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HIPPOS/01: Alte Rassen - "Wildpferde" in Exmoor? (SB)


WILDPFERDE IN EXMOOR?

Das Pferd der alten Kelten


Fliegende Hufe über taufeuchter Heide, die Nüstern im Himmel und die Mähne im Wind - wer das Glück hat, frühmorgens eine freilebende Herde Exmoor-Ponies in ungehemmten Lauf zu beobachten, für den scheint die ungebundene Freiheit der Wildpferde wahr geworden. Doch der Schein trügt. Die Freiheit der wilden Pferde, die sich vor langer Zeit ungehindert über die gesamte britische Insel verbreiten konnten und erstmals von den alten Kelten gefangen und für ihre Zwecke gezähmt wurden, gibt es schon lange nicht mehr. Wie die polnischen Koniks oder auch die "Dülmener Wildpferde" sind die halbwild im Freien gehaltenen Exmoor-Ponys keine echten Wildpferde, sondern eine Zuchtrasse, die ohne den schützenden und hegenden Eingriff des Menschen inzwischen schon längst Zivilisation und Wilderern zum Opfer gefallen wäre.

Charakteristisch für diese alte und robuste Rasse ist die allen reinrassigen Tieren eigene dunkelbraune Behaarung und urtümliche Merkmale wie Aalstrich und Mehlnase (das hell abgesetzte Maul). Das dichte, langhaarige Winterfell erscheint dunkler und verwaschener. Die langen Winterhaare bilden einen Kehlbart und eine Brustmähne wie bei ursprünglichen Wildpferden. Exmoor-Ponys können eine Widerristhöhe bis zu 125 cm erreichen. Ihr Durchschnittsmaß liegt jedoch eher bei 114 cm, so daß sie durchaus vom Laien für groß geratene Shetlands gehalten werden könnten.

Die Spuren der kleinen halbwilden Pferde aus Exmoor lassen sich bis ins Pleistozän verfolgen. Sie stammen höchstwahrscheinlich vom Waldtarpan ab (Equus przewalskii silvaticus). Offenbar existierte schon vor einer Million Jahre eine Pferderasse, die dem heutigen Exmoor Pony und auch einigen anderen kleineren genügsamen Pferderassen in Knochenbau und Schädelstruktur sehr ähnelte. Die genaue Herkunft der Rassen ist bei Pferden jedoch schwer zu beurteilen, da sich die Herden auf ihren Wanderungen ständig mit anderen freilebenden Unterarten kreuzen konnten oder auch mit verwilderten Abkömmlingen ursprünglicher Domestikationsformen. Es ist durchaus denkbar, daß einige besonders zähe Vertreter dieser nahestehenden Rasse, die die Eiszeit in kleinen vom Eis eingeschlossenen Oasen in der Eiswüste des damaligen Alaska überstanden, die direkten Vorfahren des heutigen Exmoor-Ponys sind. Es müssen anspruchslose, genügsame Pferde gewesen sein, die sich mit einer kargen Nahrung aus holzigen Rinden und Buschwerk zufrieden geben konnten, weil sie sich mit einem zusätzlichen Backenzahn höchstgradig an die Zerkleinerung dieser kork- und zellulosereichen Nahrung angepaßt haben. Nachdem sich die Eismassen zurückgezogen hatten, konnten einige Herden über den damals noch bestehenden Landweg nach England gelangen, wo sie sich offenbar über die ganze Insel verbreiteten.

Auch in Südfrankreich hat man Hinweise auf diese alte Rasse gefunden. Bei den ebenfalls halbwilden Pferden der Camargue, die jedoch nicht mehr so deutlich die ursprünglichen Wildpferdemerkmale aufweisen, könnten sich auch gemeinsame Urahnen finden lassen, doch ist hier die Ähnlichkeit zum Waldtarpan kaum mehr zu erkennen. Zu Zeiten, als England noch nicht durch den Kanal vom Kontinent getrennt war, wanderten die Ponyherden im jahreszeitlichen Wechsel zwischen Südfrankreich und England hin und her.

Die ersten Eindringlinge auf der friedlichen Insel, die die Weidegründe der Ponyherden für sich beanspruchten, waren die Kelten, die ungefähr 500 vor Christus vom europäischen Kontinent einwanderten. Sie sollten nicht die einzigen bleiben. Die Römer folgten im Jahre 55 vor Christus und denen wiederum im Jahre 410 die Angeln, Sachsen und Jüten. Der Lebensraum der Ponies wurde mit zunehmender Besiedlung des Landes auf ein kleines Gebiet im Südwesten Englands an der Grenze Somerset und Devon eingeschränkt, wo die Nachfahren dieser alten Rasse bis heute nahezu unbeeinflußt überlebt haben. Die ortsansässigen Kelten schätzten zwar die Genügsamkeit, Anpassungsfähigkeit und Arbeitskraft der kleinen Pferde, ließen ihnen jedoch die naturgebundene wilde Lebensweise, die ihnen selbst am wenigsten Mühe machte.

Diese Art der Haltung wurde bis heute beibehalten: Einmal jährlich werden in den Wildgestüten Hengste und Hengstfohlen, die nicht zur Zucht kommen sollen, für den Verkauf eingefangen. Zu diesen Gelegenheiten wurden früher auch Fohlen ausgesondert, die man für die Arbeit brauchte. Auf diese Weise kontrolliert man seit vielen hundert Jahren die Vermehrung und Fortpflanzung der Tiere.

