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INTERVIEW/021: Schwung avantgarde, archaischer Gruß ...    Andrej Petrovic im Gespräch (SB)


iTMOi [IN THE MIND OF IGOR]
Akram Khan Company, Großbritannien, auf Kampnagel in Hamburg, Februar 2015

Über sich, Chaos und die Gewalt dazwischen

von Britta Barthel


Der Publikumsraum in der K6 - die größte der Bühnen auf Kampnagel in Hamburg - kommt langsam zur Ruhe, man hat das Gefühl, dass bald das Licht ausgehen könnte. Da ertönt mit einem Schreckmoment, der den Raum verstummen lässt, eine Stimme aus allen Ecken des Saales, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Tief, dominant und laut ist im ersten Augenblick nur ein grollendes Verschlucken von Worten zu hören. Die Lichter gehen aus. Auf der Bühne fängt es an zu schimmern, matt, orange und sehr dunkel. Dann sind langsam auch Worte aus dem Grollen zu entnehmen, fast würde man meinen, es sei ein Bibelzitat. Von Abraham ist die Rede. Der Mann, welcher Ursprung der Worte ist, lässt nicht erkennen, ob der Umhang, den er trägt, oder seine Haut schwärzer sind. Machtvoll sind seine Bewegungen und er beherrscht damit die ganze Bühne. Man hat die Empfindung, von schwarzer Materie angezogen zu sein. Der Eindruck einer Unterwelt entsteht, nicht zuletzt durch die teufelsgleiche Dämonengestalt, die direkt neben ihm in dem dämmrigen Licht erkennbar ist, dann aber wie vom Erdboden verschluckt wird.


Drei Tänzer: der Mann im schwarzen Umhang, der eine Frau abführt und die weiße Frau - Foto: © JLouis Fernandez

Foto: © JLouis Fernandez

iTMOi ist eine Auftragsarbeit. Akram Khan wurde zum 100. Jubiläum des Balletts "Le Sacre du Printemps" (von Igor Strawinsky) gebeten, zu diesem eine Choreografie zu erarbeiten. Nicht nur Außenstehende, die ein wenig um die Materie dieses Werkes wissen, horchen bei so einer Anfrage auf. Auch Akram Khan, Londons sowohl im indischen Tanzstil Kathak als auch im Zeitgenössischen Tanz hervorragend ausgebildeter Star-Choreograf, kam ins Grübeln und ging nicht den einfach vorgezeichneten Weg. "'Le Sacre du Printemps' ist ein vielfach bearbeitetes Werk, nicht zuletzt das, mit dem Pina Bausch eines ihrer Meisterwerke auf die Bühne brachte. Ich kann 'Sacre' bearbeiten, aber ich muss meinen Zugang hierzu finden, es wird anders betrachtet als alle Frühlingsopfer zuvor." So oder so ähnlich werden Khans Gedanken gewesen sein. Tatsache ist, dass er bewusst einen anderen und sehr eigenen Zugang zu dem Werk gesucht und gefunden hat. Es ist die Musik, die hierzu alles entscheidend war. 'iTMOi' oder auch 'In The Mind Of Igor' beginnt seine Reise in der Musik, genauer in ihren Mustern. Auf der Suche nach Strawinskys Intentionen, nach allem, was von dem Komponisten selbst in der Musik ist, begab er sich mit seiner Company auf eine Reise in ihre Eingeweide. Und da der klassische Kathak sehr stark im Rhythmischen basiert, ist es für Khan ein persönlicher Zugang, die Forschung über die Musik, ja geradezu über die Mathematik zu beginnen. Dadurch konnte er dem Blick auf das doch sehr emotionale Thema einen viel größeren Raum verschaffen und somit auch eine ganz neue Perspektive entdecken.

