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BERICHT/008: Feiern, streiten und vegan - Konfliktbereit für Mitgeschöpfe ... (SB)


Treffen der Tierbewegung

Veganes Straßenfest Hamburg am 13. September 2014



Veganismus liegt im Trend, und das nicht nur, weil damit eine Minderung des Leidens schmerzempfindender Wesen verbunden ist. Eine ohne die Nutzung von Tierprodukten auskommende Lebensweise wird auch aus gesundheitlichen Gründen propagiert und fügt sich leicht nahtlos in die Zurichtung der eigenen Arbeitskraft auf die Interessen des Marktes ein. Was insgesamt zur anwachsenden Empfindsamkeit gegenüber dem Leiden nichtmenschlicher Tiere und der Notwendigkeit seiner Beendigung beiträgt, droht zugleich als bloße Ideologie des besseren Konsums auf die Gegenspur einer Legitimation herrschender Ausbeutungsverhältnisse zu geraten. Die bloße Umstellung der Ernährung in den wenigen Gesellschaften, die aufgrund ihres materiellen Reichtums überhaupt in der Lage sind, die Bevölkerung von einem solchen Schritt zu überzeugen, ändert im globalen Maßstab nur wenig an der fortschreitenden Naturzerstörung, die einer auf Kapitalakkumulation ausgerichteten Produktivität immanent ist. Solange die Maxime wirtschaftlichen Wachstums, und sei sie noch so grün eingefärbt, erklärtes Ziel der Politik ist, bleiben die Lebensverhältnisse der prinzipiell schrankenlosen Verwertung von Arbeit und Kapital unterworfen, stehen die Belange menschlichen Lebens unter dem Diktat quantitativer Tauschbeziehungen und warenförmiger Vergleichskriterien.

Die fundamentale Kritik an der Vernutzung von Lebewesen für die Zwecke anderer speist sich zwar aus verschiedenen Quellen empathischer, moralphilosophischer oder antikapitalistischer Art, gerät aber desto mehr in Konflikt mit der angestrebten Minderung des Tierleids, als sie sich auf die Frage reduziert, was auf den Teller kommt und was nicht. Unter welchen Umständen vegane Nahrungsmittel angebaut, geerntet, transportiert und weiterverarbeitet werden, kann ihren Käuferinnen und Käufern angesichts des Produktivitätsgefälles zwischen dem globalen Norden und Süden wie auch den sozialen und ökologischen Problemen in aller Welt nicht gleichgültig sein. Die Lebensmöglichkeiten von Tieren werden durch agroindustrielle Anbaumethoden auch dann geschädigt, wenn deren Erzeugnisse nicht für die Mästung von sogenanntem Schlachtvieh verwendet werden. Durch Absatzrückgang bewirkte Preissenkungen bei Tierprodukten könnten sogar zu ihrem vermehrtem Verbrauch bei Kunden tierischer Produkte führen. Der anwachsende Konsum von Fleisch in einigen Schwellenstaaten mit relativ hohen Wachstumsraten bietet einer hierzulande mit weniger Nachfrage konfrontierten Tierindustrie neue Absatzmöglichkeiten.

