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FRAGEN/005: "Ohne Tiere lässt sich die menschliche Geschichte nicht erklären" (tierrechte)


tierrechte 3.15 - Nr. 72, September 2015
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

AUS DER FORSCHUNG
"Ohne Tiere lässt sich die menschliche Geschichte nicht erklären"

Interview mit Professorin Mieke Roscher von Steffanie Richter


Mieke Roscher ist Professorin an der Universität Kassel und Inhaberin des ersten Lehrstuhls für Human-Animal-Studies (1) im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. 2008 promovierte sie zur Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Tiergeschichte und die Human-Animal-Studies sowie die Geschichte Sozialer Bewegungen. Sie ist assoziierte Wissenschaftlerin am New Zealand Centre for Human Animal Studies. Im Interview berichtet sie über den Forschungsboom in diesem Bereich, über begeisterte Studierende und wie Tiere die Geschichte beeinflusst haben.


Tierrechte: Obwohl die Human-Animal Studies akademisch gesehen eine junge Disziplin sind, haben sich bereits einige dominante Forschungsschwerpunkte herausgebildet. Mit welchen Schwerpunkten beschäftigen Sie sich innerhalb Ihres Forschungsgebietes der Tiergeschichte?

Mieke Roscher: Die historisch orientierten Untersuchungen im Bereich der Human-Animal Studies erhoffen sich über die Untersuchung von Tier-Mensch-Verhältnissen neue Zugriffe auf die menschliche Geschichte zu gewinnen. Dabei steht das Tier selbst im Mittelpunkt der Untersuchung. Zum einen beschäftige ich mich mit historiografischen (2) und geschichtstheoretischen Fragen. Zum anderen mit der empirischen Umsetzung, die aus diesen Arbeiten folgt.


Tierrechte: Können Sie uns das an einem Beispiel erklären?

Mieke Roscher: Ja, nehmen wir zum Beispiel das 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichte. Hier haben wir drei große Zäsuren: Den ersten und den zweiten Weltkrieg und die Blockkonfrontation, also den Kalten Krieg, und die Auflösung der Blockkonfrontation. Die Frage lautet: Waren für die Tiere diese Einschneidungen genauso wichtig wie für die Menschen? Im ersten Weltkrieg war das ganz sicher der Fall, denn in diesem Krieg waren sehr viele Tiere involviert, natürlich unfreiwillig. Sie haben unter diesem Krieg genauso gelitten und diesen genauso als Katastrophe erfahren wie Menschen auch. Im Giftgaskrieg sind Millionen von Tieren umgekommen. Im zweiten Weltkrieg wurden noch mehr Tiere getötet, allein mehr als 1,5 Millionen Pferde an der Ostfront, aber es hat dort keine neue Art des Einschnittes ergeben, denn die Kriegsmaschinerie "funktionierte" für die meisten Tiere genauso wie im ersten Weltkrieg (3).


Tierrechte: Haben Tiere die Geschichte beeinflusst und verändert?

Mieke Roscher: Ein weiteres Gebiet, mit dem ich mich beschäftige ist die Frage, inwieweit Tiere historische Akteure sind, inwieweit sie die Geschichte selbst beeinflusst haben. Wir unterscheiden hier zwischen Wirkmacht und Handlungsmacht. Wirkmacht - also dass Tiere einen Einfluss auf menschliches Handeln hatten - wird inzwischen von keinem Historiker und keiner Historikerin mehr angezweifelt. Denn natürlich haben Tiere Menschen beeinflusst und damit auch die Geschichte verändert. Bei der Handlungsmacht sieht das anders aus, weil hier mit der sogenannten Intentionalität argumentiert wird. Das heißt, dass man eine Handlung gewollt haben muss, um sie durchzuführen. Da sind wir gerade erst am Anfang. Ein Weg ist die Biografieforschung, d.h. man greift Tiere heraus und zeigt anhand ihrer Biografie, wie sie bestimmte Handlungen bewirkt haben. Als Beispiel kann man den Eisbären Knut anführen, ein Tier, das extrem viel Wirkung hatte.

Der zweite Teil meiner Forschungen beschäftigt sich mit empirischen Fragestellungen. Ein Projekt untersucht die Lebenswirklichkeit von Zootieren im geteilten Berlin. Und zwar konkret, wie sich diese ideologisch-politische Aufladung auf das Leben der Zootiere in der geteilten Stadt in zwei unterschiedlichen Zoos ausgewirkt hat und inwieweit Tiere zum Spielball politischer Interessen geworden sind. In einem weiteren Projekt beschäftige ich mich mit Tieren während der Zeit des Nationalsozialismus und der Frage, was diese ideologische Aufladung mit den Tieren gemacht hat. Die Rassenideologie der Nazis ist damals eins zu eins auch auf die Tiere angewendet worden. Es gab die guten Tiere und die bösen Tiere. Zwar standen Hunde und Pferde in der Nazi-Ideologie extrem hoch - also als Kameraden und treue Freunde - sie wurden aber zu Millionen an die Fronten geschickt und sind dort umgekommen.


Tierrechte: Wie stark ist das Interesse der Studierenden an diesem Lehrangebot?