Herausgekommen ist eine Arbeit, die keinesfalls - so wie es sich vielleicht im vorigen Absatz angehört haben mag - der höheren Bildungsbürgerschicht vorbehalten ist. Sie beginnt im tiefsten aller Abgründe, das ist dem Zuschauer auf Anhieb klar. 'iTMOi' dauert rund eine Stunde. Im Zentrum steht wie in dem klassischen Ballett das Opfer, das eine Jungfrau ist, die dem Frühlingsgott zur Versöhnung gegeben wird. So erstehen nicht nur dunkle Gestalten wie der ganz schwarze Mann, der - wirkt er doch zu Anfang dominant und stark - mit der Zeit zunehmend an Souveränität verliert, was wiederum dem Charakter Vielschichtigkeit verleiht. Oder der Teufelsdämon, das Tier, welcher sich fast ausschließlich wie eine Wildkatze dicht über dem Boden bewegt. Es gibt auch jene, die weit über das reine Dunkle hinausgeht, am besten zu beschreiben als 'Lady in Weiß'. Sie ist ruhig, fast unbewegt, und hat doch das gesamte Geschehen in der Hand, wie sie es will. Das Opfer nun ist schnell und sehr leicht auszumachen. Geradezu etwas simpel gestrickt, würde der überlegte Zuschauer wohl sagen. Bis zu dem Moment, in dem die Grenzen verschwimmen. Denn Es und die 'Lady in Weiß' führen einen prädominanten Bewegungsdialog, bei dem sich am Ende die Frage stellt: Wer ist denn nun das Opfer, die 'Lady in Weiß' oder vielleicht doch das Offensichtliche, oder haben sie vielleicht auch gar keine Verwandtschaft?
Die liegt, und sollte auch liegen, einzig in der Phantasie des Betrachtenden.

Klar ist aber eins, Akram Khan hat ein Werk erschaffen, das ein neues Licht wirft auf den Frühling und das Opfer und auch auf Igor Strawinskys kreatives Schaffen selbst. All dies tat er mit Qualitäten, die Kenner an seiner Arbeit lieben und schätzen: vielfältige und doch mit seiner Handschrift versehene Bewegungsgewalten, die tatsächlich nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Sie erschaffen durch die Kunst der Bewegung und, untermalt mit symbiotischem Kostüm und Bühnenbild, entreißen sie in andere Sphären.

Und nun dies zum Schluss: iTMOi basiert auf Strawinskys "Le Sacre du Printemps", hat aber in keinem Moment auch diese Musik auf der Bühne. Khan hat für seine Arbeit mit drei Komponisten zusammen gearbeitet: Nitin Sawhney, Jocelyn Pook und Ben Frost.

In The Mind Of Igor - ein Stück, das einem ganz dicht auf den Pelz rückt. Gefragt wurde ja auch nach dem Kern, dem Inneren. Die Methode jedoch begann mit der Distanz. Die Magie ist das Spannungsfeld dazwischen.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Andrej Petrovic, Probenleiter der Akram Khan Company
Foto: © 2015 by Schattenblick


Andrej Petrovic, Probenleiter der Akram Khan Company, über Akram Khans Arbeit, seine Methoden und das, was für ihn das ganz Besondere an 'iTMOi' ist.

Schattenblick (SB): 'Le Sacre du Printemps' ist das Thema der Arbeit des heutigen Abends. Auch wenn Khans Herangehensweise an die Musik seine ganz eigene ist, ist der Stoff unter den Choreografen in aller Welt ein sehr beliebtes Thema. Pina Bausch ist nur eine der berühmtesten Künstlerinnen, die damit gearbeitet haben. Wie ist Khan dazu gekommen, ein Werk zu schaffen, das darauf basiert? Ist es vielleicht ein langgehegter Traum, sich mit diesem Stück der Tanz- und Musikgeschichte zu beschäftigen, den er sich erfüllt hat, oder war es eine eher neue Idee? Oder vielleicht auch keins von beidem?

