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BERICHT/015: Veganes Straßenfest ... kulturelle Widersprüche (1) (SB)


Die Körper weigerten sich, irgendeine Rechtfertigung oder Entschuldigung zur Kenntnis zu nehmen - jeder Körper wehrte sich auf eigene Art und Weise, versuchte zu fliehen, und schien mit dem Schöpfer bis zum letzten Atemzug zu argumentieren.
Isaac Bashevis Singer - The Slaughterer (1967)


Es bedurfte nur einer Äußerung der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, und schon fühlten sich die Verteidiger des uneingeschränkten Fleischkonsums auf den Plan gerufen. Im März hatte die Politikerin, die mit der Forderung nach einem Green New Deal zur Bewältigung der ökologischen wie sozialen Krise in den USA Furore macht und damit auch in der eigenen Partei der Demokraten auf Widerspruch stößt, erklärt: "Wir müssen die industrielle Landwirtschaft zum Thema machen. Vielleicht sollten wir nicht zum Frühstück, Mittag- und Abendessen einen Hamburger essen." [2] Schon einen Monat zuvor hatte US-Präsident Donald Trump den Green New Deal in einem Tweet als Versuch dargestellt, Rinder "permanent zu eliminieren", und der republikanische Senator John Barrasso hatte erklärt, daß, wenn der Green New Deal Gesetzeskraft erlangte, die Menschen Abschied nehmen müßten von Molkereiprodukten und Rindfleisch, von der Idylle der Family Farm und der Cowboyromantik der Ranch.

Nach dem Fernsehauftritt von AOC, wie die Politikerin aus New York unter jungen, gegen Naturzerstörung und Klimakatastrophe angehenden US-BürgerInnen genannt wird, traten bei verschiedenen Anlässen Politiker der Republikaner vor die Kamera, um dort demonstrativ Burger zu verspeisen, Ocasio-Cortez der prinzipiellen Feindseligkeit gegenüber FleischkonsumentInnen zu bezichtigen oder gar zu behaupten, daß schon Stalin davon geträumt habe, den Menschen die Hamburger wegzunehmen. Was ihm damals nicht gelungen sei, so der ehemalige Trump-Berater Sebastian Gorka, wollten die Verfechter des Green New Deal nun Wirklichkeit werden lassen.


Spielbudenplatz mit Blick auf 'Tanzende Türme' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Veganes Straßenfest 2019
Foto: © 2019 by Schattenblick

Dieser rhetorische Schlagabtausch legt die Bruchlinie eines Konfliktes frei, der in Zukunft weiter eskalieren könnte. Nicht nur in den USA, wo reichlicher Fleisch- und Milchkonsum etwa den Stellenwert eines nationalen Identitätsmerkmals wie der allgemein erlaubte Besitz von Schußwaffen hat, sondern auch in EU-europäischen Staaten, wo die Einsicht in die naturzerstörerische, den Klimawandel befeuernde Wirkung der Tierproduktion immer weitere Kreise erfaßt, zeichnen sich die Konturen eines regelrechten Kulturkampfes ab. Daß dieser auch hierzulande vornehmlich das liberal bis links eingestellte Bürgertum und das Lager rechter NationalchauvinistInnen gegeneinander aufbringt, hat viel damit zu tun, daß die Kritik der industriellen Landwirtschaft vornehmlich dort auf fruchtbaren Boden fällt, wo die Bereitschaft, tradierte Werte und Normen zur Disposition einer weniger vom Zwang zu Anpassung und Unterwerfung bestimmten Gesellschaft zu stellen, besonders ausgeprägt ist.


