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HIPPOS/05: Alte Rassen - Pottoks auf dem Berg des Bären (SB)


AUF DEM BERG DES BÄREN

Die Pferde der baskischen Schmuggler


Ein nebelverhangener Morgen mit rosenrotem Himmelsleuchten begrüßt uns in den Pyrenäen und verspricht einen sonnigen Spätsommertag. Gestärkt nach einem reichhaltigen, noch recht verschlafenen Frühstück auf unserem Neoprenkocher, und durch einen köstlich duftenden Becher starken, typisch französischen Café au lait von den Toten zu den Lebenden befördert, brechen wir unsere Zelte ab und machen uns auf den Weg. Wir befinden uns in Bidarray in der Nähe des Gutes "Chahtoenia", auf dem Pottoks gezüchtet werden.

Gestern noch hatte es Bindfäden geregnet, so daß wir kaum etwas erkennen konnten und uns im Zelt verkrochen. Doch heute dampft die Erde in den ersten Sonnenstrahlen, und als sich die Nebel lichten, spüren wir den Zauber dieser Welt. Verwunschene Berghänge, dicht mit Farn bewachsen, gibt der Wolkenvorhang frei. Eine Libelle spielt Wasserflugzeug auf den großen Pfützen, die in der Sonne glitzern. Die Kulisse wie für einen Märchenfilm geschaffen. Jetzt könnte ein scheues Einhorn die Nase aus dem Ginster stecken, es würde mich nicht verblüffen. Ein wenig erinnert uns dieser Teil der Pyrenäen an das Mittelgebirge.

Früh muß der Wanderer aufstehen, um in die verlorene Bergwelt des Artzamendy (baskisch für "Berg des Bären") durch Farnkraut und Felsen hinaufzusteigen und die Pottoks zu finden. Denn hier ist ihre Heimat. Die Sonne lockt sie zu den Gipfeln in die Nähe der Schneegrenze. Der herannahende Herbst und Regentage treiben sie jedoch zurück in die Täler, wo sie im dichten Laubwald Schutz suchen können, und besseres, nahrhaftes Futter finden - die letzten Kastanien oder Bucheckern beispielsweise, welche die Schweine liegengelassen haben. Die Einheimischen achten auf die Wanderungen der Pottoks, wie man anderswo auf das Barometer schaut. Man betrachtet sie beinahe als lebendes Wetterhäuschen und richtet den Tagesablauf darauf ein. Wenn die Pottoks herunterkommen, ändert sich das Wetter garantiert.

Gerade als ich mich frage, wo sie wohl stecken mögen und ob wir sie heute wohl noch zu Gesicht bekommen, tauchen sie plötzlich auf. Einer nach dem anderen, immer hinter Ginster und Farn verborgen und mit einem gehörigen Sicherheitsabstand - stets bereit, bei der kleinsten, ungewöhnlichen Witterung zu fliehen - treibt sie die maßlose Neugier in unsere Nähe. Geradeso als wären wir die Exoten, die beäugt werden sollen und nicht umgekehrt. Der kleine Schecke, der zufällig ein Auge (was bei den Schecken dieser Rasse meist mehrfarbig ist) auf mich geworfen hat, schüttelt die kräftige Mähne, wirft seinen Kopf hoch und trabt davon. Keineswegs scheu, würde ich sagen, sondern ganz Meister der Situation, der es nicht für nötig befindet, sich bei Menschen anzubiedern, von denen ohnehin nichts anderes als Gefangennahme und Stallarrest zu erwarten ist.

Die Pferde werden hier das ganze Jahr über halbwild gehalten. Sie leben beinahe in völliger Freiheit in kleinen Herden, ziehen auf dem Artzamendy herum und werden einmal im Jahr von den Hirten und Bauern zusammengetrieben, um veterinärmedizinisch untersucht und gegen die Fliegen behandelt zu werden, die ihre Eier unter den Haaren ablegen.

Ein paar Tage später werden wir zufällig Zeuge eines solch typischen, jährlichen Pferdefangs und zwar ein wenig weiter Richtung Urugne, in den Bergen von Rhune. Das Ganze geht so zu, wie wir es schon in Dülmen, in Exmoor und Dartmoor in den dortigen Wildgestüten beobachten konnten. Gefolgt von großen Hunden und einer vielköpfigen Helferschar - wie überall hat das Ereignis auch hier beinahe volksfestartigen Charakter -, treiben Hirten, Bauern und Züchter gemeinsam alle Pferde des Gebietes in eine große umfriedete Koppel.

