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ETHIK/030: Ausnahmezustand (Ingolf Bossenz)


Ausnahmezustand

von Ingolf Bossenz, 2. November 2012



Die Ausnahme ist die Regel. Wenn es einen Satz gibt, der in Sachen Tierschutz in Europa und seinen Staaten ausnahmslos passt, dann ist es dieser.

Beispiel 1 (Tierversuche): Nach jahrzehntelangem Kampf von Tierschützern wurde es im März 2009 in der EU verboten, Kosmetik an Tieren zu testen. Im März kommenden Jahres soll die letzte Stufe des Vermarktungsverbots in Kraft treten, die auch solche Produkte erfasst, für die außerhalb der Union Versuchstiere »verbraucht« werden. Doch die EU-Kommission plant bereits jetzt Ausnahmemöglichkeiten, damit die Hersteller von Schönheitsmitteln den ohnehin nicht mehr überschaubaren Markt weiterhin unablässig mit »innovativen« Artikeln überschwemmen können. In der grausamen Konsequenz bedeutet das Leid und Tod für Zigtausende Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse und Ratten.

Beispiel 2 (Tiertransporte): Die Verkürzung dieser kontinentalen Schreckensfahrten stand jetzt wieder einmal auf der Agenda des Agrarausschusses im EU-Parlament. Gefordert wurde dort, die Transporte europaweit auf acht Stunden zu begrenzen. Ob es dabei generell um acht Stunden geht oder die Zeit innerhalb von 24 Stunden, blieb zunächst unklar. Klar war indes die Zulassung »wissenschaftlich begründeter« Ausnahmen.

Beispiel 3 (Kultur und Religion): Stierkampf, Tierhatzen und andere Formen tierquälerischer Vergnügungen genießen, so sie entsprechend begründet werden, als »kulturelle Traditionen« ausdrücklich den Schutz des EU-Vertrags von Lissabon. Ähnliche »Ausnahmen« vom ohnehin dürftigen Tierschutz gibt es in EU-Ländern beim betäubungslosen Schlachten aus religiösen Gründen oder wenn es sich - wie im Fall der Gänsestopfleber - um besondere kulinarische »Kulturgüter« handelt.

Beispiel 4 (Schweinezucht): Eine EU-Richtlinie fordert den Verzicht auf das Kupieren der Ringelschwänze und den Zugang der Schweine zu Stroh. Obwohl die EU-Kommission die Umsetzung dieser Richtlinie unter Drohung mit Vertragsstrafen anmahnt, werden in Deutschland »Ausnahmen« erlaubt. Mit der Folge, dass 99 Prozent der deutschen Schweine als »Ausnahme« deklariert werden, wie der BUND in Mecklenburg-Vorpommern sarkastisch konstatierte.

Indes wäre es zu einfach, die Schuld für diese Zustände allein beim »System« zu suchen. Sicher, es geht meist um Geld und Gewinn, aber auch um Ethik. Und zwar um eine Ethik, die sogenannten Nutztieren ungeachtet vollmundiger Gesetzestexte und - wie in Deutschland - Verfassungsbeteuerungen nur einen Zweck zubilligt: »verbraucht« zu werden.

Die 14 Millionen Schweine, Rinder, Ziegen, Hühner, Gänse etc., die an einem einzigen Tag in den Schlachthäusern des Friedensnobelpreisträgers massakriert werden, sind nämlich gleichfalls Ausnahmen. Sie sind ausgenommen vom Recht auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit. Ausgenommen aufgrund einer Schlachthauskultur, die Millionen Menschen tragen und nur sehr ungern präsentieren. Denn die Hölle des Schlachthofs, so die verdrängte Konsequenz, ist zugleich ein Spiegelbild der Gesellschaft, in deren Namen dort getötet wird.

Über diesen Ausnahmezustand wird täglich neu abgestimmt: an den Fleischtheken der Kaufhallen, auf den Grillplätzen der Stadtparks, in den Gourmetpeln der Gastronomie.

Giorgio Agamben sieht den Ausnahmezustand als Niemandsland »zwischen Rechtsordnung und Leben«. Was der italienische Philosoph auf das Staatsrecht bezieht, trifft auch die Lage von Millionen tierlicher Kreaturen, die in einem ethischen Niemandsland existieren. Das als Souverän gepriesene Volk der »Verbraucher« hätte die Macht, diesen Ausnahmezustand zu beenden. Doch der Souverän kauft, genießt - und schweigt.


Der Autor ist Redakteur des »nd« und schreibt unter anderem zu Themen aus dem Bereich Tierrechte/Tierethik.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, November 2012
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 02.11.2012
http://www.neues-deutschland.de/artikel/803017.ausnahmezustand.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012