Präsentation von T-Shirts mit Motiven aus der Tierrechtsbewegung - Fotos: © 2019 by Schattenblick Präsentation von T-Shirts mit Motiven aus der Tierrechtsbewegung - Fotos: © 2019 by Schattenblick Präsentation von T-Shirts mit Motiven aus der Tierrechtsbewegung - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Mehr als ein Fashion Statement ...
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Es ist kein Zufall, daß in der Neuen Rechten der Kampf gegen Feminismus, die Überwindung der binären Geschlechteridentität und eine kosmopolitische Grundhaltung Hand in Hand geht mit dem Bestehen auf eine Form des Verbrauches natürlicher Ressourcen, die vermeintlich die beste Garantie dafür bietet, den eigenen Wohlstand gegen die Armen und Hungernden in der Welt, gegen vor Krieg und soziale Verelendung fliehende Menschen durchzusetzen. Nicht wahrhaben zu wollen, daß es in der nationalen Festung keinen Schutz vor einer Klimakatastrophe geben kann, die durch die eigene, verbrauchsintensive Lebensweise und den damit einhergehenden Raubbau an den natürlichen Ressourcen im Globalen Süden maßgeblich vorangetrieben wird, und ein prinzipiell auf sozialdarwinistischer Überlebenskonkurrenz basierendes Menschenbild bilden das ideologische Fundament des Insistierens auf Gewaltverhältnisse, die die eigenen Privilegien sichern.

So weist der Veganismus als Antithese zur vermeintlichen Unabdingbarkeit des Tierverbrauchs durchaus das Potential auf, zu einem regelrechten Glaubenskampf zu entufern, in dem mehr abgehandelt wird als die einfache Frage, ob sich nicht auch ohne das Ausbeuten und Töten von Tieren gut leben ließe. Ob eine klimapolitisch begründete Regulation des Nahrungsmittelmarktes, die mit der deutlichen Verteuerung von Tierprodukten und der Verbilligung von Pflanzenprodukten einherginge, von der Bevölkerung in der Bundesrepublik einfach hingenommen würde ist denn auch zu bezweifeln. VeganerInnen tun gut daran, FleischkonsumentInnen nicht im hohen Ton moralischer Suprematie eines Besseren zu belehren, während sie in der Bundesrepublik ein privilegiertes Leben führen, das häufig unter grausamen Umständen und hohem Naturverbrauch in anderen Weltregionen erwirtschaftet wird. Politische Ignoranz und uninformierter Rigorismus zeichnen nicht nur das Insistieren auf Tierverbrauch nach dem Motto "Fleisch ist mein Gemüse" aus, sondern sind auch dort anzutreffen, wo Menschen gut begründete Veränderungen in Verbrauch und Verhalten zum Primat moralischer Unfehlbarkeit überhöhen, der die Eskalation in diesem Kulturkampf nur verstärken kann.


Straßenfest mit permanenter Installation von Bänken und Buden - Foto: © 2019 by Schattenblick

Spielbudenplatz St. Pauli - Pflasterstrand am Elbsand
Foto: © 2019 by Schattenblick


Gaumenfreuden ohne Bein und Pein

Fernab einer solchen Polarisierung wurde auf dem 6. Veganen Straßenfest in Hamburg vor allem gegessen, getrunken, geredet und gelacht. Die vielen Gastro-Stände waren permanent umlagert, lange Reihen aus Tischen und Bänken, die zusätzlich zu den fest eingerichteten Sitzecken auf dem Spielbudenplatz in St. Pauli aufgestellt waren, luden zum Niederlassen in der heißen Sonne ein, und die AktivistInnen an den Ständen diverser Tierrechts- und Tierschutzinitativen konnten sich über Mangel an interessiertem Publikum nicht beklagen. Das seit langem angekündigte Unwetter ließ auf sich warten, so daß lediglich die letzten zwei Stunden des Straßenfestes unter erschwerten Bedingungen stattfanden.