Dort werden sie einzeln behandelt und von Parasiten befreit. Glühende Eisen zischen auf Pferdehaut, wenn die Tiere zur besseren Identifizierung das Brandzeichen ihres Besitzers erhalten. Es riecht nach verbranntem Horn und Lederfett - kein schöner Anblick für den Pferdefreund. Hier triumphiert wieder einmal der Mensch über die Kreatur, und zeichnet sein Eigentum, das seiner Willkür ausgeliefert ist. Zusätzlich werden die Tiere mit einer Ohrmarke versehen. Ehe er die verängstigten Tiere wieder in die Freiheit entläßt, nutzt jeder Besitzer die Gelegenheit, den Zustand des Halsriemens und der Glocke zu überprüfen und gegebenenfalls auszubessern, die die Pferde in diesem Teil der baskischen Pyrenäen tragen. Wir kennen diesen Brauch nur bei Kühen, die in der Alpenregion im Sommer ebenfalls auf die uneingezäunte Alp gelassen werden. Aufgrund ihres Tons zeigt die Glocke dem Besitzer oder dem Hirten an, wo sich ein Pony befindet und was es gerade tut.

Die Tiere haben sich an den ständig bimmelnden Begleiter gewöhnt, der eigentlich ein starker Eingriff gegen den natürlichen Fluchtinstinkt des Pferdes bedeutet. Doch ist diese Angewohnheit zum Glück nicht in allen Gebieten üblich, in denen der Pottok zuhause ist und sich seines beinahe freien, wilden Lebens freuen kann.

Die halbwilde Lebensweise ermöglicht den Pferden, sich von der kargen Nahrung der Berge zu ernähren und erspart ihren Züchtern das teure Futter. Gras ist kostbar, auch wenn man hier zweimal im Jahr Heu machen könnte. Die meisten Bauern brauchen die wenigen Weiden, die sich in der Bergwelt sporadisch als kleine, grüne Rechtecke abzeichnen, ausschließlich für ihre Kühe und Schafe. Die genügsamen Pottoks finden jedoch genug in dem Übrigen, was die Berge hergeben: Farne, Moose, Flechten, Blätter von Bäumen und Sträuchern, Kastanien und Beeren im Herbst und das zähe, harte Berggras, das überall in kleinen Büscheln aus den Felsritzen hervorlugt.

Es gab eine Zeit, in der der Pottok tatsächlich unumschränkter Herrscher der Bergwälder des Baskenlandes war. Doch im 16. Jahrhundert wurden die Wälder fast vollständig abgeholzt, um die ungeheuren Mengen an Bauholz für den Schiffsbau der Königlichen Flotte zu beschaffen. Seither wurde nicht mehr aufgeforstet. Die scheuen Pferde zogen sich weiter in die Berge zurück. Mit diesem Raubbau wurde der natürliche Lebensraum des Pottok vernichtet und damit auch ein großer Teil der Population, die, wie alle wildlebenden Pferde, in den Kriegs- und Hungerzeiten außerdem ständig durch Wilderer dezimiert wurde. Der Pottok war zum Aussterben verurteilt.

Vor etwas mehr als 20 Jahren gründete jedoch der Bürgermeister von Sar, M. Paul Dutournier einen Verband für Freunde des Pottoks, um den Fortbestand dieser alten Rasse mit den Hirten und Züchtern der Pottoks zu sichern. Und so machte man sich daran, die verstreuten Herden zusammenzubringen und für die Reinerhaltung der Blutlinie zu sorgen, die ihren Ursprung, wie die Legende sagt, in den wilden Herden des Dschinghis Khan nahm.

Der schwere Kopf dieses stolzen Pferdes erinnert mich tatsächlich an ein prähistorisches Pferd, wie sie teilweise in Büchern nachgebildet werden. Gewisse Ähnlichkeiten mit den Höhlenzeichnungen in den Grotten von Lascaux lassen sich ebenfalls nicht ableugnen: Wie viele genügsame, robuste alte Ponyrassen besitzen sie einen verhältnismäßig runden, großen Rumpf, in dem sie ihren ausgeprägten Verdauungsapparat unterbringen. Kurz gesagt, sie neigen zur Dickbäuchigkeit, was ihren Charme jedoch nicht im mindesten schmälert. Die Größe der Tiere variiert stark. Stuten und Wallache können ein Stockmaß von 115 bis 147 cm besitzen, Hengste sollen mindestens 120 cm aufweisen.

