten und alle Methoden, die man entwickeln kann, um die Zugangsschwellen zu Kunstinstitutionen zu senken, wichtig und lobenswert, jede einzelne. Eine davon ist z.B., daß Eintrittspreise ganz günstig sind oder wegfallen, aber oft reicht noch nicht mal das. Die Menschen, die kein Geld haben, sind oft wenig mit Kultur vertraut und kommen nicht selten aus Familien, die sie kaum an diese Dinge heranführen. Deshalb sollten die Schulen verpflichtet werden, regelmäßig drei- oder viermal im Jahr Kunstinstitutionen zu besuchen - das wird aber auch nicht gemacht. Daß es nichts kostet, ist nur eine Methode, gleichzeitig muß man aber die Menschen aus kulturfernen sozialen Umfeldern auch sehr aktiv einführen, sie an Kunst und Kultur gewöhnen. Und das geht am besten über Institutionen, also z.B. über Schulen, wo wir auch ganz viel Arbeit machen. Gerade in Theatern und Museen ist das Klientel traditionell sehr bürgerlich, und ich finde es wichtig, das weiter zu öffnen. Mit Kampnagel haben wir natürlich einen Ort, wo durch den Fabrikcharakter die Zugangsschwellen etwas niedriger sind als in der Staatsoper oder im Thalia-Theater.

Amelie Deuflhard - © 2010 by Schattenblick

Das Leben ist nicht immer schön
© 2010 by Schattenblick

SB: Noch einmal zum Festival zurück: Was bedeutet der wunderschöne Begriff und Titel Simple Life für Sie ganz persönlich?

AD: Das ist schwer zu sagen, weil der Titel ein sehr großes Assoziationsfeld aufmacht. Ist das Leben einfach? - Es ist doch eigentlich total schwierig und kompliziert. - Warum eigentlich Simple Life? - Was meinen die damit? - Sind jetzt die Außenseiter einfacher, oder haben die es leichter? - Das stimmt doch gar nicht. - Man fängt an nachzudenken. Und das ist es ja eigentlich, was wir mit Kunst wollen: nicht die Welt erklären, sondern Fragen stellen.

SB: Und wozu bedarf es dieses Zusatzes: "Das Leben ist zu schön, um einfach zu sein"?

AD: Der ist tatsächlich ein bißchen pathetisch. Für mich klingt das ein bißchen sehr positiv, weil das Leben eben auch ganz furchtbar sein kann. Und einfach ist es auch nicht. 'Leben' macht was auf, 'einfach Leben' oder 'einfaches Leben', da macht sich was auf, aber der Untertitel ergibt für mich jetzt nicht so viel Sinn, denn ich bin nicht der Meinung, daß das Leben so schön ist - und für alle schon gar nicht und auch für jeden einzelnen ist es nicht immer schön.

SB: Was qualifiziert die Akteure des Festivals im besonderen Maße zu "Spezialisten des Alltags", wie es im Programm heißt?

AD: "Spezialisten des Alltags" ist ein Zitat. Ich weiß nicht einmal genau, ob es von Rimini Protokoll, diesen Superspezialisten des Dokumentartheaters, erfunden oder lediglich übernommen wurde. Natürlich sind wir alle Spezialisten des Alltags, jeder für seinen Alltag und seine Besonderheit. Wenn ich ein Zwilling bin, bin ich natürlich Spezialistin für den Alltag als Zwilling. Ich bin es nicht, weil ich kein Zwilling bin. Aber ich bin auch eine Spezialistin des Alltags - für den Kunstdschungel. Und wenn man mongoloid ist, ist man Spezialist dafür, wie man als mongoloider Mensch durch die Gesellschaft kommt und genau, wie Sie vorhin gesagt haben, mit dem Blick der anderen umgeht, die vielleicht manchmal ausweichen, obwohl man gerade auf sie zugehen möchte. Oder wenn ich dunkelhäutig bin oder aus Afrika oder der Türkei komme, selbst, wenn ich in der dritten Generation in Hamburg lebe, bin ich Spezialist oder Spezialistin dafür, daß es noch jede Menge Rassismus in der Gesellschaft gibt, denn den habe ich an meinem eigenen Leib erfahren. Ich weiß zwar auch, daß es Rassismus in der Gesellschaft gibt, aber diesen Blick, den kenne ich nur aus Fernsehdokumentationen, diesen immer wiederkehrenden Schmerz oder dieses Zurückgeworfensein. Das Anderssein kann ich mir vorstellen, aber das habe ich so selber natürlich nie erfahren. Und so ist es gemeint mit den "Spezialisten des Alltags".

