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HIPPOS/03: Alte Rassen - "Jährlicher Wildpferdefang in Dülmen" (SB)


HALBWILD LEBENDE RASSEN

Der Dülmener "Wildpferdefang"


Um Pferde in freier Wildbahn zu beobachten, muß der Pferdefreund nicht erst in den Südwesten Englands fahren. Den Exmoor-Ponies nah verwandt und ebenfalls halbwild gehalten sind die sogenannten Dülmener "Wildpferde", die man ebenso wie die Exmoor-Ponies eigentlich nicht mehr als Wildpferde bezeichnen kann.

Am letzten Wochenende im Wonnemonat Mai erwartet den Besucher des Dülmener Wildgestüts, in einer urwüchsigen Moor-, Heide- und Waldlandschaft in Nordrhein-Westfalen gelegen, eine besondere, alljährlich am letzten Maiwochenende wiederkehrende Attraktion - der Dülmener Wildpferdefang mit anschließend öffentlicher Versteigerung der Jährlingshengste.

Für viele Freizeitreiter und Pferdefreunde ist dieses Ereignis zu einer Kultveranstaltung geworden, zu einem vorrangigen Termin, den er um keinen Preis versäumen mag. Denn alljährlich trifft sich hier das ganze Spektrum von Wander-, Western- und Freizeitreitern, Liebhabern des Dülmener Pferdes und anderer robuster Pferde- oder Ponyrassen, sowie Propheten der Offen- und Laufstallhaltung und vielen anderen mehr, die dem Reit- und Pferdesport den Rücken gekehrt und sich mit derselben Ernsthaftigkeit bis zu an Fanatismus grenzender Gründlichkeit allen Aspekten des Freizeitreitens und pferdegerechter Haltung widmen. Sie kommen oftmals bus- oder vereinsweise angefahren. Zwanglos werden hier neue Kontakte geknüpft und es bietet sich so manche Gelegenheit zu ausführlicher Fachsimpelei. Hauptgesprächsthema ist und bleibt dabei immer "das Pferd" und nicht die sportliche Höchstleistung, was dieses Treffen für jeden Pferdefreund, der nicht zum stolzen Erwerb eines "Dülmeners" angetreten ist, so sympathisch und attraktiv werden läßt. Wo sonst trifft er so viele Gleichgesinnte und wo sonst läßt sich das Thema "artgerechte" Haltung so praxisnah und beispielhaft studieren wie gerade hier?

Es ist schon ein beeindruckendes Erlebnis, die 200 Ponys, die sich sonst in kleinen Herden über ein 300 Hektar großes Naturgelände verteilen, einmal zusammen in der riesigen Herde zu sehen. Der Romantiker fühlt sich dabei zutiefst in den Wilden Westen versetzt, der Geruch nach Pferd und Leder sowie Westernfreunde, die mit stilechter Ausrüstung immer wieder am Rande auftauchen, tun ein weiteres, um diesen Eindruck zu vertiefen.

Doch bei dem vielen, was den Pferdefreund entzückt - wie die urwüchsige Schönheit der Dülmener Pferde oder die romantische Szenerie -, ist der Wildpferdefang für die Pferde selbst ein trauriges, wenn nicht traumatisches Ereignis.

Ein ganzes Jahr verbringen sie in scheinbar ungebundener Freiheit, bis sie mit lautem Gejohle zusammengetrieben, eingepfercht, von ungewohnten Menschenmassen bestaunt und begutachtet, schließlich tiermedizinisch untersucht und, was das Schlimmste ist, aus ihren Familienverbänden gerissen werden. Und man kann sagen, was man will, für die äußerst sozial lebenden Tiere ist dieser jährliche Viehtrieb ein gewalttätiger, schmerzhafter Eingriff in ihre Lebensgewohnheiten. Nutznießer des alljährlichen Spektakels ist letztlich wieder einmal der Mensch, der sich den Luxus dieses Wildgestüts ohne die beständige Kontrolle und Reduktion der Population auf einem doch recht begrenzten Freigehege nicht leisten könnte. Denn außer dem Menschen selbst oder äußerst seltenen Haustier- oder Wildtierkrankheiten haben die hier lebenden robusten Pferde nur einen Feind: halbwüchsige, draufgängerische, junge Hengste, die sich zum Zwecke eigener Familiengründung mit den Familien-Chefs erbitterte Kämpfe um den Besitz des "Harems" liefern, und die gelegentlich auch gegen unbewachte Stuten "handgreiflich" werden können. In dem für die freie Vermehrung doch recht begrenzten Terrain des Dülmener Gestüts werden zukünftige Übeltäter deshalb frühzeitig ausgesondert und die Herde tiermedizinisch überwacht, damit sich der Mensch auch weiterhin am Anblick der bunten Mischung kerngesunder, gepflegter "Wild"tiere erfreuen kann.