Andrej Petrovic (AP): Das erste, was dazu gesagt werden muss, ist, dass dies eine Auftragsarbeit war. Es war also nicht etwa seine Idee, nun spezifisch hiermit zu arbeiten. Es war das hundertjährige Jubiläum des 'Frühlingsopfers', das - ich glaube - 1914 kreiert wurde. Als dieses Jubiläum anstand, gab es viele Theater-Intendanten, die Choreografen fragten, ob sie zu diesem Ereignis etwas machen möchten. So wurde auch Akram gefragt, ob er zur Feier 'Das Frühlingsopfer' choreografieren will. Aber Akram wollte nicht mit der Originalpartitur an die Arbeit herangehen. Denn Pina Bauschs Arbeit hierzu ist ja schon als Meisterwerk angesehen. Er sagte sich also: "Ich kann hier nichts mehr machen, was das noch toppen würde. Ich kann nichts nach- oder noch einmal kreieren, wo es schon etwas gibt, was ich selbst als die beste Version des 'Frühlingsopfers' ansehe, die es geben kann." Also entschied er sich, über Igor Strawinsky zu recherchieren und Nachforschungen anzustellen, was für eine Persönlichkeit, was für ein Mensch er war. Was waren seine Intentionen? Was wollte er? Wie war seine Kindheit? Wie ist er aufgewachsen? Er fand heraus, dass Igor Strawinsky ein großer Komponist war, sich gegen das System stellte, gegen die Regeln. In gewisser Weise kann man sogar sagen, dass er Aufstände inszenierte. Denn in dem Jahr, als er 'Das Frühlingsopfer' kreierte, waren alle Komponisten, alle Musiker der eindeutigen Auffassung, dass das, was sie da hörten, absoluter Mist war, keine Musik. Verboten geradezu, so überhaupt Musik zu komponieren. Aber hundert Jahre später wurde es als Meisterwerk anerkannt.

Also sagte sich Akram: Ich werde ein Stück entwickeln, das ständig in sich gebrochen wird. So dass es für das Publikum nicht den Ansatz einer Chance gibt, vermuten zu können, was als nächstes kommt. Er wollte das Geschehen immer verdrehen, so dass der Fluss nicht vorhersehbar, zu erraten ist, nach dem Motto '... oh und als nächstes wird es so, jetzt kommt ein langsamer Teil ...' Er wollte in der Ästhetik, in der Bewegung kontinuierlich eine andere Form, eine andere Qualität haben, so dass die Leute sich, man könnte sagen, nie entspannt, nie ganz wohl fühlen. Das war also die stärkste, wichtigste Idee oder Basis, die er für das Stück hatte. Danach haben wir nur noch daran gearbeitet, wie wir es dramaturgisch ausgestalten. Wir machten viel Improvisation, Spiele, wir versuchten verschiedene Bewegungsqualitäten zu finden. Unsere Tänzer kommen aus einer großen Anzahl von Ländern: Barbados, Deutschland, Philippinen, Albanien, Taiwan, Korea, von überall her. Jeder von ihnen ist anders ausgebildet, in anderen Stilen. Als wir improvisierten, versuchte jeder, an die Aufgaben auf seine Art heranzugehen, so wie er sie interpretieren würde. Zum Beispiel haben wir zwei Jungs, die B-Boy Tänzer sind, also wie Breakdancer. Das ist komplett anders. Deswegen, denke ich, hat er das Stück um diese Leute herum aufgebaut, so dass sie Vorschläge machen konnten, dem Stück laufend etwas geben konnten, und infolge dessen immer wieder eine Veränderung entsteht und ein ständiger Bruch. Hinzu kommt, dass er mit drei Komponisten zusammen gearbeitet hat: Nitin Sawhney, Jocelyn Pook und Ben Frost. Alle drei haben komplett unterschiedliche Musikrichtungen komponiert.


Foto: © 2015 by Schattenblick

'Er will in der Ästhetik, in der Bewegung kontinuierlich eine andere Form, eine andere Qualität haben, so dass die Leute sich nie entspannt, nie ganz wohl fühlen.'
Andrej Petrovic über Akram Khan
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Es ist interessant, das zu hören. Ich habe mich schon gefragt, wie er da herangehen würde, nachdem schon so viele Künstler vor ihm mit dieser Musik gearbeitet haben ...

