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INTERVIEW/037: Mexikospektive - Aufklärung und Widerstand ...    Shanti Vera im Gespräch (SB)


"Habitante" - Mexiko in der Sinnkrise

Interview mit Shanti Vera am 5. März 2017 in Hamburg


Ein absolutes Highlight des Theaterfests "Kontext Mexiko" Anfang März auf Kampnagel war die Deutschland-Premiere des Stücks "Habitante" des Choreographen Shanti Vera aus dem Jahr 2014. Ganz ohne Dialog, dafür mit viel Mimik, einer verstörenden Geräuschkulisse und einem düsteren Bühnenbild, erzeugte die Truppe Quatro x Quatro ein beängstigendes und beklemmendes Simulacrum des Mexikos der Gegenwart, einer Gesellschaft, in der traurigerweise Willkür und bestialische Gewalt die bestimmenden Faktoren sind. Ob gewollt oder nicht drängten sich Ähnlichkeiten zwischen "Habitante" und "Quadrat I + II" des Meisterdramatikers Samuel Beckett förmlich auf. Im Anschluß an die Aufführung stellte sich Vera, der 1986 in Chiapas geboren wurde, dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Zwei vermummte Darsteller sitzen am Boden unter den Zuschauern vor dem Theatereingang - Foto: © 2017 by Schattenblick

Irritation bereits vor der Aufführung
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Vera, der Name Ihres Stücks lautet "Habitante", übersetzt "Bewohner". Sollen die vermummten, anonymen Darsteller darin Bewohner von Chiapas, von ganz Mexiko sein oder könnte es sich schlichtweg um Menschen handeln, die sich an irgendeinem anderen Ort auf der Welt befinden?

Shanti Vera: Ich bin in meinem Leben viel in Mexiko herumgereist, vom tiefsten Süden bis ganz in den Norden. Ich habe dabei meine Beobachtungen dessen gemacht, was uns als Mexikaner ausmacht, was wir gemeinsam haben. Darum sind die "Einwohner" für mich eindeutig Mexikaner. Es geht darum, was uns als Mexikaner vor dem Hintergrund der Geschichte Lateinamerikas verbindet.

SB: Die Geräuschkulisse in Ihrem Stück war überwältigend. Der Dauerlärm war fast unerträglich, aber nur fast. Man konnte ihn die ganze Zeit nicht nur hören, sondern auch mit dem ganzen Körper spüren. Es gab Momente in dem Stück, wo die Geräuschkulisse zwischendurch aussetzte. In solchen Phasen konnte man plötzlich die Schritte der Schauspieler auf der Bühne hören. Sie wirkten jedoch wegen des Fehlens des Hintergrundlärms, vielleicht wegen des vergleichsweise geringen Geräusches der Schritte, insignifikant, als seien die menschlichen Figuren so unbedeutend wie Ameisen in einem riesigen Universum. War dieser Eindruck von Ihnen als Regisseur gewollt?


Drei Vermummte auf leerer schwarzer Bühne vor schwarzem Hintergrund - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Einwohner vor dem Nichts
Foto: © 2017 by Schattenblick

SV: Das ist meine Absicht gewesen. Mir ging es darum, den Unterschied, die Diskrepanz, zwischen dem, was man sehen und nicht sehen kann, zwischen dem, was man hören und nicht hören kann, zwischen dem, was man dem Publikum zeigen und nicht zeigen kann, hervorzuheben. Wenn man den Raum bis ultimo mit Lärm füllt und dann zwischendurch die Geräuschkulisse unterbricht und diesen Wechsel auch noch mit gewissen Lichteffekten begleitet, kommt es zu diesem Effekt, wie Sie ihn beschrieben haben.

SB: Sie haben von zwei Videosequenzen Gebrauch gemacht, die jeweils vor und nach der Aufführung draußen am Eingang auf eine weiße Kistenwand projiziert wurden. Die letzte Videoeinspielung zeigte Bilder einer städtischen Umgebung, die aus einem fahrenden Zug geschossen wurden. Um welche Stadt handelte es sich? Mexiko-Stadt? Sao Paulo?

SV: Weder noch. Es war Bangkok, das aber aus der Ferne wegen seiner Hochhäuser und anderer Merkmale Ähnlichkeiten mit Mexiko-Stadt hat.


Schwarzweißes Videobild eines Bangkoker Hochhauses auf Kistenwand projiziert - Foto: © 2017 by Schattenblick

Termitenbauähnliches Hochhaus
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Man konnte den Eindruck bekommen, die Bilder sollten die Idee der Großstadt als Moloch, als Stahl- und Betondschungel, der die Menschen verschlingt, unterstreichen. Läge man damit richtig?