Die überall anzutreffenden Signaturen des Veganismus schlossen jede Verwechslung, daß es sich bei diesem Straßenfest um einen x-beliebigen Stadtteilevent oder ein alltägliches Marktgeschehen handelt, von vornherein aus. Im Veranstaltungszelt wurden Vorträge zu Themen rund um Tierausbeutung und vegane Ernährung gehalten, Laienmodels präsentierten tierverbrauchsfreie Bekleidungsalternativen, zuguterletzt wurde der Tag mit einem kleinen Konzert zum Abschluß gebracht. Der Spielbudenplatz auf der Reeperbahn ist wie die ganze Vergnügungsmeile ohnehin stark von Publikum frequentiert, doch das Vegane Straßenfest sorgte noch einmal für einen extra Schub an Menschen, die gekommen waren, weil sie überzeugte VeganerInnen sind oder erfahren wollten, was im einzelnen dafür und dagegen spricht, auf diese Weise Tierleid zu mindern.


Aktionsstand mit Informationstafeln - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Stop Finning" - Aktion gegen massenhafte Haivernichtung
Foto: © 2019 by Schattenblick

Zu Beginn des fast siebenstündigen Programms im Veranstaltungszelt zwischen Information und Unterhaltung klärte die Ärztin im Ruhestand Katharina Feuerlein für die Organisation Ärzte gegen Tierversuche darüber auf, daß rein gar nichts für die Notwendigkeit schmerzvoller, in der Regel tödlich endender Experimente an Tieren spricht. Allein die dort an leidensfähigen Wesen begangenen Grausamkeiten wären Grund genug, diese Praxis sofort zu verbieten. Erschwerend zu den bekannten, an und für sich unerträglichen Praktiken kommt hinzu, daß die ExperimentatorInnen bei ihrer Tätigkeit unbeaufsichtigt sind, also auch "unnötigen" Quälerein Tür und Tor geöffnet sind. Die Irrelevanz, ja Gefährlichkeit der dabei erlangten Erkenntnisse zu Medikamenten und Therapieweisen zu belegen macht das Gros der Arbeit der seit 1979 für eine tierversuchsfreie Medizin eintretenden Organisation aus. Da es sich bei ihren Mitgliedern in der Regel um ausgebildete ÄrztInnen oder medizinisches Personal handelt, ist für sachkundige Expertise gesorgt. Alternative, ohne Versuchstiere auskommende Testmethoden sind längst entwickelt, so daß, wie bei anderen Formen notorischer Tierausbeutung auch, zu fragen ist, warum diese alljährlich Millionen Tiere einer qualvollen, stark verkürzten Existenz aussetzende Verfahrensweise überhaupt fortgesetzt wird.


Am Stand vor aufgehängten Kunstwerken - Foto: © 2019 by Schattenblick

Hartmut Kiewert - Bilder aus der Zukunft befreiter Tiere
Foto: © 2019 by Schattenblick

Man kann nur mutmaßen, daß, wie beim Schreddern männlicher Küken oder dem Erschlagen von Ferkeln in der Tierproduktion, ökonomische und berufsständische Gründe im Spiel sind. Hinzu kommt, daß der Tierversuch eine Art ärztlicher Initiationsritus ist - wer an der Uni nicht seinen Froschschenkel am lebendigen "Objekt" seziert, der hat auch nicht das Zeug dazu, bei einer OP beherzt in die offenliegende Bauchhöhle zu greifen, Medikamententests an nichteinwilligungfähigen PatientInnen vorzunehmen oder der Ratio eines "sozial verträglichen" vorzeitigen Ablebens den Zuschlag zu geben. Schon im Falle der an Menschen ausgeübten Medizin hat die Kollaboration des Ärztestandes mit dem NS-Regime gezeigt, daß der Hippokratische Eid nur bedingt bindend ist. In Guantanamo haben Angehörige medizinischer Berufe bei der Aussageerpressung durch Folter assistiert, und die unrühmliche Rolle medizinisch ausgebildeten Personals bei der massenhaften Aberkennung von Sozialleistungen behinderter Menschen im Vereinigten Königreich hat gezeigt, wie unverzichtbar der Berufsstand für die Durchführung sozialeugenischer Selektionspraktiken ist, bei denen behinderte Menschen, die gerade noch einen Finger heben können, als arbeitsfähig eingestuft werden.