Fast alle Farbschattierungen sind beim Pottok vertreten. Es gibt Braune, Dunkelbraune, Schwarzbraune, Fuchsrappige aber auch Rapp-, Braun- und Fuchsschecken. Von diese Farbvielfalt und der fast sprichwörtlichen Intelligenz der Tiere profitierten die alten Basken, wenn man den Schmugglergeschichten glauben darf, die an den nächtlichen Hirtenfeuern erzählt werden:

Angeblich wurden in mondlosen Nächten oder an Nebeltagen kleine Herden aus dunkelfarbigen Ponies zusammengestellt, bei Schnee die helleren. Sie wurden hintereinander zusammengebunden und mit kostbaren Waren beladen. Trittsicher brachten sie die geheime Fracht dann entlang der Schneegrenze, vorbei an Abgründen und Schluchten, über die spanische Grenze. Geführt wurde die Karawane von ihrem jeweiligen Besitzer. Aufgrund ihrer geringen Höhe konnten die Schmuggler diese vierfüßigen Komplizen leicht hinter Farn, Fels oder im Unterholz verstecken, sobald ein Zöllner nahte. Und sollte er doch das eine oder andere von ihnen entdecken, so konnte er sie, da nicht alle Ponies beladen waren, ebensogut für eine Herde halten, die gerade ihren Weideplatz wechselte - ein äußerst vertrauter Anblick für jeden, der diese Gegend und die Ponies kennt.

War das Schmuggelgut sicher abgeliefert, ließ man die Ponies einfach laufen. Ihr unverdorbener Instinkt und ihr außerordentliches Gedächtnis ermöglichte ihnen, den Rückweg in die heimatliche Bergwelt allein zu finden.

Während des Krieges wurde auf diesen Wegen und mit Hilfe des Pottoks auch unzähligen baskischen Widerstandskämpfern die Flucht über die Grenze ermöglicht.

Mit den spanischen Conquistadores und Kolumbus sollen nicht nur die typischen spanischen Vollblüter, sondern auch Pottoks nach Amerika gelangt sein. Die berühmten amerikanischen Mustangs wären demnach Abkömmlinge der Pottoks und anderer spanischer Hauspferde. Wegen ihres "schwierigen Charakters" wurden sie skrupellos bejagt, weil sich die Mustangs nicht gut als "Gebrauchstiere" zähmen ließen und zudem die Eigenschaft hatten, in Gestüte einzudringen, um ihre dort lebenden "domestizierten" Artgenossen "zu befreien" und in ihre Herden einzugliedern. Ein Charakterzug, den jeder begeisterte Pottokfreund gerne dem Blutteil dieses eigenwilligen, stolzen Tieres zurechnen wird.

Die Hirten und Züchter der Gegend sind auf ihren Pottok äußerst stolz. Die Tiere leben zwar in wilden Herden sich selbst überlassen in den Bergen. Sie werden jedoch von einem dort ansässigen Hirten betreut, der vor allem darauf achtet, daß sich keins der Tiere in irgendwelchen Obstgärten verirrt, wenn sie das schlechte Wetter vom Berg heruntertreibt.

Auf den Bergweiden schneiden selbst die Talbauern Farn für das Winterbett ihrer Pottoks. Er wird zerkleinert, gemahlen und dient als "Soustrage", was auf baskisch Streue bedeutet. Das ist wesentlich billiger als Stroh und hält außerdem das Ungeziefer fern.

Die Hirten, die im Sommer auf die Tiere achten, sind zumeist Einsiedler, die das ganze Jahr in einer Höhe von 1000 - 1500 m über dem Meeresspiegel leben und das bei einem recht geringen Lohn. Um überhaupt überleben zu können, fechten sie auf den wenigen Hektar Ackerfläche einen beständigen Kampf mit dem Farnkraut, halten sich meist einige Ziegen und Schweine und besitzen auch selbst einige Pottoks, deren Fohlen sie auf dem alljährlich stattfindenden Pony-Festival der Gegend, in Garris, Saint-Palais oder Espelette an Talbauern verkaufen. Eine herzlose Tat, wenn man das klägliche Wiehern der jungen Tiere hört, doch der Winter in den Bergen ist hart und das Überleben für die Jungtiere schwierig.

Der Baske ist mit seiner ganzen Seele Hirt. Viele Legenden vom Wagemut und von der Treue dieser Tiere weiß er zu berichten. Was daran allerdings Glorifizierung ist und was Wahrheit, vermögen wir nicht zu unterscheiden. Eins ist jedenfalls klar: Mit seinem eigenwilligen oft sturem Charakter, seinen sicheren und anmutigen Gängen und seiner Schönheit hat er sich einen Platz im Herzen eines jeden Basken erobert. Für ihn ist der Pottok ein Teil seines Daseins, er gehört zum Berg, wie der Baum zum Wald.

Erstveröffentlichung 1995

10. April 2007