SV: Das Verhältnis zwischen den beiden Videosequenzen besteht darin, daß in der ersten die Kamera - und damit der Zuschauer - von draußen in den Zug hineinblickt, während man in der zweiten durch das Zugfenster auf die Welt draußen schaut. Die Sache, die ich damit zeigen wollte, obwohl sie eigentlich recht abstrakt ist, war, daß dieselben Dinge aus der einen Perspektive schön und gut, aus der anderen häßlich und gemein erscheinen können. Beim Blick in den Zug hinein sieht man Leute, die Essen kochen und sorgsam miteinander umgehen, beim Blick durch das Zugfenster die menschenfeindliche, kapitalistische Metropole.

SB: Stammt die erste Sequenz aus einem alten Schwarz-Weiß-Film, etwa von Bunuel oder Cocteau?

SV: Den Ausschnitt habe ich ursprünglich aus der Dokumentation "The Pervert's Guide To Cinema" des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek entnommen. Wenn ich mich richtig erinnere, stammt die Aufnahme aus dem Film "Saboteur" des englischen Meisterregisseurs Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1942.

SB: Im Verlauf von "Habitante" ist hin und wieder eine Radiostimme zu hören, die befehlend, martialisch spricht. Von wem stammt sie, etwa von einem mexikanischen oder lateinamerikanischen Militär oder Diktator? Die Person hat auf Spanisch gesprochen. Was sagt sie da?

SV: Es gibt zwei Sprachsegmente über Lautsprecher. Einmal diese Stimme, die Sie erwähnten, und einmal ein einfaches Gespräch unter mexikanischen Landarbeitern, sogenannten Campesinos. Das hat keine höhere Bedeutung, sondern ist alles von unserem Toningenieur zusammengemischt worden.


Die Einwohner finden keinen Ausweg aus ihrer Lage - Foto: © 2017 by Schattenblick

Verzweifelte Aussichtslosigkeit
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Sie sagten, in Ihrem Stück wollten Sie Dinge zeigen, die Mexikaner gemeinsam haben oder sie einen. Der Nicht-Mexikaner könnte diese Dinge möglicherweise nicht erkannt haben. Von daher also die Frage, um welche Dinge handelt es sich denn?

SV: In "Habitante" sowie in meinen anderen Stücken verzichte ich darauf, die mexikanische Wirklichkeit, wie sie ist, abzubilden, und stelle sie statt dessen verfremdet, metaphorisch und abstrakt dar. In der Aufführung sollten Energie und Symbolismus die tragenden Elemente sein. Die weißen Kisten sind bei "Habitante" das wichtigste Symbol. Wenn man in Mexiko einkaufen geht, gibt es einige Dinge wie Grundnahrungsmittel, einfachste Kleidung und Heizmaterial, die man besorgen muß, um überleben zu können. Die Kisten stehen für diese Grundbedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Wenn in Mexiko Wahlen anstehen, sei es in den Bundesstaaten, für das Parlament in Mexiko-Stadt oder für das Amt des Präsidenten, ist es üblich, daß die Parteien in den armen Vierteln der Städte wie auch in den vernachlässigten Gegenden auf dem Land Lebensmittelpakete, sogenannte "despensas", verteilen, um Stimmen zu werben.

SB: Die Politiker bestechen also die armen Wähler.

SV: Genauso ist es. Die weiße Kiste steht also für die Käuflichkeit des einfachen Mexikaners. Als Künstler bin ich am Thema Gravitation sehr interessiert und greife in meinen Stücken häufig auf sie zurück. In Chiapas habe ich vor langer Zeit etwas gesehen, was sich als Bild in mein Gedächtnis eingeprägt hat. Es handelte sich um eine Gasflasche zum Kochen, die außerhalb einer Wohnung draußen einfach an der Leitung hing. Die Gasflasche hätte natürlich in der Küche am Herd stehen müssen, hing aber da seitlich an der Außenwand herunter sozusagen einfach in der Luft. Es war völlig surreal. Doch auf solche irrwitzige Erscheinungen stößt man regelmäßig in Mexiko. Für mich war die Gasflasche ein Sinnbild dafür, wie sehr Mexiko als Gesellschaft am Rande des Abgrunds steht bzw. bereits über dem Abgrund in der Luft hängt.

In den letzten zehn Jahren sind im Zusammenhang des Drogenkrieges in Mexiko mehr als 130.000 Menschen entweder gewaltsam ums Leben gekommen oder "verschwunden", das heißt verschleppt worden. Wie viele von den Verschleppten heute noch leben, sei es als Prostituierte, weiß niemand. Die Schaukel bei "Habitante" und die drei Männer, die darauf stehen, symbolisieren für mich diesen lebensfeindlichen Umstand.


Drei Vermummte stehen auf einer Schaukel - Foto: © 2017 by Schattenblick

Über dem Abgrund schweben
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Steht der Mann in dem weißen Hemd, der später, von dem losgelösten Ende der Schaukel scheinbar erschlagen, am Boden liegt, für die Opfer der aktuellen Gewaltwelle?