Um so plausibler ist, daß der als wissenschaftlich deklarierte Umgang mit Versuchstieren nicht der Ratio unbestechlicher Beweiskraft folgen muß, die zu seiner Legitimation in Anspruch genommen wird. Wenn wehrlose Lebewesen menschlicher Willkür ausgesetzt werden, findet ein Eingriff in ihre Autonomie statt, der nicht nur für VeganerInnen aus prinzipiellen Gründen abzulehnen ist. Das gilt um so mehr, wenn diesen zu Versuchsobjekten degradierten Tieren unter schmerzhaften Bedingungen das Leben genommen wird.


Mit Projektion beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Carmen Hercegfi berät vegane Familien
Foto: © 2019 by Schattenblick

Mit Carmen Hercegfi trat nun eine Ernährungsberaterin im Veranstaltungszelt auf, die sich auf die vegane Kost werdender und stillender Mütter wie ihrer Kinder spezialisiert hat. Die Bücher "Vegan in anderen Umständen", verfaßt mit Co-Autorin Sarah Gebhardt, und "Vielfalt für vegane Familien", verfaßt in Zusammenarbeit mit mehreren Bloggern, sind nur ein Teil der Aktivitäten, mit denen die Referentin ihr Leben bestreitet und das vegan lebender Familien verbessert. Innerhalb einer Dreiviertelstunde nahm sie das Publikum mit auf eine Tour de Force durch die Finessen ernährungstechnischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die staunen ließ, was alles zu beachten ist, wenn die besonders empfindliche Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern optimiert werden soll, und die deutlich machte, daß es auch für die vegane Ernährung Erwachsener weit mehr zu wissen gibt, als viele Menschen vermuten. So könnte das Ziel der Ernährungssouveränität über die Verfügbarkeit vollwertiger Nahrungsmittel unabhängig von monopolistischen Konzernstrukturen darin bestehen, Kenntnisse über Erzeugung, Verarbeitung und Verbrauch zu erlangen, die eine selbstbestimmte Ernährungsweise auch von der Seite aktiver Wissensproduktion her begünstigen.


Drei AktivistInnen auf dem Podium des Veranstaltungszeltes - Foto: © 2019 by Schattenblick

Das Tierrechtsaktivistenbündnis stellt sich vor
Foto: © 2019 by Schattenblick


Tierrechtsaktivismus mit Menschenkette und Lebenshof

Nur eine Viertelstunde währte der Auftritt von VertreterInnen des Tierrechtsaktivistenbündnisses. Es wurde Anfang 2018 mit der Absicht gegründet, die rund eine Million VeganerInnen, die es in Deutschland geben soll, für die Tiere auf die Straße zu bringen. Am Bündnis sind verschiedene Tierrechts- und Tierschutzorganisationen beteiligt. 2018 wurde mit einer Menschenkette um die Binnenalster eine Serie von Großaktionen gestartet, bei der mit einer Infomeile, Menschenkette und einem Demozug für die Rechte von Tieren eingetreten wird. Für den 25. August ruft das Tierrechtsaktivistenbündnis zum Animal Right's March in Berlin auf, 2020 soll am 2. Mai der nächste Event dieser Art in Hamburg stattfinden. Erklärtes Ziel ist das Erreichen einer möglichst umfassenden Berichterstattung in den Medien, um das Thema Tierrechte in die Köpfe der Menschen zu bringen.