Dies und vieles mehr, was sich noch zu den Problemen der herrschenden Verwertungsordnung und Gesellschaftskultur anführen ließe, ist über die individuelle Konsumentscheidung hinaus von Belang, wenn es um mehr geht als die Frage des persönlichen Wohlbefindens. Das spricht nicht gegen eine vegane Lebensweise, sondern für deren Politisierung zugunsten eines umfassenden Konzepts der Befreiung von Mensch und Tier. Auf allen Feldern sozialökologischer Kämpfe sind die dort aktiven Menschen mit der hochgradigen Adaptionsfähigkeit herrschender Gesellschaftsdoktrinen und Staatsformen konfrontiert, sprich mit der Vereinnahmung ihres Anliegens durch ihm zuwiderlaufende Zwecke. Gerade weil die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung einen höchst empfindlichen Punkt individueller und gesellschaftlicher Reproduktion berührt, kann sie zum Ziel von Konterstrategien werden, die ethisch korrekten Konsum auf eine Weise moralisch verabsolutieren, der neue, im herrschaftskritischen Sinne nicht minder inakzeptable Formen der Ausschließung vermeintlich falsch lebender Menschen hervorbringt. Soll es jedoch um eine qualitative Veränderung in den Beziehungen zwischen Lebewesen gehen, um das Ende der Zerstörung von Mensch und Natur und den Entwurf eines egalitären, gewalt- und herrschaftsfreien Lebens, dann können die dazu erhobenen Forderungen und gestellten Fragen kaum unbescheiden genug sein.

Transparent 'Animal Liberation Human Liberation' - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Unkommerziell und aktivistisch

Ein wenig vom Geist dieser Utopie durchwehte auch den Carl-von-Ossietzky-Platz in St. Georg, als dort am 13. September das erste Vegane Straßenfest Hamburgs stattfand. Erklärtes Ziel der aus mehreren Tierrechts- und Tierbefreiungsgruppen bestehenden Orga-Gruppe war es, dieses Treffen nicht, wie häufig bei ähnlichen Events üblich, vor allem kommerziellen Zwecken zu widmen, sondern das Interesse der Tiere in den Mittelpunkt zu rücken. Unter dem Motto "Leben - Tierbefreiung - Solidarität" kam ein breites Spektrum an Vereinen, Projekten und Kampagnen zusammen, um an Informationsständen über ihre Arbeit und ihre Ziele zu informieren und das Publikum in dem Veranstaltungszelt mit politischen und kulturellen Beiträgen in diesem Sinne zum Nachdenken anzuregen. Alle Vorträge wurden in Gebärdensprache für Gehörlose übersetzt, was nicht nur aufgrund der dadurch hergestellten Barrierefreiheit erfreulich war, sondern dem mit dieser Kommunikationsform unvertrauten Publikum einen Eindruck von einer höchst ausdrucksstarken Sprache vermittelte.

Die Gruppen Animal Liberation Network, Vegane Bewegung, Animal Rights Watch, Artgerecht und Free Animal hatten das Fest in vielmonatiger Arbeit organisiert und damit weiteren Initiativen die Möglichkeit geboten, sich vorzustellen. Natürlich kamen auch die Angebote an veganen Speisen nicht zu kurz, was nicht zuletzt Anwohnern und Passanten die Gelegenheit gab, sich mit den Vorzügen einer Ernährung ohne Tierprodukte vertraut zu machen. Schon bald nach Beginn des Straßenfestes war der Platz dichtbevölkert mit vor allem jungen Menschen, die es sich auf dem Pflaster gemütlich machten und die Möglichkeit genossen, miteinander in intensiven Austausch zu treten.

Im Vortragszelt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aktivistin des Tierfabriken Widerstands und Gebärdendolmetscherin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Tierfabriken Widerstand - Ein Bündnis für Aktionen und Vernetzung stellt sich vor

Den Auftakt im Veranstaltungszelt machte eine Vertreterin der Gruppe Tierfabriken Widerstand, die gegen den Neubau von Mastanlagen insbesondere in Ostdeutschland kämpft. Um Millionen Tiere vor der Qualzucht in neuen Mastbetrieben und dem Tod in neuen Schlachthöfen zu schützen, streben die Aktivistinnen und Aktivisten Bündnisse mit lokalen Bürgerinitiativen an. Das hatte bei einem Aktionswochenende in Stemmern bei Magdeburg zur Folge, daß die dort kaum noch aktive BI zu neuer Blüte gelangte und 1600 Einwendungen gegen den im Ort geplanten Mastbetrieb verfaßte. Die Recherche bei den dafür zuständigen Genehmigungsbehörden, die die Gruppe Tierfabriken Widerstand durchführt, wird durch das Abhalten von Schreibwerkstätten ergänzt, in denen die Betroffenen lernen, wie sie Einwendungen verfassen, die nicht schon aufgrund formaler Kriterien wirkungslos bleiben. Infoveranstaltungen und andere Aktionsformen gegen neue Tierfabriken runden das Spektrum eines Aktivismus ab, dem das klare Ziel der Tierbefreiung zugrunde liegt und der gerade deshalb versucht, Aktionsbündnisse über die eigenen Reihen hinaus zu schmieden.