SV: Ich möchte die Frage nicht direkt bejahen, denn, wie gesagt, ich arbeite in meiner Kunst gern mit Abstraktionen. Die Schlußfolgerungen liegen beim Zuschauer. Auf jedem Fall stehen Sie mit Ihrer Interpretation nahe bei meiner Absicht. Es gibt schon eine Verbindung zwischen der Figur des erschlagenen Mannes und den Getöteten und Verschwundenen in Mexiko.

SB: In der Begleitliteratur von Kampnagel zum Theaterfest "Kontext Mexiko" werden Sie als Choreograph beschrieben, der die Bühne als Ort des Widerstands versteht. Trifft diese Beschreibung zu und wenn ja, können Sie vielleicht Ihre Haltung erläutern?

SV: In Lateinamerika hat das Wort "Widerstand" eine ganze starke Bedeutung. Die Kunst stellt einen Bereich dar, von dem aus man sich all den Repressalien seitens der staatlichen Behörden und der mit ihnen zusammenarbeitenden kriminellen Banden widersetzen kann. Der Bundesstaat Chiapas, wo ich geboren und aufgewachsen bin, stellt seit dem Aufstand der Zapatistas 1994 nicht nur im lateinamerikanischen, sondern auch im globalen Kontext ein Zentrum des Widerstands gegen staatliche Willkür und neoliberale Wirtschaftspolitik dar.

Widerstand zu leisten bedeutet für mich nicht nur, zur Waffe zu greifen und sich auf die Barrikaden zu stellen, sondern kann auch darin bestehen, provokative Ideen in die Welt zu setzen, die Leute zum Nachdenken über ihre Lage anzuregen und ihnen Mut zu geben, sie zu verändern. Mit meinen Theaterstücken will ich zwar Leute auch unterhalten, aber mir geht es in erster Linie darum, Alternativen zu entwerfen bzw. zu suggerieren und das Publikum damit anzuregen. Herkömmliche Sichtweisen will ich in Frage stellen und andere Perspektiven aufzeigen.


Mehrere mit Kisten beladene Vermummte stehen vor einem getöteten Mann, der an den Füßen gebunden von der Decke hängt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Hinrichtungsopfer verbreitet Schrecken
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Also wären Sie vielleicht angesichts der von Ihnen genannten Zahl von 130.000 Toten und Verschwundenen doch nicht der Meinung, daß das Theater ein Ort der Ablenkung und der Flucht vor der Wirklichkeit ist?

SV: In Deutschland haben Kunst und Theater einen höheren Stellenwert im öffentlichen Bewußtsein als in Mexiko. In Mexiko ist die ganze Unterhaltungsindustrie kommerziell ausgerichtet. Nur was sich rentiert, wird produziert. Die Unterhaltungformen, welche die allermeisten Mexikaner konsumieren, haben keinen Wert im Sinne der Ästhetik oder der Bildung, sondern dienen ausschließlich kapitalistischen Zwecken. Genormte Arten zu fühlen oder die Welt zu sehen werden vermittelt, damit die Leute nicht denken und keine Entscheidungen treffen, sondern sich mit ihrem Schicksal abfinden. Im Unterschied dazu soll mein Werk dem Publikum insbesondere in Mexiko eine Gelegenheit bzw. den Raum bieten, über sich und seine Lebenswirklichkeit zu reflektieren und auf neue Ideen zu kommen.

Theater ist für mich auch ein Ort, wo Menschen nicht nur Ideen, sondern auch Erfahrungen und Gefühle erleben und austauschen können. Meine Schwester zum Beispiel wurde vor eineinhalb Jahren in Narvarte, einem Viertel in Mexiko-Stadt, getötet. Sie hatte vorher "Habitante" gesehen. Sie war der Überzeugung, das Stück gebe den schrecklichen Wahnsinn, der in Mexiko seit einigen Jahren herrscht, sehr gut wieder. Das permanente Gefühl der Bedrohung und der Unsicherheit, eine Art Vibration, der sehr viele Mexikaner tagein, tagaus ausgesetzt sind, komme in "Habitante" voll rüber, meinte sie. Vor dieser schrecklichen Realität soll die Bühne ein Ort nicht nur des Genusses und der Unterhaltung, sondern auch des Widerstands, der Reflexionen und der utopistischen Ideen sein. Die Geräuschkulisse, die Geräuschwelle, über die wir anfangs sprachen, dient auch dem Zweck, die Zuschauer aus ihrem üblichen Bewußtsein herauszureißen, sie in den Stand zu versetzen, andere Realitäten, wenn nicht gleich zu sehen, so doch zumindest fühlen und sich vorstellen zu können.

SB: Wir bedanken uns, Herr Vera, für dieses Interview.


Shanti Vera im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Shanti Vera
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → THEATER → REPORT:

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28. März 2017


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