Auf dem Podium mit Mikro und Projektion - Foto: © 2019 by Schattenblick

Jürgen Foß führt durch das Land der Tiere
Foto: © 2019 by Schattenblick

Nun hieß es Podium frei für Jürgen Foß. Er hat zusammen mit Tanja Günther Animal Rights Watch (ARIWA), früher die Tierfreunde, gegründet. Der Verein zeichnet unter anderem für die Ausrichtung der deutschlandweiten Serie von Demonstrationen verantwortlich, auf denen zur Schließung aller Schlachthäuser aufgerufen wird, und ist maßgeblich daran beteiligt, daß das Vegane Straßenfest in Hamburg nun im 6. Jahr stattfindet. Bei dieser Gelegenheit allerdings ging es Foß darum, das mit Hilfe von ARIWA und unter dem Dach der Stiftung Tiernothilfe gegründete Projekt Land der Tiere vorzustellen. Es wurde 2014 auf einem ehemaligen Militärgelände in Mecklenburg-Vorpommern sprichwörtlich ins Leben gerufen, handelt es sich doch um eine Art Lebenshof. Nur besteht dieser Ort für von Leid und Tod bedrohte Tiere nicht aus einem ehemaligen Bauernhof, sondern bietet auf einem 130.000 Quadratmeter großen Gelände eher dezentral organisiert alles, was es an Auslauf, Betätigung und Verstecken für die dort lebenden Tiere bedarf.

Foß versteht es, das ohnehin tierbegeisterte Publikum für sich zu gewinnen, indem er das Leben im Land der Tiere anhand von einzelnen BewohnerInnen schildert, die, wie auf dem vorgeführten Video zu sehen, in Wald und Wiese auf eine Art und Weise herumtollen, daß es eine Freude ist. Dem langjährigen Tierrechtsaktivisten geht es erklärtermaßen darum, auf dem Lebenshof BewohnerInnen wie das Schwein Pauline aus der Anonymität zu holen, um auf exemplarische Weise deutlich zu machen, wie mit sogenannten Nutztieren in Mastbetrieb und Schlachthof umgegangen wird. So wäre die inzwischen zweieinhalb Jahre alte Pauline, wenn sie nicht ins Land der Tiere gekommen wäre, wo sie ein angstfreies Leben bis zum Ende ihrer biologischen Zeit führen kann, wie drei Millionen ihre GefährtInnen jedes Jahr wenige Tage nach ihrer Geburt erschlagen worden. Gezüchtet und zur Welt gebracht, um Mastschwein zu werden, zu schwach für die rentable Verwertung, nicht einmal 2,50 Euro für eine notwendige Medikation wert, wäre Pauline, ob mit dem Kopf auf dem harten Steinboden oder gegen die Wand, auf offiziell zwar verbotene, aber in der Regel straflos bleibende Weise, wie Foß sich ausdrückt, "legitim" erschlagen worden.


Jürgen Foß am Stand mit Modell vom Gelände des Projektes Land der Tiere - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kennenlernen und Verstehen ... das Land der Tiere lädt ein
Foto: © 2019 by Schattenblick

Im Land der Tiere soll mit Ferkeln wie Pauline stellvertretend für Millionen zahlloser ArtgenossInnen Empathie für Tiere geweckt werden, die als bloßer Produktionsfaktor in der Schweinezucht gar nicht dafür vorgesehen sind, daß irgendein Mensch irgendein Gefühl oder irgendeine Form der Zurkenntnisnahme auf sie verschwendet, die nicht der Ratio geldförmiger Verwertung unterliegt. Der Warencharakter sogenannter Nutztiere - wie könnte er besser unterlaufen und aufgehoben werden als durch den direkten Kontakt mit ihnen, zu dem der Referent das Publikum an jedem Sonntag von Mai bis Oktober einlädt. Die Menschen können ohne Voranmeldung ins Land der Tiere kommen, um über das ganze Gelände geführt zu werden und dabei zum Beispiel Schweine, Gänse, Puten, Hühner und andere sogenannte Nutztiere kennenzulernen. Foß geht es darum, die für Hund und Katze meistens schon vorhandene Empathie der Menschen auf sogenannte Nutztiere zu erweitern, um schließlich mit der Grenze, die zwischen sogenannten Haustieren, die geliebt und gestreichelt werden, und sogenannten Nutzieren, die geschlachtet und gegessen werden, zu brechen.

