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BERICHT/111: Gespräch mit der Publizistin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin (tierrechte)


tierrechte 3.12 - Nr. 61, Oktober 2012
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Von einer, die raus zog
Interview mit der Publizistin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin über ihr (Land-)Leben

Von Stephanie Elsner, Christina Ledermann



Vielen ist sie durch ihre Tierrechts-Publikationen bekannt: Hilal Sezgin. Die Schriftstellerin und Publizistin (Jahrgang 1970) studierte Philosophie mit den Schwerpunkten Moralphilosophie, politische Theorie sowie Soziologie und Germanistik in Frankfurt am Main. Dort arbeitete sie auch jahrelang in der Feuilletonredaktion der "Frankfurter Rundschau". Seit 2007 lebt sie in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide - mit derzeit 37 Schafen, drei Ziegen, ein paar Hühnern, Gänsen und zwei Katzen. 2011 erschien ihr autobiographisches Buch "Landleben. Von einer, die raus zog". tierrechte sprach mit ihr.

tierrechte: Als deutsch-türkische Autorin beschäftigen Sie sich hauptsächlich mit den Themen Feminismus und Islam. Wann haben Sie begonnen, sich für Tierethik und Tierrechte zu interessieren?

Hilal Sezgin: Das habe ich eigentlich von Anfang an getan. Als 14-Jährige wurde ich Vegetarierin, habe später Philosophie studiert, und auch in meiner journalistischen Laufbahn versuchte ich schon früh, Tierethik- und Tierrechtsthemen bei den Zeitungen unterzubekommen. Das war vor zehn, 15 Jahren jedoch noch schwierig, man musste mühsam nach Anlässen suchen und sie rechtfertigen. Medien und Öffentlichkeit hatten ein anderes Bewusstsein. Mittlerweile hat sich erfreulicherweise ein Wandel vollzogen - sowohl im kulturellen als auch politischen Bereich.

tierrechte: Sie leben seit einigen Jahren vegan. Gab es dafür einen bestimmten Auslöser?

Hilal Sezgin: Ein bisschen war mir schon immer klar, dass "nur" vegetarisch zu leben nicht ganz konsequent ist. Denn auch die Eier- und Milchindustrie hat ja mit der Verwertung von Tieren, ihrer Tötung und ganz viel Leid zu tun. Den konkreten Anstoß hat dann mein Umzug aufs Land gegeben. Zum einen habe ich Bio-Bauernhöfe besucht und war danach total schockiert. Vorher dachte ich, dort würden die Tiere zusammenleben, hätten wenigstens eine kurze Zeit ein vertretbares Leben. Doch dann habe ich gesehen, dass die Kälber ihren Müttern ebenso entrissen werden und in Boxen stehen, um für die Menschen die (Mutter)-Milch abzuzapfen. Zum anderen habe ich hier eine Schafherde von den Nachbarn übernommen. Einige Tiere haben anfangs Lämmer bekommen; da konnte ich ganz deutlich beobachten, wie stark auch diese Mütter an ihren Kindern hängen.

tierrechte:

Hilal Sezgin: Mein ganzes Leben hat sich dadurch total verändert, sowohl der Alltag als auch die Dinge mit denen ich mich beschäftige. So hatte ich vorher nicht geplant, Schafe oder Hühner aus einem Legebetrieb zu übernehmen. Plötzlich Schafe zu versorgen, auch medizinisch, darauf war ich nicht vorbereitet; ich wusste ja nicht mal, wie man Schafe festhält. Aber man bekommt Übung, und für mich ist es schön zu sehen, dass wir auch als Erwachsene immer etwas dazulernen können. Und mein Blick auf Tiere und Menschen hat sich dadurch nochmal geändert. Früher hatte ich viel über Tiere gelesen und im Fernsehen gesehen, aber wenn man richtig eng mit ihnen lebt, ist das schon ein anderes Lebensgefühl. Bei den Schafen bin ich sozusagen Teil der Herde geworden, und ihr Verhalten, ihre Körpersprache kennenzulernen und zu entschlüsseln ist einfach faszinierend.

tierrechte: Können Sie in Worte fassen, was die Tiere für Sie bedeuten?

Hilal Sezgin: Tiere sind ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Welt - und letztlich sind wir Menschen ja auch Tiere. Es gehört für mich einfach zur Vielfalt, mit verschiedenen Spezies zusammenzuleben. Natürlich sind wir alle Individuen, mit manchen gibt es ein leichtes Miteinander, mit anderen weniger. Doch kurz gesagt: Ein Alltag ohne Tiere ist für mich so wie ein Dorf, in dem keine Kinder leben.

tierrechte: An einer Stelle beschreiben Sie, wie Sie nachts zwei Lämmer im Wald suchen, finden und nach Hause tragen. In diesem Moment, so schreiben Sie, kam es Ihnen vor, als ob der Mensch genau dafür gemacht sei, unter beiden Armen ein Lamm zu halten. Was meinen Sie damit? Dass die Nähe zu Natur und Tieren etwas zutiefst Menschliches ist und Vieles besser wäre, wenn der moderne Mensch sich nicht so von Tier und Natur separiert hätte?