In Kriegszeiten wurde der Bestand der Ponies aus vielen Gründen derart dezimiert, daß sie vom Aussterben bedroht waren. Zum einen waren Pferde wichtiges Kriegsmaterial und daher herrschte allgemein ein Mangel an Arbeitstieren auf der Insel, zum anderen wurde in den großen Hungersnöten, die die Kriege begleiteten, nur allzugern Jagd auf dieses leichte Wild gemacht. Besonders in den Jahren des 2. Weltkriegs wurden zahllose Exmoor- Ponys geschlachtet. Ihre Weidegründe nutzte man zudem als Panzerübungsplatz, so daß die noch frei herumlaufenden Tiere nahezu vollständig vernichtet, bzw. als Jagdobjekt oder Übungsziel mißbraucht wurden. Nur wenige vereinzelte Pferde, die bei den Farmern der Gegend als Nutztiere untergestellt waren, oder die reinrassigen Stuten, die von dem einen oder anderen Einheimischen gerettet werden konnten, überlebten den Krieg.

Die 1921 gegründete Exmoor Pony Society förderte und steuerte den Neuaufbau der Zucht in Wildgestüten, deren Grundstock aus den wenigen überlebenden reinrassigen Stuten bestand. Bis heute schätzt man den Gesamtbestand der Exmoor-Ponies auf ungefähr 500 Tiere. Die Zuchttiere werden entweder durch den Brand des Eigentümers oder besondere Mähnen- oder Schweifeinschnitte gekennzeichnet. Die halbwilde Haltung in gemeinsamen Herden wurde beibehalten. Die Tiere bleiben das ganze Jahr im Freien, werden aber regelmäßig, besonders im Frühjahr während des Fohlens, beobachtet und vor Ort kontrolliert. Mehr ist zumeist nicht nötig.

Auch das Fohlen ist bei den Exmoor-Ponies ein natürlicher Vorgang, selten wird ein Tierarzt oder Geburtshelfer gebraucht. Nach ca. 328-343 Tagen Tragzeit wird das Fohlen meistens nachts geboren. Die Mehrzahl der Geburten findet in der Zeit von April bis Juni statt. Während der Austreibungsphase liegt die Stute, steht jedoch nach der Geburt des Fohlens sofort auf, um die Fruchthülle zu entfernen. Die Pferdemutter bleibt mit ihrem Neugeborenen zuerst abseits von der Herde. Das Fohlen ist ein Laufjunges; es kann sogleich der Mutter und, im Alter von zwei Wochen, der Herde folgen.

Im Oktober werden die Tiere von ihren Besitzern zusammengetrieben und je nach Kennzeichnung getrennt. Innerhalb einer Woche können die jeweiligen Eigentümer dann die Kennzeichnung der Fohlen vornehmen - sie werden meist gebrannt und registriert - und entscheiden, welche der Hengstfohlen sie verkaufen oder auch auf ihren Farmen behalten wollen. Nur die Anzahl der Hengstfohlen muß kontrolliert werden, damit es nicht zu erbitterten Kämpfen kommt. Die Stutfohlen bleiben in der Regel bei der Herde. Eine gründliche Untersuchung jedes einzelnen Tieres gehört außerdem zu dieser jährlichen Routine. Danach werden die Herden wieder in Freiheit entlassen.

Schon bald nach ihrer Rückkehr in die alten Reviere kann man die Ponys bei der gegenseitigen Fellpflege beobachten, eine Beschäftigung, die einen großen Teil ihres Tagesablaufs in Anspruch nimmt. Die Tiere stellen sich dabei vorzugsweise in entgegengesetzer Richtung parallel zueinander und beknabbern sich scheinbar genüßlich gegenseitig das Fell mit den Schneidezähnen. Hals, Mähne und Rücken werden bei dieser Tätigkeit besonders intensiv bearbeitet. Dieses durchaus soziale Verhalten dient ebenso der gegenseitigen Beruhigung wie auch der Reinigung. Im Freien lebende Pferde treiben auch auf andere Weise intensive Körperpflege. Sie scheuern sich an Stämmen und Steinen, wälzen sich im Sand und schütteln sich anschließend den Staub vom Körper. Bei heißem Wetter gehen die Pferde nach Möglichkeit gern ins Wasser, vor allem dann, wenn die Ufer flach sind. Insekten werden durch Schwanzschläge, Fellzucken und schnelle Bewegungen abgewehrt. Der Mensch mit seinen Striegeln, seinen Mittelchen, Halftern und Zaumzeug ist in dieser autarken Gemeinschaft eine völlig überflüssige Erscheinung.

Wegen der noch äußerst geringen Bestandszahlen - man zählt derzeit stolze 25 Herden in Exmoor - sind Exmoor Ponys außerhalb der Wildgestüte selten und nur bei besonderen Liebhabern dieser alten Rasse, die noch weitgehend den Typ des Keltenponys verkörpert, zu finden. In England tauchen Exmoors, die nicht zur Zucht verwendet werden, gelegentlich auch als Reittiere auf. Die Tiere lassen sich leicht einreiten und ebenso halten wie jedes andere Pferd.

Angesichts der stolzen kleinen Herden in der nahezu unberührten Heidelandschaft erscheint es jedoch Sünde, die Tiere aus ihrem natürlichen Herdenverband zu isolieren. Nur hier, in scheinbarer Freiheit, unter einer großen Anzahl Artgenossen und dem menschlichen Zugriff den größten Teil des Jahres entkommen, ist der Begriff "artgerechte Haltung" wirklich erfüllt. Freilebende Tiere ohne Arbeit, Pflichten und nur den eigenen Bedürfnissen und der Herdenordnung unterworfen, sind wohl, entgegengesetzt so mancher Menschenmeinung, ihrer ursprünglichen Lebensart am nächsten. Und jeder Pferdefreund wird zu der reinen Freude bekehrt, die er mit Feldstecher und Wanderstiefeln, ohne Sattel und Zaumzeug, inmitten "wilder" Pferde erfahren kann.

Erstveröffentlichung 1995

13. März 2007