Schattenblick →INFOPOOL →TIERE → HAUSTIERE

HIPPOS/07: Französische Mustangs - von Cowboys & Pferden der Camargue (SB)


MUSTANG AUF FRANZÖSISCH

Die Pferde der Camargue


Das Delta der Rhône, südlich der französischen Stadt Arles, schließt ein etwa 750 Quadratkilometer großes Gebiet ein, im Süden durch das Mittelmeer, im Westen und Osten durch die beiden Flußarme der Rhône begrenzt. Auf dieser "Insel", der Camargue - ein nur wenig bevölkertes Land, geprägt von Weite, Wasser, Stieren und urwüchsigen Menschen - leben die berühmten, temperamentvollen Camarguais, eine Population verwilderter Hauspferde, die diesem Flecken Erde ein Stück Ursprünglichkeit verleihen und in deren Adern noch ein großer Anteil unverfälschten Urpferdeblut pulsieren soll.

Es handelt sich um besonders genügsame, ausdauernde und furchtlose Tiere, die außerordentlich leistungsfähige Freizeitpferde abgeben, jedoch hinsichtlich Größe und anderer Merkmale stark von den Kleinpferde- und Ponyrassen in Mittel-, West- und Südeuropa abweichen. Neben ihrer Bedeutung als Hüteponys für Kampfstiere werden sie heutzutage zunehmend für den Reittourismus gezüchtet, für den die "wilden Pferdeherden der Camargue" eine romantische Attraktion darstellen, den Traum von Freiheit und Ungebundenheit. Doch dieser Traum stellt sich für die Pferde selbst ganz anders dar.

Camarguepferde werden wie viele halbwilde Pferderassen in die trügerische Freiheit wildlebender Pferde hineingeboren. Schon von ihrem ersten Atemzug an wird ihr weiteres Schicksal durch den Züchter - dem Manadier - bestimmt. Die größte Zeit ihrer Jugend verbringen sie in kleinen Herden, die aus etwa zwanzig erwachsenen Stuten bestehen (Nachwuchs nicht mitgerechnet), eifersüchtig bewacht von einem starken Hengst. Dieser führt die Tiere zu den Weideplätzen der Camargue und beschützt sie. Camarguepferde zeichnet ein ausgeprägter Herdensinn aus, der sich vor allem im unbedingten Gehorsam gegenüber dem Hengst zeigt. Die Hengste der Camarguepferde sind ausgesprochene Führerpersönlichkeiten. Sie dulden keinen zweiten ausgewachsenen Hengst neben sich, was zu erbitterten Kämpfen führen würde. Aus diesem Grund werden die Junghengste hier nicht erst als Jährlinge, sondern schon im zarten Jünglingsalter von etwa sechs Monaten aus der Stutenherde genommen, da sie schon sehr früh anfangen, sich mit dem Leithengst anzulegen - spielerisch zwar noch zu Beginn, doch bald auch ernsthaft. Um also Keilereien und schwere Raufereien zu vermeiden, wachsen die jungen Hengste in einer eigenen Herde auf, wo sie sich unter ihresgleichen austoben können.

Wie in Dülmen, Exmoor und der Bergwelt der Pyrenäen werden auch hier jedes Jahr die Herden von den Züchtern zusammengetrieben und die Jährlinge mit Brandzeichen versehen. Danach kehren sie wieder zu ihren Herden zurück. Dort leben sie die ersten drei bis vier Jahre ihres Lebens völlig auf sich allein gestellt und sehen Menschen - wenn überhaupt - nur von weitem. Nach dieser "unbeschwerten" Jugendzeit, nur durch den jährlichen Viehtrieb unterbrochen, werden die Tiere endgültig aussortiert, das heißt entweder zugeritten oder als zukünftige Muttertiere der Herde wieder zugeführt. Diese doch sehr rabiaten Ausleseverfahren der Züchter, die keine natürlich gewachsenen Familienbande zulassen, sondern selbst hier bestimmend eingreifen, werden von den äußerst genügsamen und anpassungsfähigen Camarguepferden jedoch anscheinend gut verkraftet.