Mieke Roscher: Am Anfang sind die Studierenden eher zurückhaltend und oft wird das Thema als Wissenschaft auch nicht so richtig ernst genommen. Aber im Laufe des Seminars findet eine tiefgreifende Änderung statt. Die Studierenden merken, dass die historische Auseinandersetzung mit Tieren sehr viel erklärt. Es entsteht ein Perspektivenwechsel, der Geschichte neu interpretieren lässt. Die Studierenden sind begeistert.


Tierrechte: Die Mensch-Tier-Beziehungen finden immer stärkeren Eingang in die universitäre Lehre. Es wird von einem "Animal Turn" (s. Kasten) gesprochen. Welche Chancen sehen Sie an den deutschen Universitäten insgesamt für die weitere Entwicklung der Human-Animal-Studies?

Mieke Roscher: Es sind in den letzten Jahren an vielen Universitäten in Deutschland regelrechte Leuchttürme entstanden, die meiner Meinung nach auch nicht so schnell wieder verschwinden werden. Es werden gerade mehrere große Anträge an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gestellt, die sich aus verschiedenen akademischen Richtungen mit der Mensch-Tier-Beziehung befassen.


Tierrechte: Wie schätzen Sie das ein - handelt es sich dabei lediglich um eine intellektuelle Mode oder erleben wir gerade den Beginn eines grundsätzlichen Umdenkens über unseren Umgang mit Tieren?

Mieke Roscher: Das ist keine Mode! Die Tiere sind so omnipräsent, dass wir sie in unsere Untersuchungen einbeziehen müssen. Aber daraus, dass nun viel geforscht wird, folgt nicht zwangsläufig, dass sich auch der Umgang mit den Tieren ändert, das sind eher gesellschaftliche Auswirkungen. In der Forschung geht es vor allem darum, sich wissenschaftlich den Tieren zu nähern. Um das Hier und Heute zu verstehen, brauchen wir das Wissen um die Vergangenheit. Auch, um damit in zukünftigen Entwicklungen denken zu können. Und ohne Tiere lässt sich die menschliche Geschichte nicht erklären. Wir Historiker denken natürlich auch in längeren Zeiträumen. Die Emanzipation der Frau ging zum Beispiel auch nicht von heute auf morgen. Wir schauen uns den langfristigen Wandel an und deshalb bin ich vielleicht auch nicht so pessimistisch - denn manche Veränderungen dauern.


Tierrechte: Kritiker behaupten, dass es sich bei dem sozialhistorischen Zugang zur Tiergeschichte wohl eher um einen kurzfristigen Trend handelt, schon deswegen, weil Tiere keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Wie beurteilen Sie eine solche Aussage?

Mieke Roscher: Das ist Unsinn. Angesichts des Forschungsbooms, den wir derzeit erleben, ist das sicherlich kein kurzfristiger Trend. Wir kommen gar nicht hinterher, all die Veröffentlichungen zu lesen, die publiziert werden. Ja, Tiere hinterlassen kaum Quellen und keine Schriften, aber das trifft im Übrigen auch auf 99 Prozent aller Menschen zu. Auch bei Menschen mussten Historiker und Historikerinnen schon immer zwischen den Zeilen lesen und die Quellen gegen den Strich bürsten - hier gibt es viele Beispiele aus der Frauen-, Arbeiter- oder Kolonialgeschichte.


Tierrechte: Mit Ihrem Buch "Ein Königreich für Tiere - Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung" haben Sie zum ersten Mal die Rolle der Tierrechtsbewegungen analysiert und Unterschiede zu der deutschen Tierrechtsbewegung herausgearbeitet. Gibt es heute diese Unterschiede noch?

Mieke Roscher: Die Unterschiede sind nicht ganz weg, haben sich aber inzwischen weitgehend nivelliert. Die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung ist heute eine globale Bewegung geworden. Wir haben sehr große, international agierende Tierrechtsbewegungen und vor allem durch die Macht des Internets sind die Unterschiede nahezu aufgehoben.

(1) Als Human-Animal Studies wird ein interdisziplinäres Forschungsfeld zum Mensch-Tier-Verhältnis bezeichnet, das sich in den letzten Jahren immer stärker etabliert. Die Forschungsarbeiten stammen überwiegend aus den Disziplinen Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Kulturwissenschaft sowie Literatur- und Medienwissenschaft. Damit brechen die Human-Animal Studies mit dem bisher vorherrschenden Wissenschaftsverständnis in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, in dem das Verhältnis der Gesellschaft zu den Tieren weitgehend ausgeblendet wurde.

(2) Historiographie bezeichnet die Darstellung von geschichtlichen Ereignissen.

(3) Schätzungsweise 14 Millionen Tiere, vor allem Pferde, Maultiere, Tauben und Hunde, letztere sogar in Gasmasken, wurden im Ersten Weltkrieg zu den Waffen gerufen. Im Zweiten Weltkrieg waren es fast 30 Millionen. Das Schicksal dieser tierischen Soldaten unterschied sich in nichts von dem der Menschen.

KASTEN
 
Was bedeutet "animal turn"?

Analog zum "linguistic turn" in der Sprachwissenschaft und dem "iconic turn" in der Kunstgeschichte spricht man in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit einigen Jahren vom "animal turn". Es handelt sich dabei um einen neuen Forschungsansatz, bei dem die Tiere, die Beziehungen zwischen Tier und Mensch und Rolle und Status von Tieren in der (menschlichen) Gesellschaft im Mittelpunkt stehen.

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Quelle:
tierrechte 3.15 - Nr. 72/September 2015, S. 16-17
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2015

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