Weiter geht es im Programm mit dem Extremradfahrer Ben Urbanke. Er gehört zu denjenigen VeganerInnen, die anhand sportlicher Höchstleistungen demonstrieren, daß eine pflanzliche Ernährung keinen Nachteil im athletischen Wettstreit bedeuten muß. An dieser Stelle könnte man auch fragen, warum offene Türen einrennen? Wieso sollte sich ein ohne Tierkonsum ernährender Mensch an irgendeiner Stelle mit dem Gedanken herumschlagen, aufgrund dessen nicht leistungsfähig genug zu sein? Zum einen gibt es zahlreiche Gründe dafür, Einbrüche in der Leistungsfähigkeit zu erleiden, die nicht mit Ernährung zu tun haben, zum andern ist seit langem bekannt, daß SportlerInnen wie Carl Lewis oder Serena und Venus Williams der Ansicht sind, ihre Erfolge nicht trotz, sondern gerade wegen einer veganen Lebensweise erzielt zu haben. An dritter und wichtigster Stelle ist zu fragen, wieso VeganerInnen die normativen Anforderungen der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft adaptieren sollten, wenn es ihnen doch gerade darum geht, die Ausbeutung der Tiere zu beenden und damit auch die Herrschaft der Menschen über sie. Das setzte ohnehin eine herrschaftsfreie Welt unter Menschen, also humanoiden Tieren, voraus, in der es keinerlei an Fähigkeiten und Vermögen, an Hautfarbe und Geschlecht orientierte Hierarchien geben könnte, wenn sie denn überhaupt jemals zu verwirklichen wäre.


Auf dem Podium im Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Niko Rittenau schafft Orientierung im Dschungel ernährungsphysiologischer Fragen
Foto: © 2019 by Schattenblick


Vegane Ernährungsberatung schließt Lücken

Wahrhaft sportlich ging es auch im Vortrag von Niko Rittenau zu, seines Zeichens gebürtiger Österreicher, ausgebildeter Koch, Ernährungsberater, Autor zahlreicher, bis ins wissenschaftliche Detail mit Fragen der veganen Lebensweise befaßter Artikel wie wortgewaltiger Referent. Mit einer Sprachgeschwindigkeit, die das hohe Tempo seiner vielgesehenen Youtube-Videos noch einmal toppte, unterhielt er das Publikum im dichtgedrängt gefüllten Veranstaltungszelt aufs Beste. Hätte er in der Widerlegung gegen die vegane Lebensweise gerichteter Mutmaßungen und Bezichtigungen nicht eine Art Lebensaufgabe gefunden, dann wäre ihm zweifellos eine Karriere als begnadeter, mit mehrdeutigem Wortwitz und gut plazierten Seitenhieben reichlich ausgestatteter Comedian beschieden gewesen.

Sehr viel produktiver für VeganerInnen und ihre KritikerInnen ist jedenfalls seine Tätigkeit als akribischer Aufklärer der Vorbehalte und Mißverständnisse, mit denen der veganen Lebensweise so häufig entgegengetreten wird, daß Rittenau mit "Vegan-Klischee ade!" ein 450 Seiten starkes Buch zu deren Widerlegung verfaßt hat. Wer mit echtem oder vermeintlichem Mangel an essentiellen Nährstoffen konfrontiert ist oder sich einfach ernährungsphysiologisch mit Schwerpunkt Veganismus weiterbilden will, ist bei den Vorträgen und Texten Rittenaus gut bedient.