Wer den sanften, freundlichen Blick eines solchen Schimmels als Gutmütigkeit und Harmlosigkeit interpretiert, der täuscht. Der Freiheitssinn dieser Tiere und ihre Sehnsucht nach den Weiten ihrer unwirtlichen Heimat wird nur durch ihre Neigung, sich einem starken Führer zu unterwerfen, gebrochen. Auch der Mensch kann sie nur dann zu absolutem Gehorsam erziehen, wenn er sich als Autorität erweist. Doch auch der erste Galopp auf einem eingerittenen Camarguepferd kann zu einem reiterlichen Disaster werden, wenn man an die deutsche Reiterei gewohnt ist und die Eigenheiten dieser Tiere nicht kennt. Auch ein guter und durchsetzungsfähiger Reiter kommt sich dabei zum erstenmal wie ein Anfänger vor. Und nicht selten endet der erste Versuch damit, daß sich ein Tier gegen den ungewohnten und für das Pferd ungeschickten Reiter wehrt und ihn die salzige Camargue-Erde küssen läßt.

Auch ich hatte bei meinem ersten Mal im Sattel eines Camarguepferdes größte Schwierigkeiten, in demselben zu bleiben, was mir angesichts meiner reiterlichen Vergangenheit die Schamesröte ins Gesicht trieb. Allerdings hatte ich noch Glück. Meine "gutmütige", kleine Stute blieb nach einigem Schütteln und "Bocken" einfach stehen, bis ich mich wieder gesetzt hatte und es schließlich richtig machte. Auf keinen Fall durfte ich gewohnheitsmäßig beim ersten Galoppsprung in den "leichten Sitz" übergehen, um den Pferderücken zu entlasten. Das endet immer damit, daß man im Sattel hin- und hergeworfen wird und sich schmerzhaft am Spezialsattel der Gardians stößt, der besonders hochgezogene Sattelränder besitzt.

"Reste assise" - "sitzenbleiben", rief mir Gerard zu und zeigte mir, wie ein echter Gardian beim Gallop aussitzt: Wie alle Stierhüter dieser Gegend sitzt - oder besser gesagt - steht er mit langen Beinen fest eingegraben, nahezu angeklebt, zwischen Vorder- und Hinterzwiesel des Sattels. Nichts schien ihn aus der Ruhe und aus diesem Sitz zu bringen, kein plötzliches Stolpern, aber auch kein Buckeln oder Aufbäumen. Ja, es sah direkt gemütlich aus.

Nicht lange danach hatte ich den Bogen raus, und meine kleine Stute dankte es mir mit einem weit ausgreifenden Galopp, der mein Herz jubeln ließ. Und es wunderte mich auch gar nicht mehr, warum die anderen Reiter selbst in der schnellsten Gangart mit solch stoischer Ruhe und Gelassenheit im Sattel sitzen. Auf diese Pferde ist wirklich Verlaß. Geschickt umgehen sie Salzkrautbüsche und am Boden kriechendes Tamariskengestrüpp. Und selbst bei rasendem Galopp durch knietiefes Brackwasser, das einem dabei ins Gesicht spritzt, fühlt man sich sicher und glücklich wie in Abrahams Schoß und frei wie die Flamingos, die man hier ebenfalls antrifft und die sich durch die Pferde nicht stören lassen. Einem Camarguais muß man nicht den Weg weisen, den wissen sie selbst. Und sie suchen sich den für Pferd und Reiter bequemsten heraus.

Dennoch, ehrlich gesagt, ist es fast eine Sünde, diese herrlichen, freien Camarguais oder Crin Blancs, wie sie bisweilen auch genannt werden, zu reiten und sie zur täglichen, zudem nicht gerade ungefährlichen Arbeit - zum Beispiel dem Einfangen und Aussondern der Stiere für die berühmten Tierkampfspiele in Nîmes oder Arles - anzuhalten. Der Gardian verläßt sich dabei voll auf sein Pferd und dessen gute und rasche Reaktion auf die Reiterhilfen.