SB: Würden Sie sagen oder befürchten, daß, entgegen den Ambitionen dieses Festivals, die Arbeit mit sogenannten Behinderten z.Zt. auch ein bißchen Trend ist?

AD: Das ist für mich schwer zu sagen, weil ich das bestimmt schon seit fünfzehn Jahren mache. Ich glaube es aber eigentlich nicht. Diese Arbeiten kommen ja schlußendlich immer oder häufig aus einer Art von sozialen Einrichtung, wo Behinderte sind. Die beiden von dieser australischen Truppe, die ich kenne, leiten selber so ein Zentrum, sind aber gleichzeitig beide Künstler, arbeiten auch mit Schauspielern und touren um die ganze Welt. Das Theater Thikwa in Berlin ist eine Einrichtung von den Werkstätten, wo es auch Theatergruppen gibt und wo ein Teil der Menschen, die dort leben und arbeiten, wirklich tolle Künstler sind. Auch Station 17 ist ein offener Pool, wo Bildende Kunst, Musik und Theater gemacht wird. Ich glaube nicht, daß es ein Trend ist, ich glaube eher, daß es einer Erkenntnis folgt, so wie man jetzt in Schulen sagt: Es tut den Schülern gut, wenn auch getanzt und Musik gemacht wird. Studien zufolge befördert es die Intelligenz, wenn Schüler lernen, sich anders auszudrücken. Oder es gibt Kinder, die vielleicht sprachlich noch nicht so weit sind, weil sie Migranten sind oder weil sie es zu Hause nicht so gelernt haben oder weil sie aus sozialen Milieus kommen, wo die Sprache nicht so gefördert wird, die sind vielleicht in der Bewegung sehr gut und entfalten darüber Selbstbewußtsein.

Ich glaube, daß eher das Thema Migration, was ja hier im Festival auch eine Rolle spielt, tatsächlich gerade neu entdeckt wird. Da werden in den nächsten Jahren noch viel mehr Arbeiten entstehen, auch geleitet von Künstlern migrantischer Herkunft. Das ist für Theater und Tanz ja auch eine interessante Möglichkeit, weil es eine Sprache in der Kunst ist und ich glaube, da wird ganz viel kommen. Das fängt gerade erst an. Von daher würde ich nicht sagen, das ist ein Trend und der flaut wieder ab, sondern ich würde gerade das Gegenteil sagen: Es wurde 20 Jahre lang vernachlässigt. Ich nenne es eher eine überfällige Notwendigkeit.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Blick in eine Halle der Kulturfabrik Kampnagel - © 2010 by Schattenblick

Viel Platz für Kultur - Nach dem Festival ist vor dem Festival
© 2010 by Schattenblick

Weitere Beiträge zum Simple Life Festival unter :

Schattenblick -> INFOPOOL -> THEATER UND TANZ -> REPORT -> BERICHT

Bisher erschienen:

BERICHT/017: "Patterns Beyond Traces" - Eine ghanaisch-deutsche Befreiung (SB)
BERICHT/016: Lady, Lady on the Sea-Shore auf der Kampnagel Bühne (SB)
BERICHT/015: Dancetheater Chang beim Simple Life Festival auf Kampnagel (SB)
BERICHT/014: Simple Life Festival auf Kampnagel in Hamburg (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> THEATER UND TANZ -> REPORT -> INTERVIEW

Bisher erschienen:

INTERVIEW/004: Gespräch mit Evgeni Mestetschkin auf dem Simple Life Festival 2010 (SB)
INTERVIEW/003: Der koreanische Choreograph Nam-Jin Kim über den Fokus seines künstlerischen Schaffens (SB)

22. November 2010