Zwar befinden sich die meisten Tierfabriken in Niedersachsen, doch in Ostdeutschland nimmt die Zahl und die Größe neuer Mastanlagen stetig zu. Während diese im Normalfall 40.000 bis 80.000 Hühner oder 10.000 Schweine aufnehmen, kommen die größten Projekte auf bis zu 400.000 Masthühner oder 95.000 Mastschweine. Ein Grund für die Expansion der fleischverarbeitenden Industrie in die ostdeutschen Bundesländer scheint darin zu bestehen, daß Altanlagen aus der DDR noch Bestandsschutz genießen, was vereinfachte Genehmigungsverfahren und erleichterte Baugenehmigungen bei verfallenen Anlagen zur Folge hat. Zudem handelt es sich häufig um strukturschwache Regionen, in denen die politischen Bedingungen für die Neuansiedlung von Tierbetrieben besonders günstig sind.

Am Stand des Tierfabriken Widerstands - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Die deutsche Fleischindustrie auf Expansionskurs

In dem zweiten Programmpunkt untersuchte ein Aktivist der ökomarxistischen Gruppe Assoziation Dämmerung die ökonomischen Strukturen der deutschen Fleischindustrie, die schon vom reinen Zahlenwerk her ahnen läßt, in welchem Ausmaß hierzulande lebendige Wesen dem elenden Schicksal eines angeblichen Produktionsmittels ausgesetzt sind. Daß sich zur Zeit mit 13 Millionen Rindern, 28 Millionen Schweinen, 67 Millionen Masthühnern und 38 Millionen Legehennen doppelt so viele sogenannte Nutztiere wie Menschen in der Bundesrepublik befinden, obwohl der Fleischkonsum der Bevölkerung tendenziell rückläufig ist, erklärt sich aus dem zu monopolistischer Marktbeherrschung drängenden Konzentrationsprozeß, dem große Kapitale stets unterliegen.

Die Fleischindustrie ist die größte Branche in der deutschen Ernährungsindustrie, die wiederum nach der Automobil- und Chemieindustrie wie dem Maschinenbau auf Platz vier der größten Industriezweige des Landes rangiert. Deutschland ist mit 58 Millionen geschlachteten Schweinen pro Jahr der größte Produzent in Europa und weltweit nach China und den USA der drittgrößte Produzent von Schweinefleisch. Dieses Ergebnis wird zu 56 Prozent allein von den Fleischkonzernen Tönnies, Vion und Westfleisch bestritten, wobei die Tönnies-Gruppe unter den Fleischwarenunternehmen insgesamt vor der Vion-Gruppe, Westfleisch und der PHW-Gruppe Marktführer ist. In den letzten 15 Jahren haben sich die Kleinbetriebe der Fleischindustrie stark ausgedünnt, während die großen Unternehmen nach der Devise "Expandieren oder untergehen" immer weiter wuchsen. So vereinen die fünf größten Schlachtunternehmen Deutschlands inzwischen einen Marktanteil von 75 Prozent auf sich.