Für diese Arbeit wurde es in mühsamer Prozedur vorsichtig eingeritten, nachdem es aus der Herde ausgesucht wurde. Nur wenn der Guardian spürt, daß sich ein Pferd dazu eignet, kann er es zum Stierpferd ausbilden. Die Camarguepferde sollen ähnlich wie die nordamerikanischen Western Horses einen angeborenen Instinkt für Rinder, den sogenannten "cow sense" besitzen. Möglicherweise rührt das daher, daß sie in ihrer Jugend häufiger mit den schwarzen Stieren mehr oder minder unliebsame Begegnungen haben können, die wie sie die weite Sumpflandschaft der Camargue als Lebensraum beanspruchen. Solch ein richtiges Stierpferd also war es, das mich während meiner ersten Entdeckungsreise durch die Camargue begleitete.

Der Galopp über die Salzsteppe, den ich gerade noch auf ihrem Rücken genießen und mit ihr teilen durfte, sollte eigentlich ganz allein zu ihrem wilden, ungestörtem und vor allem reiterlosen Leben in der wassergetränkten Landschaft gehören; ein Leben, zu dem sie geboren wurde, und auf das sie bestens eingerichtet ist. Camarguais sind klein, stämmig, schnell und wendig, zäh und robust, genügsam und ausdauernd, kurzum sie können in freier Wildbahn ohne menschliche "Unterstützung" gut auskommen. Mit ihren breiten Hufen kommen sie gut durch sumpfiges Gelände, ohne einzusinken. Ein richtiger Fan dieser temperamentvollen kleinen Pferde schwört, daß man sie im Sommer über den salzigen, ausgetrockneten Boden der Camargue fliegen sehen kann, so schnell trügen die harten, breiten Hufe der Pferde sie darüber hinweg. Doch das ist natürlich gutgemeinte Schwärmerei. So schnell und großräumig können die leicht gedrungenen Tiere mit ihren meist runden Grasbäuchen gar nicht ausgreifen, daß der Eindruck von Fliegenden Pferden entsteht.

Ganz außergewöhnlich für Pferde ist die Fähigkeit der Camarguais, unter Wasser an die saftigen Schilftriebe heranzukommen. Normale Pferde geraten in Panik, wenn man ihnen die Nüstern zuhält, da sie nur durch die Nase atmen können. Sie würden nie freiwillig die Nase tief ins Wasser stecken. Doch Camarguepferde schaffen es, mit zugepreßten Nüstern ihr Maul unter Wasser zu halten und dabei auch noch die Triebe abzuzupfen.

In der Camargue sind paläarktische und tropische Fauna gleichermaßen heimisch, weshalb hier für europäische Verhältnisse einzigartige Tier- und Pflanzenformen anzutreffen sind. Nach der letzten großen Flutkatastrophe Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Rhône-Flußarme eingedeicht und Ende des 19. Jahrhunderts auch die Meerseite durch einen Damm gesichert. Das führte dazu, daß die Camargue-Insel mit Ausnahme der Niederschläge (langjähriges jährliches Mittel um 600 mm) ohne Wasserzufuhr blieb und die Pflanzen- und Tierwelt verarmte. Als Hilfsmaßnahme wurde Reis angebaut, und man entwässerte die Reisfelder in die ausgetrockneten Lagunen.

Heute kontrolliert man den Wasserhaushalt, wodurch drei Vegetationszonen existieren können: die gut bewässerte Süßwasserzone, die Zone der Brackwassertümpel und -sümpfe, die ihr Wasser fast nur durch die meist winterlichen Regenfälle erhalten (das Marais-Gebiet), und schließlich das Gebiet der trockenen Salzsteppen. Seit 1928 wurde auf der Camargue ein 150 Quadratmeter großes Reservat eingerichtet, um die einzigartigen biologischen Schätze der Insel zu erhalten und zu betreuen. Dazu gehören, neben den Flamingos und anderen seltenen Vogelarten vor allem das Camarguepferd.


