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BERICHT/115: Bonitierungssystem für Tierwohl bei Schweinen (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Bonitierungssystem für Tierwohl bei Schweinen - Der Teufel steckt im Detail

Von Sabine Ohm



Gut drei Jahre ist es her, dass PROVIEH Vertreter aus Landwirtschaft und Schlachtung an den runden Tisch bat, um ein Bonitierungssystem für mehr Tierwohl für Schweine zu entwickeln (siehe PROVIEH-Magazin 4/2012). Das System war von Anfang an als freiwillige Branchenlösung gedacht und nicht als "Marke" Einzelner. Entsprechend diskret liefen unsere Vorbereitungen und Gespräche. Wegen der zunehmenden Aufmerksamkeit der Medien und breiteren Öffentlichkeit für die Zustände in der modernen Tierhaltung - auch dank unserer Kampagnenarbeit (zum Beispiel für den Verzicht auf die Ferkelkastration) - war 2012 der Boden bereitet, unseren "Initiativkreis" um die REWE als Vertreterin des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) zu erweitern. Wir trugen unser weit gediehenes Anliegen dann an Vertreter aus Politik und Wirtschaft heran, unter ihnen QS-Qualität und Sicherheit GmbH, die über den Apparat zur technischen Umsetzung des Bonitierungssystem verfügten.

Die Gesellschafter von QS nahmen sich des Anliegens an. Doch gründeten sie im September 2012 ihren eigenen "Initiativkreis für Tierwohl", zunächst ohne PROVIEH einzubinden. Das fanden unsere Partner unredlich gegenüber PROVIEH und überdies kontraproduktiv. Sie forderten unsere Aufnahme in den Kreis und erzielten einen Teilerfolg: Seit März 2013 sind wir an den Sitzungen der sogenannten "Kriteriengruppe" beteiligt, die einen Vorschlag für die Kriterienliste und die zu zahlenden Boni für erbrachte Tierwohlmaßnahmen erarbeiten sollte.

Als zweite Arbeitsgruppe des Initiativkreises für Tierwohl wurde die "Projektgruppe" gegründet, die die Finanzierung und die kartellrechtlichen Aspekte des Projekts klären sollte. Das seien Aufgaben, die nichts mit Tierschutz zu tun haben. Deswegen habe man PROVIEH ebenfalls nicht in diese Gruppe aufgenommen. Doch es wurde absehbar, dass die Projektgruppe mit weiterreichenden Kompetenzen ausgestattet war, die sehr wohl für PROVIEH relevant waren. Deshalb beantragten wir die Aufnahme in die Gruppe, doch QS lehnte den Antrag am 1. Juli 2013 ohne Begründung ab.

Unsere Mitarbeit in der Kriteriengruppe setzten wir trotzdem vorerst fort. Diese Gruppe schloss die erste Etappe ihrer Arbeit am 5. August 2013 mit dem Vorschlag eines "Startpakets", das 20 Tierwohl-Maßnahmen für Schweinemäster umfasst. Ohne Rücksprache mit der Kriteriengruppe veränderte die Projektgruppe das "Startpaket" allerdings in einigen wichtigen Punkten und verabschiedete es am 9. August 2013. Gegenüber der Öffentlichkeit wurde PROVIEH bisher nicht einmal als Mitinitiator des Bonitierungssystems genannt. Doch noch ärgerlicher ist, dass bisher nicht vorgesehen ist, PROVIEH in das Auditsystem einzubeziehen. So würden wir von den Tierschutz-Schulungen der Auditoren und von stichprobenartigen Nachkontrollen ausgeschlossen bleiben. Dagegen verwahrte sich PROVIEH, so dass unsere Unterstützung des verabschiedeten Bonitierungssystems nun von entscheidenden Nachbesserungen abhängt.


Was soll bonitiert werden?