Da der eigene Markt gesättigt ist, wird das permanente Wachstum der Fleischindustrie zusehends durch den Export in die EU und darüber hinaus ermöglicht. Seit 1995 haben sich die Fleischausfuhren aus Deutschland vervierfacht, was in den Zielländern zur Verdrängung einheimischer Produzentinnen und Produzenten mit dementsprechend negativen sozialen Folgen führt. Die hohe Produktivität der Fleischindustrie ist neben hocheffizienten Schlachthöfen, deren maschinelle und logistische Spitzenleistungen sie dazu befähigen, in einem einzigen Betrieb 40.000 Schweine oder 384.000 Hühner am Tag umzubringen, den besonders harten Arbeitsbedingungen des Personals geschuldet.

So befinden sich unter den geschätzten 80.000 Arbeiterinnen und Arbeitern der Branche nur 28.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, während Leiharbeits- und Werksverträge die Norm sind. Nur so lassen sich Stundenlöhne unter fünf Euro realisieren, nur so können Doppelschichten gefahren werden, nur so können gewerkschaftliche Organisation und damit Arbeitskämpfe verhindert werden. Da in den Peripheriestaaten der EU, aber auch in der BRD ein Heer von willigen Erwerbslosen nur darauf wartet, freiwerdende Arbeitsplätze in den Fleischbetrieben aufzufüllen, belegt diese Form der Ausbeutung auch die Wirksamkeit einer Liberalisierung der europäischen Arbeitsmärkte, die sich auf die Verkäuferinnen und Verkäufer ihrer Arbeitskraft wie die Peitsche des Sklaventreibers auswirkt.

Die Fleisch- und Milchwirtschaft wird von der Bundesregierung finanziell mit einer Milliarde Euro an Subventionen jährlich gefördert. Politisch wird sie dadurch unterstützt, daß in den Zielländern ihrer Exporte Rechtsschutz hergestellt wird, daß die dortigen Hygienevorschriften zu Lasten einheimischer Kleinbetriebe auf deutsches Niveau angehoben und neoliberale Marktbedingungen durchgesetzt werden, die die hochproduktiven Unternehmen dieser Branche begünstigt und einheimische Erzeugerstrukturen niederkonkurriert.

Auf dem Veganen Straßenfest - Foto: © 2014 by Schattenblick

Großer Andrang auf kleinem Raum
Foto: © 2014 by Schattenblick

Zu einer Diskussion des hier nur schlaglichtartig beleuchteten Vortrags kam es aus Zeitgründen nicht mehr. Dabei wäre es interessant gewesen, noch über die Bedeutung der Fleisch- und Milchindustrie für die allgemeine Verfügbarkeit von Lohnarbeit zu sprechen, steht und fällt deren Preis doch mit den Kosten ihrer Reproduktion. Was an Fleisch- und Milchprodukten relativ billig angeboten wird, erhöht den Anteil an unbezahlter Arbeit, der als Mehrwert abgeschöpft und reinvestiert werden kann. Wie im Falle unter Sklavenbedingungen in Bangla Desh produzierter Textilien zahlen sich billige Waren, die notgedrungenerweise von Lohnabhängigen und den Empfängern staatlicher Transferleistungen gekauft werden, für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen aus. Je geringer die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeit, desto niedriger das Lohnniveau und damit der Erzeugerpreis, der sich am Weltmarkt bewähren muß.

Wer sich mit einem solchen Konglomerat aus ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen in der Absicht anlegt, die Legitimität dieser Produktionsweise in Frage zu stellen, muß sich warm anziehen. Obwohl der Tierverbrauch ökologisch kontraproduktiv, ethisch verwerflich und ernährungstechnisch ungerecht ist, wird er politisch, steuerlich und institutionell auf allen Ebenen gefördert. Die Fleischindustrie dient nicht anders als andere Wirtschaftsbereiche der Sicherung und Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Produkts und ist damit Ausdruck einer Staatenkonkurrenz, die immer wieder zu Kriegen führt und Fortschritte bei der schon aus ökologischen Gründen dringend erforderlichen Korrektur der Wachstumsdoktrin verhindert.