Jährlich versteigerte junge Hengste, sind bei Freizeitreitern und Robustpferdehaltern sehr beliebt. Die 120 bis 135 cm hohen Tiere eignen sich vorzüglich als Freizeitpony. Man sagt ihnen eine hohe Anpassungsbereitschaft und Gelehrigkeit nach, ein sicheres Zeichen, das auf domestizierte Vorfahren schließen läßt. Die genaue Herkunft der heute hier lebenden Tiere ist jedoch nicht bekannt.

Sicher ist, daß hier schon im 14. Jahrhundert Dülmener Pferde in freier Wildbahn lebten. Es wird allgemein angenommen, daß sie ebenso wie das Exmoor-Pony dem Waldtarpan (Equus przewalskii silvaticus) sehr nahe stehen, eine alte vom Menschen unbeeinflußt entstandene Wildpferdeform, die in Europa weit verbreitet war, jedoch schon im 18. Jahrhundert ausgerottet wurde. Eine Rückzüchtung des Tarpans aus Hauspferden mit viel Tarpanblut (z.B. polnischen Koniks) kann man heute in manchen Zoos und polnischen Wildreservaten antreffen. Zwar ähneln diese eleganten kleinen rückgezüchteten Pferde den Dülmenern äußerlich sehr, doch ist verwandschaftliche Nähe zu dem ursprünglichen Waldtarpan, der nachweislich in Europa existierte, ebenfalls nicht gesichert.

Die Experten selbst können bei den wenigsten Pferderassen geschlossene Stammbäume aufführen, noch eindeutige Urformen und Unterarten definieren, da sich die Wildformen auf ihren Wanderungen ständig untereinander vermischen oder schon domestizierte Tiere zu den wildlebenden Herden dazustießen. So wird in manchen Werken der Waldtarpan nicht einmal erwähnt, sondern direkt auf das nordische Urwildpony verwiesen, das dort als direkter Vorfahre aller nordischen Ponyrassen beschrieben wird. Wie schon in "HIPPOS/01: Alte Rassen - 'Wildpferde'in Exmoor?" erwähnt, gelten die Exmoor-Ponies als nahezu unveränderte Abkömmlinge dieser robusten Rasse, die aufgrund ihrer Anlagen und umsichtigen Art im nördlichen Europa und in Asien, im nördlichen Nordamerika und Alaska sogar die Eiszeit überstehen konnten.

