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HIPPOS/75: Nutztier "Pferd" - oder Die Schuld des Poh Loh (SB)


3000-JÄHRIGE SCHULD

Von der traumatischen Begegnung mit dem Menschen

Widerstand ist zwecklos


Der Kampf zwischen Pferden und Menschen

Die sogenannte Nutznieß- oder "eine Hand wäscht die andere"-Beziehung, die Menschen und Pferde heutzutage meistens pflegen, war im Grunde seit der ersten Begegnung zwischen Pferd und Mensch einseitiger Natur. Sowohl Nutzen als auch (Ge)nießen lag seit jeher auf seiten des Menschen. So war auch die erste Gegenüberstellung zwischen Mensch und Pferd für letzteres nicht gerade das, was man als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen kann. Der Mensch kam schon eher in die Nähe dieses Gefühls, soweit man berücksichtigt, daß seine Liebe durch den Magen ging, denn er sah im Pferd nichts anderes als wohlschmeckendes Fleisch. Für das von Natur aus neugierige, zutrauliche und wenig mißtrauische Pferd stellte der Mensch von diesem Tage an ein geradezu traumatisches Angstobjekt dar und eine Herausforderung des Widerstands bis zum heutigen Tag.

Zunächst waren die flinken Tiere für den Steinzeitmenschen wie die Neandertaler noch viel zu schnell, also gleichberechtigte Gegner in der großen Jagd, wenn man einmal davon absieht, daß das Pferd vom Menschen rein gar nichts wollte, außer ihn zu überleben. Die etwa hunderttausend Jahre vor unserer Zeitrechnung lebenden Urmenschen waren Jäger und Sammler. Neben eßbaren Samen, Beeren und Wurzeln war das bei der Jagd erbeutete Fleisch ihre einzige Nahrung. Bei Ausgrabungen kamen in den jahrtausendealten Küchenabfällen der Alsteinzeit allerdings nur selten Knochen von Wildpferden vor, so daß der Ausgang der Jagd zu jener Zeit durchaus offen gewesen sein mußte.

Das wurde anders, als den Neandertalern vor etwa vierzigtausend Jahren die Cro-Magnon-Menschen folgten, die Vorfahren der heutigen Europäer. Dieser Jäger der Mittelsteinzeit galten als geschickte Beutemacher. Es gab kaum ein Wild der damaligen Zeit, dem sie mit ihrer Speerschleuder, einer besonders wirkungsvollen Waffe, nicht nachstellten. Daß Pferdefleisch häufig auf ihrem Speisezettel stand, schließt man anläßlich der vielen Pferdezeichnungen auf den Wänden und Decken von Höhlen. Das Pferd gilt demzufolge als eine jener Wildtierarten, der der Cro-Magnon-Mensch bevorzugt nachstellte.

Die Jäger der Steinzeit schlossen sich zu Jagdgesellschaften zusammen, denn in diesen Horden war es möglich, mit primitiven Waffen wie zugeschliffenen Knochen, Faustkeilen aus Stein, hölzernen Speeren mit steinernen Spitzen größere und schnellere Tiere zu erjagen.

Bei Pferden war die Klippenjagd am erfolgreichsten - eine besonders grausame Jagdform. Sobald eine Herde von Wildpferden entdeckt wurde, wurden diese von den Jägern mit lautem Geschrei auf einen etwa 100 m tiefen Abgrund zugetrieben. Die in Panik geratenen und verängstigten Tiere sprangen vom Rand der Klippe 100 m in die Tiefe und konnten von den untenstehenden Jägern leicht erlegt werden. Pferde sind Fluchttiere, die ihrem Leittier blindlings folgen, wenn dieses auf Gefahr reagiert - also im Zweifelsfall auch in den Abgrund. Der menschliche Einsatz war also relativ gering, denn es galt ja nur, ein paar Pferde in Angst zu versetzten.