AP: Ja, absolut, da gibt es viele verschiedene Stile und Qualitäten der Tänzer, da ist ein unglaubliches Lichtdesign, wie ich finde, da sind interessante Kostüme, plus die Musik ... Naja, in gewisser Weise kreiert die Choreografie noch immer ein Universum und hat eine sehr schöne Dramaturgie. Es ist natürlich dem Publikum gelassen, wie sie das sehen. Aber für mich ist es wie ein Traum, ständige Veränderung, es ist wie CHAK.CHAK.CHAK.CHAK.CHAK ... Er sagte sich, ich muss etwas über Igor Strawinsky gestalten, wie ich ihn als Person sehe.


Foto: © JLouis Fernandez

'Ein unglaubliches Lichtdesign, interessante Kostüme, die Choreografie kreiert ein Universum ...'
Foto: © JLouis Fernandez

SB: ... viel mehr als über die Idee, die Dramaturgie der Geschichte ...

AP: Ja, genau. Aber dennoch sind wir bei der Idee des Opfers geblieben. Da ist eine Person, die geopfert wird. Am Ende stirbt etwas, wird etwas geopfert, damit etwas anders neu geboren werden kann.

SB: 'iTMOi' ist der Titel des Stückes. Es steht für 'In The Mind Of Igor'. Ich habe gelesen, dass Khans Herangehensweise an diese Arbeit eher mathematisch als emotional war. Ist das der Versuch, eine eher abstrakte als eine emotionale Annäherung an das Thema zu bekommen? Vielleicht auch eine Möglichkeit, mehr über Strawinskys Intentionen in Bezug auf den Inhalt zu herauszufinden?

AP: Was ich sagen kann, ist, dass Khan sehr gut mit Rhythmen und Zahlen ist. Denn Kathak hat eine sehr mathematische Herangehensweise. In seiner Ausbildung als Kathak-Tänzer geht es ständig ums Zählen, um Zahlen. Du bist in einer ständigen Schleife und du zählst. Deshalb ist er einzigartig. Wie er den Rhythmus, die Dynamik fühlen kann, das ist ziemlich unglaublich.

Wenn wir nun Bewegungen erarbeitet haben, ging das Hand in Hand. Es gab emotionale Übungen und dann wieder ganz abstrakte Ideen, zum Beispiel: Lass uns spielen, dass wir ein Ball sind und lass uns eine Bewegung darin finden. Oder stell dir vor, dass du ein Stein bist und wie du als Stein tanzen kannst. Dann ist da ein Rhythmus ... Naja, und wenn er in diesen abstrakten Übungen etwas findet, was er richtig mag, eine Bewegung, dann versucht er, sie in das Stück einzubauen. Er gibt der Bewegung dann eine Geschichte, so dass es einen emotionalen Einfluss gibt. Dadurch ändert sich die abstrakte Bewegung dann wieder, basierend auf der Idee der Emotion. Wenn du erst einen Ball spielst und dann aber plötzlich hinzukommt, dass du stirbst, ändert das den Rhythmus der Bewegung und auch ihre Qualität. Es wird plötzlich zu dem, was du fühlst.

SB: Etwas zu abstrahieren ist manchmal ein guter Weg, eine andere Perspektive zur Emotion zu bekommen und dadurch vielleicht sogar einen noch größeren emotionalen Effekt in dem Werk zu erzielen.

AP: Ja, ganz genau, das kann man. Es kommt immer darauf an, wie der Instinkt des Choreografen ist, ob er gut im Bereich der Intuition ist. Wenn er das ist, dann kann er abstrakte Dinge phantastisch aussehen lassen. Es gibt andere, die haben abstrakte Ansätze, die dann aber nirgendwo hin führen.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit SB-Redakteurin im Gespräch
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Aus seiner Arbeit ist ja zu erkennen, dass Akram Khan einfach gut damit sein muss.