Bei der Backshow mit Fräulein Flauschmiez - Fotos: © 2014 by Schattenblick Bei der Backshow mit Fräulein Flauschmiez - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Wozu ist die Torte da?
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Bedenkenswertes zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen

Neben der Aufklärung über die Strukturen der Tierausbeutung und den dagegen gerichteten Widerstand kam es auch zu erfreulicheren Darbietungen wie etwa einer Backshow. Fräulein Flauschmiez zauberte vor interessiertem Publikum Schicht um Schicht eine vegane Erdbeer-Sahne-Torte mit Mousse-Au-Chocolat-Füllung hervor. Während das Prachtstück unter sachkundigen Erklärungen zu den verwendeten Zutaten heranwuchs, ließ es sich ein Zuschauer nicht nehmen, die eine oder andere Kostprobe bis hin zum Auslecken der Schüssel unter sichtlichem Genuß zu erbitten. Wie gut er beraten war, vor allen anderen zu probieren, zeigte sich nach Vollendung des Backwerks, das natürlich sofort angeschnitten und verspeist wurde: Blitzschnell formierte sich die Zuschauerschaft zu einer langen Schlange, der die Torte nur kurzfristig standhalten konnte.

Udo Taubitz liest - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kindliche Tierbegeisterung einmal anders
Foto: © 2014 by Schattenblick

Udo Taubitz las aus seinem Buch "Karl Klops, der coole Kuhheld", in dem es um einen Jungen geht, der beim Anblick des Weihnachtsbratens beschließt, nie wieder Fleisch zu essen. Seine Eltern sind besorgt und wollen ihm die Flausen austreiben, weshalb sie ihn in den Ferien auf den Biohof seines Onkels Tom schicken. Dort kommt es jedoch ganz anders... Das erste Kinderbuch mit einem veganen Helden hinterfragt das übliche Bilderbuch-Bauernhofidyll. Es lädt Eltern und Kinder ein, ihre Eßgewohnheiten und damit auch ihr Verhältnis zu Tieren zu überdenken.

Mit Gitarre stehend am Mikrofon - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gesungene Geschichten von Hisztory
Foto: © 2014 by Schattenblick

Einige musikalische Darbietungen lockerten das Programm auf, allerdings nicht nur auf unterhaltsame, sondern der Sache der Tiere und ihrer Befreiung verpflichtende Weise, wie der Leipziger Liedermacher Hisztory und die Rapper Albino und 4Paws zeigten. Weitere auf dem Straßenfest präsentierte Gruppen und Initiativen werden in lockerer Folge anhand von Interviews im Schattenblick vorgestellt werden.

Bei der Lesung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hilal Sezgin über Menschen und andere nichtmenschliche Tiere
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ein kleiner Höhepunkt unter den Veranstaltungen war die Lesung der Autorin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin. Die mit 42 Schafen einen Gnadenhof in der Lüneburger Heide betreibende Journalistin traf mit Auszügen aus ihrem Buch "Tierleben" den Nerv der Zuhörerinnen und Zuhörer, von denen einige eigens zu ihrem Auftritt auf das Vegane Straßenfest gekommen waren. In ihren Geschichten aus eigenem Erleben kollidieren Engagement und Ignoranz auf bisweilen so abstruse Weise miteinander, daß einem das Lachen im Halse steckenbleibt.

So trifft sie gelegentlich, wenn deutlich wird, daß sie ihre Lämmer weder zu Ostern noch zu einem anderen Zeitpunkt zu schlachten beabsichtigt, auf blankes Unverständnis. Sogenannte Nutztiere zu halten und ihnen keinen bestimmten Nutzen abzuringen, scheint in einer Gesellschaft, in der alles immer unausweichlicher in Euro und Cent abgerechnet wird, geradezu ein Sakrileg darzustellen. Obwohl Schafe bis 15 Jahre alt werden und die Heidschnucken eines Nachbarn Hilal Sezgins sogar 27 Jahre lang lebten, wollen ihnen manche Menschen weit vor ihrer Zeit den Garaus machen, andernfalls könnte ja Unerhörtes geschehen:

"Nie werde ich den entsetzten Gesichtsausdruck jener Frau vergessen, die es fast für grausam hielt, Schafe nicht zu verwerten. Langsam ahnte sie, auf welch entsetztes Ende das hinauslief. Aber wenn Sie nicht schlachten, dann müssen die Schafe ja alt werden und sterben! Ganz genau, und bis dahin sind sie einfach am Leben, so wie wir."