Ein Zeugnis jener Zeit ist Solutrè, ein kleines Weindorf in Südfrankreich, das allerdings nicht durch seine Reben, sondern durch alte Knochenfunde von tausenden von Pferden weltberühmt geworden ist. Menschenknochen neben Pferdeskeletten zeigen jedoch an, daß es auch Verluste auf seiten der Treiber gegeben haben muß, wenn einige Pferde - oder gar das Leittier - sich angesichts der Klippen für den Rettungsweg entschieden und gleichermaßen unkontrolliert und panisch zurückstürmten. So mancher fassungslose Jagdgeselle wurde unter den Hufen der kopflosen Tiere begraben, obwohl es vollständig gegen die Pferdenatur geht, schwächere Wesen über den Haufen zu rennen.

Die andere geschickte Jagdtechnik z.B. in klippenlosen Ebenen war die Feuerjagd, die sich ebenfalls besonders gut zur Pferdejagd eignete. Meist legte eine Gruppe von Jägern in der Grassteppe einen ringförmigen Brand. Die durch das Feuer aufgeschreckte Herde versuchte in rasendem Galopp zu entkommen. Der einzige Fluchtweg aus dem Feuerkreis aber führte durch eine schmale Öffnung, wo die anderen Jäger auf die sichere Beute lauerten. Sie klammerten sich an der Mähne eines vorbeihetzenden Pferdes fest und stachen mit ihrem Knochendolch auf das Tier ein.

Welches Schicksal diese Eiszeitmenschen und ihre Urpferde ereilt hat, kann man nicht mit Gewißheit sagen, denn erst ungefähr 4.000 Jahre vor Christi Geburt tauchen erstmals Dokumente menschlicher Kultur auf, die von Menschen und Pferden berichten. Durch die immer noch praktizierte Sitte, Essensreste einfach liegenzulassen, kann man jedoch mit ziemlicher Sicherheit bestimmen, wovon sich die damaligen Menschen ernährten. Ein besonders ergiebiger Abfallhaufen, den man in der heutigen Ukraine, am Ufer des Flusses Dnjepr entdeckte, soll unter anderem eine große Zahl von Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Schweineknochen enthalten. Am häufigsten aber sind Pferdeknochen, die im Vergleich zu früheren Kulturen dieser Region etwa doppelt so häufig vertreten sind. Offenbar mußte sich bei den damals lebenden Jägern und Ackerbauern die Erkenntnis durchgesetzt haben, daß es einfacher ist, die Beute zu züchten, als ihr jagend hinterherzurennen.

Und nachdem der Mensch dem Pferd selbst die geringe Chance des Entkommens genommen hat, indem er es auf Koppeln hält, anpflockt und züchtet, bleibt dem derart domestizierten Tier nichts weiter als zu hoffen, daß der Mensch es gut behandelt und für Pferdegesellschaft und ausreichend Weidefläche sorgt.

Die Erkenntnis über seine Abhängigkeit ließ das Pferd dem willensstärkeren Menschen gegenüber folgsam werden und ihn als Führer und Leittier akzeptieren, auch wenn es in freier Natur nie auf die Idee gekommen wäre, sich einem so schwächlichen Wesen unterzuordnen. Und gemäß der natürlichen pferdegerechten Ordnung darf das Leittier Mensch auch Dinge tun, die dem Pferd unverständlich sind, ohne daß es seinen Widerstand anmeldet. Die Geschichte der Reit- und Kriegskunst kennt hierzu unendlich viele Beispiele.

Der Mensch bestimmt seither, wie und wo das Pferd lebt. Willkürlich steckt er es in Ställe oder umzäunte Wiesen. Er entscheidet sogar, mit welchen anderen Pferden ein Pferd zu leben oder mit wem es sich zu paaren hat. Und schließlich bestimmt er, daß man zweifachen Nutzen aus dem Fleisch des Tieres ziehen kann, wenn man es zur Arbeit vor Pflug und Wagen spannt oder gar auf ihm reitet.