AP: Ja, ganz klar. Als wir anfingen mit der Arbeit an iTMOi, war das ein langer Prozess. Wir hatten Dramaturgen da, wir hatten einen Komponisten, die mit zu den Proben gegangen sind, geschaut haben und Fragen stellten. All diese Leute, die engsten Kollaborateure, wollten wirklich eine Menge wissen. Das gab ihm die Möglichkeit, mehr und mehr Klarheit in die Dinge zu bringen, auch für die Tänzer zum Beispiel. Er konnte sie so besser führen.

SB: In der Reihe seiner Arbeiten ist DESH, welches 2011 entstand, bekannt als eines seiner persönlichsten Stücke. Bezogen auf den Begriff 'persönlich', wo würdest du iTMOi für Akram Khan sehen? Wir sprachen schon darüber, dass es eine Auftragsarbeit ist, trotz allem möchte ich diese Frage stellen.

AP: Dazu kann ich sagen, er ging an Igor Strawinsky so heran, dass er etwas finden musste, was er als persönlich betrachten konnte. Etwas, womit er sich identifizieren konnte. Wenn er es einfach nur als Auftrag genommen hätte, als "Okay, mache etwas zu 'Le Sacre du Printemps', das brauchen wir", hätte es wahrscheinlich nicht diese Ambition gehabt. Natürlich, er hätte etwas aus einer anderen Perspektive geschaffen, aber es würde sich nicht anfühlen wie 'Okay das kommt jetzt von mir, das will ich machen'. Folglich hat er es in gewisser Weise für sich umgedreht. Er sagte sich: "Da ist diese Chance, die ich habe, aber ich muss meine eigene Vision davon bekommen." Das gibt ihm eine Menge Freiheit, und dann wird es persönlich, dann kann er sich selbst einbringen. Aber sicher gibt jeder Choreograf etwas in seine Arbeit, was von ganz tief in ihm kommt. Und dann kommt es auf die Bühne wie ein versteckter Teil, der gezeigt wird. DESH hingegen ist nochmal anders. DESH ist schlicht und einfach seine Geschichte. Seine Erfahrung als Kind, seine Erfahrung, älter beziehungsweise erwachsen zu werden. Während iTMOi eine Arbeit ist, die nichts mit seinem persönlichen Leben zu tun hat. Trotz allem, wie ich schon sagte, glaube ich daran, wenn du kreierst, kommt sehr viel aus dem Fundus deiner persönlichen Erfahrungen. Auch wenn es um Opfer geht, wenn du ihn darüber sprechen hörst, merkst du, dass er eine Menge von dem eingebracht hat, was er erfahren hat und an die Tänzer weitergibt, so dass sie seine Vision füllen können.

SB: Du hast schon davon gesprochen, wie ihr kreiert habt, dass aus vielen Töpfen Fragestellungen und Aufgaben gegriffen wurden, sowohl von der abstrakten Seite, als auch von der emotionalen, direkteren Seite her. Trotz allem stellt sich mir die Frage: Gab er eine Richtung vor, aus der dieser Prozess angeleitet wurde? Zum Beispiel Merce Cunningham hat großen Wert darauf gelegt, rein abstrakt, ohne Emotion und mit vielen Zahlen zu arbeiten; dagegen Pina Bausch, die die Emotion, das Gefühl als treibende Kraft ihrer Arbeit hatte. Es gibt sehr belesene Kreationen und dagegen wiederum rein körperliche Arbeiten. Gibt es im kreativen Prozess von iTMOi eine dominante Kraft, die den Ton angibt?