Hilal Sezgin: Ich wollte damit gar keine große These aufstellen. Es war für mich einfach ein emotional sehr berührender Moment. Ich war glücklich, zu dem Zeitpunkt am rechten Platz gewesen zu sein und habe Nähe und Vertrautheit gespürt.

tierrechte:

Hilal Sezgin: Wir haben eine ganz breite gemeinsame Basis, Menschen wie Tiere sind empfindende Wesen, verfolgen Interessen und wollen ihr eigenes Leben leben. Ein Tier braucht nicht nur Nahrung oder Quadratmeter, um die sich heute meist nur die Diskussionen zur Intensivtierhaltung ranken. Es will auch etwas machen und erleben. Jeder, der mit Tieren zu tun hat, weiß das; einschließlich des Landwirtes, doch er ignoriert es. So sehe ich uns Menschen in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das jeweilige Tier ein volles, erfülltes Leben leben kann. Wenn wir Menschen der Tiere Kinder wegnehmen und Familienstrukturen verhindern, ist das reine Grausamkeit.

tierrechte: In Ihrem Buch prangern Sie die furchtbaren Zustände in der industrialisierten Landwirtschaft und das unsägliche Leid der sogenannten Nutztiere an. Sind Sie zuversichtlich bezüglich Veränderungen? Als z. B. der FC Werder Bremen die Firma Wiesenhof als Hauptsponsor bekanntgab, führte dies zu einem Sturm der Entrüstung. Zunehmend wird über das Thema vegane Ernährung berichtet. Sehen Sie darin Anzeichen, dass langsam ein gesellschaftliches Umdenken einsetzt? Zumindest in unserer Gesellschaft?

Hilal Sezgin: Es gibt sehr viele Veganer und Tierrechtler, die sehr wach und aktiv sind. Überhaupt weiß heute - ganz anders als vor zehn Jahren - fast jeder, was unter veganer Ernährung zu verstehen ist, und diese wird immer "normaler". Normalisierung ist ein wichtiger Schritt zu mehr Fortschritt. Auch wenn derzeit erst wenig Tiere etwas davon haben. So hat ja selbst bei vielen Tierschützern noch kein Umdenken stattgefunden. Ich kenne z. B. reichlich Personen, die pflegen aufopfernd Hunde und Katzen, legen aber noch immer Kühe, Schweine und Hühner auf den Grill. Insgesamt sind die Zustände aber weiterhin so brutal, dass es noch sehr lange dauern wird, bis weitreichende Veränderungen spürbar werden.

tierrechte: Wie gehen Sie mit dem Thema vegane Ernährung im Freundes- und Bekanntenkreis um? An einer Stelle schreiben Sie z. B., wie Sie mit Ihrem "Fläschchen-Lamm" Emil eine Freundin besuchen. Diese umsorgt Emil begeistert, während sie zur gleichen Zeit einen Lammbraten in der Pfanne hat...

Hilal Sezgin: Jeder Vegetarier und Veganer weiß: Es ist manchmal schwer damit zu leben, aber wir müssen damit klarkommen. Ich selbst gehe unterschiedlich damit um, abhängig von der jeweiligen Situation. So finde ich es manchmal nicht angebracht, bei einem gemeinsamen Essen über die Tiere auf den Tellern der anderen zu sprechen, bisweilen aber gerade dann. Mein Verhalten ist hier nicht starr, ich bin also weder grundsätzlich tolerant noch stets aufklärerisch, sondern gehe situativ damit um.

tierrechte: Die Tatsache, dass Ihre Schafe einfach leben dürfen und nicht genutzt oder gar geschlachtet werden, stößt oft bei Ihren Besuchern auf Unverständnis. Haben Sie durch Ihre konsequente Haltung schon erlebt, dass jemand nach einem Besuch seine Meinung und Verhalten geändert hat?

Hilal Sezgin: Konkret festmachen kann ich das nicht, vor allem weiß ich nicht, was die Menschen dauerhaft mit dem Erlebten oder Gelesenem machen. Insbesondere meine Hühner - die ja alle aus kommerziellen Betrieben stammen - haben etliche Menschen sehr nachdenklich gestimmt. Und auch aus den Reaktionen auf mein Buch geht einiges an Bewegung in den Menschen hervor. Doch was letztlich daraus wird, ist mir nicht zugänglich. So ändert mancher kurzfristig seine Ernährungsgewohnheiten, doch wird das auch so bleiben?

tierrechte: Ihr Hof ist zu einer Oase für viele Tiere geworden. Nun haben auch Sie nur begrenzte Kapazitäten. Wie schützen Sie sich davor, zu viele Tiere in Not aufzunehmen?

Hilal Sezgin: Ich nehme gar keine Tiere mehr von außen auf. Jahrelang habe ich Hühner aus Legefabriken aufgenommen, die eine dermaßen intensive Pflege brauchten, dass ich an den Rand meiner Kräfte kam. Erfreulicherweise kann ich solche Tiere jetzt an andere Stellen geben. Ich muss ja auch bedenken: Die Schafe werden älter, brauchen dann mehr Pflege. Und es soll hier für jedes Tier, solange es lebt, ein gutes Leben gesichert sein.

tierrechte: Mit den Geschichten in dieser Ausgabe wollen wir Faszinierendes aus der Welt der Tiere und ihrem Gefühlsleben näherbringen. Können Sie selbst ein Erlebnis mit ihren Tieren beschreiben, das Sie besonders berührte?

Hilal Sezgin: Tausende! Erst gestern wieder mit den Schafen. Die Schafe und ich haben abends eine Art Ritual. Die Tiere gehen in den Stall, käuen da wieder und ruhen sich aus. Ich setze mich dazu. Schafe sind generell sehr zurückhaltend und streben auch nicht danach, angefasst zu werden. Wenn sie von sich aus die Nähe zu mir suchen, finde ich das immer wieder ergreifend. So lebt in der Herde seit fünf Jahren ein Bock - und gestern ist er zum ersten Mal zu mir gekommen, um sich streicheln zu lassen.


BUCH:

Hilal Sezgin
Landleben - Von einer, die raus zog
272 Seiten, Hardcover
DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG
ISBN 978-3-8321-9623-3
EUR 19,99

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Quelle:
tierrechte 3.12 - Nr. 61/Oktober, 2012, S. 4-7
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2012