Aus diesem Urwildpony, das sich auf seinen Wanderungen von Alaska über Asien und Europa bis nach England verbreitet haben soll, entwickelten sich demzufolge alle Ponyrassen, die sämtlich dem Leben im feuchtkalten Klima der Tundren-, Moor- und Gletscherlandschaften angepaßt waren. Als Beweis für diese Theorie werden Merkmale aufgezählt, die allen Ponies gemein sind und durch die man auf einen gemeinsamen Urahn rückschließt wie beinahe senkrecht stehende Schneidezähne und sehr kräftige Mahlzähne mit langen Wurzeln, die also auf eine starke Abnutzung eingerichtet sind. Damit soll schon das Urwildpony in der Lage gewesen sein, auch grobe holzige Kräuter, Zweige und Rinden abzubeißen und zu zerkauen. Die Verdauungsorgane, vor allem die Därme, sollen angesichts der den Ponies allgemein eigenen Dickbäuchigkeit, ein großes Fassungsvermögen gehabt haben, um ausreichende Mengen des nährstoffarmen Futters aufnehmen und verwerten zu können. Auch der bei den heutigen Kleinpferderassen so beliebte typische Ponykopf mit breiter Stirn und großen, weit auseinanderstehenden, ausdrucksvollen Augen und kurzen, dichtbehaarten wenig kälteempfindlichen Ohren, soll ein Merkmal dieser ursprünglichen Rasse gewesen sein. Diese wissenschaftliche Herangehensweise, induktiv aus parallelen Merkmalen auf eine gemeinsame Urform zu schließen, ist zwar in allen Wissenschaftszweigen vertreten, aber an sich umstritten. Für die Richtigkeit dieser Annahme gibt es nur wenig Hinweise wie Höhlenmalereien und Knochenfunde, die genügend Ähnlichkeit mit der Wunschvorstellung aufweisen, daß man diese plausibel scheinende Erklärung gerne in Pferdebüchern als Wahrheit vertritt.

Auch für die allen Ponies gemeinsame typische Dickschädeligkeit hat der Ahnenforscher eine mögliche Erklärung parat, die ich, auch wenn sie ebenfalls fadenscheinig erscheint und gleichermaßen ein Beispiel für induktive Beweisführung ist, dem geneigten Leser nicht vorenthalten möchte, so daß sich letztlich jeder selbst eine eigene Meinung dazu bilden kann: Im Lebensraum des eiszeitlichen Urponies war eine kopflose, rasende Flucht in der von Felsen, Sumpflöchern und Moränen durchsetzten Landschaft äußerst unangebracht. Es erwies sich als sinnvoller, die Gegebenheiten der Umgebung so auszunutzen, daß man von feindlichen Tieren nicht so leicht überrascht werden konnte. Das setzte eine gewisse Klugheit, Selbstständigkeit und Eigenwilligkeit voraus, Eigenschaften, die sich in den heutigen Ponies erhalten haben sollen. Was auch so mancher Ponybesitzer gerne bestätigen wird.

Die kräftigen, kurzen und unverwüstlichen Gliedmaßen, die ebenfalls viele nordische Ponyrassen auszeichnen, sowie die Fähigkeit, im Winter ein grobes, fettiges, fast bärenhaftes Fell mit dichter Unterwolle auszubilden und die vor sommerlicher Mückenplage schützende dichte Mähne, werden ebenfalls auf diese robusten Vorfahren zurückgeführt.

All diese Eigenschaften kann man jedenfalls bei dem ganzjährig im Freien lebenden Dülmener Pferd beobachten. Den beschriebenen Urtyp trifft es jedoch nicht so eindeutig wie beispielsweise das Exmoor Pony. Das liegt z.T. daran, daß hier schon früh begonnen wurde, andere wildpferdeähnliche Hengste wie Koniks, Exmoors und Hujulen einzukreuzen, um das Blut der Dülmener aufzufrischen, aber den wildpferdähnlichen Typ zu erhalten. Im Gegensatz zu anderen wildpferdeähnlichen Rassen besitzen die reinrassigen Tiere keine einheitliche Fellfarbe. Vorherrschend sind Mausgraue, Braune und Falben in bunter Mischung. Mitnichten ist das Dülmener Wildpferd jedoch noch Wildpferd, die sogenannte "hegende" Hand des Menschen ist allgegenwärtig, wenn sie, wie bei jedem anderen "Wild", Gesundheitszustand und Nahrung überprüft, die Fortpflanzung kontrolliert und gegebenenfalls auch züchterisch eingreift.

Doch genug des Rätselratens um die Stammesgeschichte der Pferde, das sich wahrscheinlich nie wirklich lösen läßt - die Dülmener Pferde erweisen sich als ausdauernde, kluge und eigenwillige Rasse, dem Menschen zuverlässiges Reittier und im wahrsten Sinne des Wortes großherziger Freund, und das trotz des jährlichen, pferdenervenzermürbenden Wildpferdefangs in Dülmen, einem mit Sicherheit wenig artgerechten Spektakels.

Erstveröffentlichung 1995

10. April 2007