AP: Ich denke, Akram ist beides, er ist nicht reines Theater, kommt aber auch nicht nur aus der abstrakten Richtung. Es ist eine Kombination. Wie ich schon sagte, manchmal kreieren wir aus der abstrakten Perspektive, manchmal hingegen kommen wir aus der emotionalen Richtung. Es liegt dazwischen. Es ist nicht entweder - oder, nicht schwarz oder weiß. Er kreiert nach der Vorgabe, welche Aussage er haben möchte oder was er finden muss. Wenn er etwas finden muss, öffnet er eine Tür. Das kann eine abstrakte sein, es kann auch einfach eine sein, die dumm ist - wie auch immer, am Ende kommt etwas Konkretes, etwas Echtes dabei heraus. Für mich ist er eine Person, die sich beider Seiten bedient.


Foto: © 2015 by Schattenblick

'Wenn er etwas finden muss, öffnet er eine Tür.'
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Er ist also nicht auf nur eine Arbeitsweise fixiert ...

AP: Nein, im kreativen Prozess mit ihm geschehen manchmal Dinge, die hätte ich mir am Anfang des Weges niemals so ausgemalt. Er ist nicht der Typ, der ins Studio kommt und einen exakten Plan verfolgt, wie alles abzulaufen hat. Er hat einen Anfangspunkt, einen Ursprungsort, aber nicht im entferntesten das gesamte Gebilde schon fertig im Kopf. Er hat eine Idee, Intuition, ein bestimmtes Gefühl, aber niemals alles schon komplett im Kopf, so dass es nur noch von A nach B nach C gehen muss. Er spielt, wir spielen. Er wirft die Ideen ein, wir spielen mit ihnen. Manchmal hat es mit Strawinsky zu tun, manchmal auch gar nicht. Dabei entwickelt sich Bewegung. Er findet etwas, von dem er sagt: "Das ist sehr interessant und es wird seinen Platz in dem Stück finden."

SB: Eine Frage, die ein bisschen vom Thema des heutigen Abends abweicht, bezieht sich auf die Olympischen Sommerspiele in London 2012. Dort bekam Akram Khan die Chance, für die Eröffnung eine Choreografie zu erarbeiten. Wie ist Akrams oder auch die Position seiner Company zu den Olympischen Spielen, zu der Idee, die dahinter steht, aber auch zu ihrer Realität? Ich würde denken, wenn ein reflektierender Künstler wie Akram Khan so eine Chance bekommt und sie dann auch nutzt, dass er eine Position zu der Veranstaltung selber hat. Was weißt du darüber?

AP: Nun, ich denke, dass es sehr gut für ihn war. Es war so, dass Danny Boyle (Anm. d. Red.: Danny Boyle, britischer Regisseur, setzte die Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2012 in London als Produzent und künstlerischer Leiter um.) kam, um sich 'Vertical Road' - was das letzte Company Stück vor iTMOi war - anzusehen. Und er sagte: "Ich möchte, dass du ein Stück für die Olympischen Spiele kreierst. Ich werde dir einen Raum geben, nur für dich. Da werden keine anderen Künstler sein, mit denen du ihn teilst, nur du." Er hat 'Vertical Road' angesehen. Und 'Vertical Road' ist ziemlich spirituell. Es ist über den Tod und das Leben danach. Es ging um das Kommen von der Erde, das Gehen in den Himmel. Deshalb denke ich fast, dass es ihn dazu veranlaßte zu sagen: "Für die Olympischen Spiele möchte ich ein Stück über Unsterblichkeit." Es sollte etwas sein über den Staub, wir kommen vom Staub, wir gehen dorthin zurück. Es sollte auch ein Gefühl dafür geben, dass wir, auch wenn der Körper stark ist, sterblich, menschlich sind. Mit dieser Vorgabe sagte Akram: "Dieses Stück wird im Großen und Ganzen sehr physisch, sehr körperlich sein." Wir sind viel gerannt, viel gesprungen, es ging einfach nur CHAK.CHAK.CHAK.CHAK.CHAK.

SB: Ich gehe mal davon aus, dass er ein positives Verhältnis zu den Olympischen Spielen und ihrer Idee hat. Gab es irgendwann die Frage zur politischen Seite der Olympischen Spiele, sein Verhältnis dazu?