Für ein Pferd ist das Reiten bzw. das Gerittenwerden etwas vollkommen Unnatürliches und ein Ausdruck seiner vollständigen Unterwerfung. Selbst nach einigen tausend Jahren der Zähmung und Überredung durch den Menschen sind Pferde grundsätzlich nicht davon begeistert, etwas auf dem Rücken tragen zu müssen. Sobald ein Mensch sich schwach zeigt, sich Reiter oder Wagenlenker in ihren Absichten nicht eindeutig verhalten und ihren Willen dem Pferd nur noch durch technische Geräte und schmerzhafte Foltern aufzwängen, meldet das Pferd auch heute noch mit allerlei trägen oder aggressiven Kniffen wie Dickfelligkeit, Sturheit, Steifheit, Buckeln, Bocken, Abwerfen, Kneifen, Beißen u.a. verständlichen Fertigkeiten, die den Reiter zum Schwitzen oder Absitzen bringen, immer wieder seinen Widerstand an.

Wer heutzutage behauptet, er liebe Pferde und sei ein Pferdenarr, der sollte sich auch mit diesem traumatischen Aspekt im Verhältnis zwischen Pferd und Mensch auseinandersetzten, über das sich schon mindestens vor zwei- bis dreitausend Jahren chinesische Gelehrte Gedanken machten. Dies zeigt beispielsweise eine Geschichte, die man als Gleichnis bei Zhuang Zi (Dschuang Dsi) ca. 300-400 v. Chr. nachlesen kann und die ich dem werten Leser, Pferdefreund und Reiter hiermit ans Herz lege:

BUCH IX
VON PFERDEN UND MENSCHEN
"Pferde, Hufe"

Solang die Pferde auf den Steppen weilen, haben sie Hufe, die sie über Frost und Schnee tragen; Haare, die sie vor Wind und Kälte schützen. Sie fressen Gras und saufen Wasser, und sie tummeln sich auf freier Ebene. Das ist das natürliche Verhalten der Pferde. Luxuriöse Stallungen haben für sie keinen Nutzen.

Eines Tages erschien Poh Loh und sagte: "Ich weiß, wie Pferde zu behandeln sind."

Er brändete und schor sie, beschnitt ihre Hufe und legte ihnen Halfter auf, band sie fest, hobelte sie und hielt sie in Stallungen, mit dem Ergebnis, daß zwei oder drei von zehn Pferden starben. Dann ließ er sie hungern und dursten, ließ sie traben und galoppieren, pflegte und frisierte sie, mit dem ständigen Unbehagen der geschmückten Zäumung vor und der Angst der geknüpften Peitsche hinter sich, bis mehr als die Hälfte von ihnen tot war.

Der Töpfer sagt: "Ich kann aus Ton machen, was ich will. Will ich ihn rund formen, benutze ich eine kreisförmige Vorlage, soll er rechteckig werden, eine quadratische."

Der Zimmermann sagt: "Ich kann aus Holz machen, was ich will. Möchte ich es biegen, nehme ich den Bogen als Vorlage, soll er gerade sein, eine Linie."

Was aber erlaubt es uns, anzunehmen, daß die Natur von Ton und Holz die Übertragung von Kreis und Quadrat, Bogen und Linie wünscht? Trotzdem, jedes Zeitalter lobt Poh Loh ob seiner Fähigkeiten mit Pferden umzugehen, und lobt Töpfer und Zimmermänner für ihr Geschick im Umgang mit Ton und Holz...

Pferde leben auf trockenem Untergrund, fressen Gras und trinken Wasser. Haben sie Freude aneinander, so kreuzen sie die Hälse und reiben sich. Sind sie erzürnt und böse, so drehen sie sich den Rücken und schlagen aus. Darin besteht Ihre ganze Kenntnis. So weit werden sie von ihrer natürlichen Veranlagung gelenkt.

Spannt man sie aber an die Deichsel und zwingt sie unters Joch, zäumt und sattelt sie mit einer Metallscheibe auf der Stirn, dann lernen die Pferde, scheu umherzublicken, gefährlich mit den Augen zu rollen, den Hals zum Beißen zu verdrehen, zu bocken, das Gebiß aus dem Maul zu schieben oder den Zügel heimlich durchzubeißen. So werden sie klug und geschickt in allerhand Kniffen und ihre Natur entartet. Das alles ist die Schuld von Poh Loh, dem ersten Pferdebändiger.
(Zhuang Zi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland/2. Buch IX, Von Pferden und Menschen, Wider die Kultur II)

Erstveröffentlichung 1997

22. Januar 2008