Hilal Sezgin versteht es, an und für sich grausame Praktiken und Einstellungen auf so bezeichnende Weise zu karikieren, daß sie erst recht auf den Kern des sie bestimmenden Gewaltverhältnisses gebracht werden. So passiere es ihr immer wieder, "daß ich von meinen Schafen erzähle, und das Gegenüber sofort beginnt, potentielle Soßen- und Zubereitungsarten zu assoziieren. Manchmal ist es wohl humorig gemeint, aber ich finde dieses reflexhafte Abspulen von Rezeptideen, sobald ein Tier erwähnt wird, schon lange nicht mehr witzig."

Der eindrückliche Bericht einer nächtlichen Aktion von Animal Rights Watch, bei der Hühner- und Schweineställe inspiziert wurden, um die Lebensbedingungen der dort eingesperrten Tiere zu dokumentieren, läßt keinen Zweifel daran, daß die in engsten Verhältnissen lebenden Sauen und Ferkel auf die bloße Funktion biologischer Produktivität reduziert werden. Das Entsetzen der Autorin ob dieses barbarischen Systems löste bei ihr "Angst vor dem, was ich sah, Angst vor dem, was Menschen möglich ist, Angst zu realisieren, was hier jeden Tag geschieht", aus.

Publikum bei Lesung Hilal Sezgins - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gespannte Aufmerksamkeit für eine Erzählerin aus eigenem Erleben
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die immer wieder an sie gerichtete Frage, warum Tierrechtler einzelne Tiere mit viel Aufwand auf Lebenshöfen versorgen, während 6,5 Millionen Hühner in Deutschland jährlich geschlachtet werden, es also aufs Ganze gesehen kaum einen Unterschied mache, beantwortet sie entschieden und kategorisch. Für das jeweilige Tier mache dies einen Unterschied ums Ganze, so die Quintessenz des die schiere Quantität der Tierausbeutung in die inakzeptable Qualität des dazu entfesselten Blutflusses überführenden Arguments. Was zählt, ist das einzelne Lebewesen in seiner individuellen Unvergleichbarkeit, in der Einzigartigkeit eines Seins, das sich auch kein Mensch absprechen lassen möchte, obwohl es in ihrer Nichtigkeit und Flüchtigkeit Milliarden vergleichbare Schicksale auf dieser Welt gibt.

Damit liefert Hilal Sezgin auch ein bedenkenswertes Argument für einen Aktivismus, der nicht auf Erfolge angewiesen sein muß, um dennoch wirksam zu sein. Der Kampf für Befreiung, so unbedeutend er auch erscheinen mag, wird in der Errungenschaft des historischen Fortschritts manifest, die Grenzen des vermeintlich schicksalhaften Naturzwangs und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses in Richtung Emanzipation und Befreiung zu perforieren. Was sonst sollte für den einzelnen Menschen bedeutsam sein, als sich mit einer Ohnmacht zu konfrontieren, deren gesellschaftliche Bestätigung und Verallgemeinerung überall dort die Zukunft der Herrschaft über Mensch und Tier festschreibt, wo sie nicht mit gebotener Streitbarkeit in die eigenen Hände genommen wird.

Aus dem Angebot von Flyern und Infomaterial - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

Webseite des Veganen Straßenfestes:
http://www.veganes-strassenfest.de/index.php?s=home

19. September 2014