AP: Nein, dazu gab es viel Gerede und Gerüchte. Er hat es als Künstler genutzt, nur als Künstler, da war nichts Politisches dabei.

SB: Okay, danke. Nun noch einmal zurück zu Akram Khans jüngster Arbeit. Kannst du mir etwas darüber sagen, was ihr gerade entwickelt und was eure nächsten Schritte sein werden?

AP: Wenn wir diese Tour beendet haben, was im Mai in Tel Aviv sein wird, werden wir mit 'Kaash' touren. Das ist eine Arbeit von 2002, die er zurück ins Repertoire nimmt. 'Kaash' ist eine rein abstrakte Arbeit, reiner Tanz, reine Bewegung. Es geht um Rhythmus, Geschwindigkeit, Körper, Klarheit, Schönheit der Bewegung. Danach erarbeitet er eine Choreografie, die in einem Trio sein wird. Wenn das beendet ist, werde ich mit ihm die Collaboration mit den Tänzern des National Ballet starten. Das wird etwa gegen Ende 2015 sein. Premiere wird es dann 2016 haben. Wir werden 'Giselle' erarbeiten. Das aber nur für die Tänzer des National Ballet, nicht für die Akram Khan Company.

SB: Das wird dann aber zeitgenössisch angehaucht sein, eine ganz neue Choreografie?

AP: Ja, wir werden versuchen eine neue Ästhetik für 'Giselle' zu finden.

SB: Meine letzte Frage geht nun noch einmal auf iTMOi zurück. Gibt es irgendwas, von dem du meinst, dass es gesagt werden müsste über diese Arbeit? Etwas, was ich mit meinen Fragen noch nicht erfasst habe?


Foto: © 2015 by Schattenblick

'Er füttert das Publikum nicht nur mit dem, was sie gewohnt sind, was sie von ihm wollen.'
Foto: © 2015 by Schattenblick

AP: Nun, das ist wirklich schwierig für mich. Es ist schwierig, weil ich so tief drin stecke, weil ich Teil des Schaffensprozesses war. Ich denke, was ich wirklich mag an diesem Stück, ist ... Also, Akram ist sehr beständig in seiner Arbeit. Mit all seinen Werken haben die Kritiker sofort die Perspektive, dass es super sein wird, dass das laufen wird. Für iTMOi gibt es zwei Lager. Die einen sagen, es ist eine gute Arbeit, die anderen, dass es das nicht ist. Ich sagte zu Akram, ich bin sehr froh, dass dieses Stück viel hinterfragt, ja kritisiert wurde. Als wir letztens in Luxemburg performt haben, sagte der Theaterdirektor hinterher: "Ich fand dieses Stück großartig." Ich fragte warum, und er sagte: "Weil es kein typischer Akram Khan war." Ich finde das toll, denn als er Brüche in das Stück setzen wollte, hat er wohl gleichzeitig Brüche für die Kritiker gebracht, die seine Arbeit verfolgen. Die waren schockiert. Denn wenn man jemand wie Akram Khan wird, erwarten die Leute etwas Bestimmtes von einem. Sie erwarten das, was sie von dem Künstler gewohnt sind. Ich bin einfach froh, dass er keine Angst hat, sich selbst herauszufordern. Dass er nicht immer dieselbe Form nutzt, weil sie das ist, was die Leute mögen. Er füttert das Publikum nicht nur mit dem, was sie gewohnt sind, was sie von ihm wollen. Das ist das Schöne an dieser Arbeit, dass es vollständig abweicht von dem, was ich von Akram kenne.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

AP: Es war mir eine Freude. Vielen Dank.


Werbeplakat für ITMOI - Foto: 2015 by Schattenblick

Kampnagel-Werbeplakat
Foto: 2015 by Schattenblick


ITMOI, Akram Khan Company, Großbritannien
Regie, Choreografie: Akram Khan
Komposition: Nitin Sawhney, Jocelyn Pook, Ben Frost
ca. 65 Min

18. Februar 2015


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