Ahnen immer noch gesucht

Die Carmagueponys leben in den Sümpfen des Rhônedeltas noch heute halbwild. Ihre Abstammung ist ungeklärt. Eine Theorie läßt sie von prähistorischen Solutréenpferden und eine andere von afrikanischen Berberpferden abstammen. Beide Theorien sind durchaus plausibel, so daß die "wahre" Geschichte ihrer Abstammung möglicherweise irgendwo dazwischen liegt. Mit Sicherheit stimmt es, daß die Wurzeln dieser interessanten Rasse bis in die Jungsteinzeit reichen, denn das trifft genau genommen auf alle Pferde zu, wenn sich auch die genaue Ahnenfolge nicht mit Sicherheit bestimmen läßt.

Der charakterische Unterlippenbart und die Behaarung am Unterbauch, die man auch auf vorgeschichtlichen Höhlenzeichnungen im Solutré (Département Saône/Loire) gefunden hat, zeugen jedoch noch heute von einer direkten Linie zu diesem Urpferd. Auch andere Merkmale des Exterieurs weisen große Ähnlichkeit mit dem Solutréenpferd auf. Die Camargueponys haben seinen geraden, manchmal auch ramsnasigen, etwas langen Kopf, große wache Augen, kleine pelzige Ohren, eine etwas steile Schulter, eine tiefe Brust und einen kräftigen Rücken mit kurzer, abgeschlagener Kruppe. Die Gliedmaßen sind trocken mit starken Gelenken. Rassetypisch für diese Schimmel ist der gedrungene Körper, die starke Rippenwölbung (auch "Grasbauch" genannt) mit stabilem Fundament und die sehr breiten und harten Hufe, alles ebenfalls Merkmale, die man auf den prähistorischen Abbildungen, die ein recht rundliches, stabil gebautes Pferdchen zeigen, mit etwas gutem Willen erkennen kann.

Abweichend ist allerdings die auffällige Farbe und das volle Langhaar. In der Mehrzahl findet man Schimmel, seltener kommen andere Farben vor. Auch sind sie mit einer Größe von 130-145 cm Stockmaß um einiges größer als ihr vermeintlicher Urahn. Diese Eigenschaften weisen wiederum auf die Anwesenheit afrikanischer Berber und Orientalen in der Ahnenreihe der Camarguais hin.

Denkbar - jedoch nicht wirklich nachweisbar - handelt es sich bei diesen Tieren um einen verwilderten Hauspferdebestand, ursprünglich spanischer Pferde, die sowohl noch einen großen Anteil Wildpferdeblut in sich trugen als auch durch Berber und Orientalen stark beeinflußt waren. Ähnlich wie die Mustangs in Amerika entstand daraus eine Rasse harter und ausdauernder Pferde von großer Lebenskraft, die ohne fremde Blutzufuhr über 200 Jahre lang in völliger Freiheit auf der Insel leben durfte. Erst seit 1968 werden sie züchterisch betreut. Nachdem man anfänglich versuchte, sie durch Kreuzung mit Orientalen und Vollblütern, stärker zu veredeln, ist man inzwischen zur Reinzucht zurückgekehrt.

Freizeitreiter schwärmen von den Camarguepferden, die sich auch bei uns in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreuen und sich gerade auf langen Distanz- und Wander- oder den populären Windrosenritten durch ihre Ausdauer und Genügsamkeit auszeichnen. Doch wer sie wegen ihrer Ursprünglichkeit liebt, für den gehören die Carmaguais in ihre Heimat, zwischen Brackwassersümpfen und trockenen Salzsteppen in den Kreis ihrer angestammten Herde.

Erstveröffentlichung 1995

13. November 2007