Niko Rittenau im Publikum alle Arme nach oben gereckt - Foto: © 2019 by Schattenblick

Veganer Kommunikator in Aktion
Foto: © 2019 by Schattenblick

Neben Fragen zur veganen Ernährungsweise waren soziale Konflikte, zu denen es im Kontakt mit MischköstlerInnen kommen kann, immer wieder Thema im Veranstaltungszelt. So haben sich Gordon Prox und Aljosha Muttardi darauf spezialisiert, zur Unterhaltung der gut 100.000 AbonenntInnen ihres Youtube-Kanals Vegan ist ungesund die gängigen Vorurteile gegen VeganerInnen auf die Spitze zu nehmen und gegen sich selbst zu kehren. Auch das kam in dem mittlerweile von heftigen Winden und Regenschauern durchgerüttelten Veranstaltungszelt gut an, hatten sich doch ausgemachte Fans eingefunden, die sich freuten, den beiden Youtubern einmal IRL (im echten Leben) begegnen zu können. In den Wortmeldungen aus dem Publikum kamen so unterschiedliche Probleme zur Sprache wie das einer Mutter, die mit Protesten ihrer Kinder zu rechnen hat, wenn sie vegane Gerichte auftischt, oder einer neunjährigen Schülerin, die aufgrund ihrer veganen Lebensweise von ihren MitschülerInnen verspottet wird. Auch hier konnten Gordon und Aljosha, die sich die Bälle routiniert zuspielten, ihr Geschick zur Bewältigung situativer Klippen erfolgreich unter Beweis stellen.


Aljosha Muttardi und Gordon Prox auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Vegan ist ungesund" - Youtuber im echten Leben
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Band Dreamwood bestritt den letzten Auftritt des Tages mit einigen gefühlvoll vorgetragenen Folksongs, bei denen Gitarren und Violine mit den Gesangsparts aufs Beste harmonisierten. Mira und Dino, die den Kern der Band bilden, leben vegan und nutzen ihre Musik auch dazu, ökologische Themen anzusprechen und Umweltbewußtsein bei ihrem Publikum zu schaffen. Bei anderen Gelegenheiten tritt die Band in sechsköpfiger Besetzung auf, dann stehen auch rockigere Stücke auf dem Programm.


Zwei Gitarren und eine Violine - Foto: © 2019 by Schattenblick

Entrückte Träumereien mit Dreamwood
Foto: © 2019 by Schattenblick


Für die Tiere politisch denken und handeln

Trotz der Anwesenheit diverser Tierrechts- und Tierschutzinitiativen konnte auf dem 6. Veganen Straßenfest in Hamburg der Eindruck entstehen, daß die vegane Bewegung vor allem um Ernährungsfragen kreist. Dieses Erscheinungsbild war beim 1. Veganen Straßenfest in Hamburg, das am 13. September 2014 in St. Georg stattfand [3], noch nicht so ausgeprägt wie fünf Jahre später. Die im Raum stehende wie explizit vertretene Ansicht, über Konsumentscheidungen ließe sich eine politische Wirkung entfachen, die nicht nur das Problem der Tierausbeutung löst, sondern auf maßgebliche Weise bei der Bewältigung von Klimakatastrophe und Welthunger hilft, konterkariert das Anliegen und den Aktivismus einer Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, die schon vor der Konjunktur der veganen Lebensweise gegen Tierausbeutung kämpfte und dies häufig unter antikapitalistischem Vorzeichen tat, auf affirmative Weise. Ein Straßenfest ist kein Diskursraum, dennoch soll das Anliegen, für die Befreiung der Tiere von Ausbeutung und Unterdrückung einzutreten, in einem weiteren Beitrag vor dem Hintergrund der Totalität einer Marktlogik untersucht werden, die keinen Raum für den Blick aufs größere Ganze und die Kritik einer auf Kapitalverwertung und Privateigentum basierenden Gesellschaftsordnung läßt.

(wird fortgesetzt)


Spielbudenplatz mit Gewitterwolken - Foto: © 2019 by Schattenblick

Unter den Himmeln einer aufgeheizten Welt
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://southerncrossreview.org/106/singer-slaughterer.html

[2] https://newrepublic.com/article/153187/potency-republicans-hamburger-lie

[3] https://www.schattenblick.de/infopool/tiere/report/trbe0008.html


29. Juli 2019


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