Interessierte Betriebe müssen Pflicht- und Wahlpflichtkriterien erfüllen und können zusätzlich freiwillige Kriterien erfüllen. Betriebe mit Dunkelställen (Fensterfläche < 1,5 Prozent der Bodenfläche) können nicht teilnehmen. Zu den Pflichtkriterien gehören die Teilnahme an jährlichen professionellen Prüfungen von Stallklima und Tränkwasser, Teilnahme am QS-Zertifizierungssystem und deren Antibiotika-Monitoring, eine lückenlose Prüfung von Schlachthofbefunden (erweitert um Tierwohl-Befunddaten) und jährliche unangekündigte Tierschutz-Kontrollen. Die Wahlpflicht- und die freiwilligen Kriterien sollen es Betrieben ermöglichen, trotz unterschiedlicher Stall-Ausstattung am Bonitierungssystem teilzunehmen. Für die Teilnahme muss außerdem ein Mindestbonus zwischen einem (Ferkelaufzucht) und drei (Mast) Euro erreicht werden. Starten soll das Bonitierungssystem 2014 mit den Mästern. Sauenhalter und Ferkelaufzüchter sollen etwas später folgen.

Die zu bonitierenden Tierwohlkriterien sind an den Bedürfnissen der Schweine ausgerichtet und betreffen Futter (zum Beispiel Raufutter), Tränke (zum Beispiel Saufen aus offener Fläche), geeignete Mikroklimabereiche, Platz und Bewegungsfreiheit, komfortables Liegen, Beschäftigung, Verzicht auf Ferkelkastration und Schwanzkupieren, Auslauf und freie Abferkelung. Denn die Grundbedürfnisse der Tiere werden heute insbesondere in konventionellen Betrieben meist nicht oder nur unzureichend erfüllt.

Unser bisheriger Einsatz zeigt einmal mehr: Sind die Interessen unterschiedlich, müssen die verhandelnden Partner kompromissbereit sein und teiweise Abstriche von eigenen Vorstellungen machen, um etwas in Bewegung zu setzen. Auch PROVIEH musste Kompromisse eingehen: So werden einige Kriterien aus unserer Sicht zu niedrig, andere zu hoch bewertet. Akzeptieren mussten wir auch, dass schwer kontrollierbare Kriterien zunächst zurückgestellt wurden, bis verlässliche Verfahren zur Überprüfung ("Messung am Tier") ausgearbeitet und genug Betriebskontrolleure entsprechend geschult sind. Auch die Einführung der Ringelschwanzprämie, die einen Sonderstatus hat, wird sich etwas verzögern. Dank unserer Kampagnenarbeit steigt aber schon jetzt die Zahl der Betriebe, die mit Erfolg auf das Schwanzkupieren verzichten - bisher ohne ökonomischen Ausgleich für ihre Pionierleistung und den Mehraufwand.

Die endgültige Kriterienliste lag uns bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Sie wird nach ihrer Veröffentlichung unter www.provieh.de und natürlich im PROVIEH-Magazin 4/2013 vorgestellt, erläutert und kommentiert werden.


Erfolgsgeschichte oder Alibiveranstaltung?

Noch ist es verfrüht, von einem bahnbrechenden Erfolg zu sprechen - auch wenn es eine derartige Initiative noch nie gegeben hat und sie eine historische Chance für eine Zeitenwende bietet. Eine sorgfältige Umsetzung, Kontrolle und kontinuierliche Weiterentwicklung des Bonitierungssystems sind auf alle Fälle nötig, um die Schweinehaltung mit diesem freiwilligen System nachhaltig tiergerechter zu gestalten. Dabei steckt der Teufel - wie so oft - im Detail.

Abzuwarten bleibt, ob der (LEH) den Bauern über die einzurichtende neutrale "Verrechnungsstelle" die Mehrkosten auch wirklich dauerhaft erstattet, ohne sich das Geld an anderer Stelle von den Erzeugern wiederzuholen. Berechnungsgrundlage soll zunächst das eingekaufte frische Schweinefleisch sein, Wurst und andere Verarbeitungswaren sollen später folgen. Da der LEH die Kosten im Rahmen halten will, um allzu große Preissprünge zu vermeiden, hat er den Fonds für Tierwohl zunächst für drei Jahre auf insgesamt 300 Millionen Euro begrenzt. Rein rechnerisch können hiermit Boni für etwa 20 Prozent der in Deutschland geschlachteten Schweine gezahlt werden.


Fazit

Pragmatischer Realismus und eine Politik der kleinen Schritte war in Tierschutzkreisen bisher keine übliche Herangehensweise. Da aber weder die Gesetzgebung noch Tierschutz- und Biolabel den Trend zu immer weniger bedürfnisorientierter Haltung der Tiere aufhalten konnten, hat sich PROVIEH für die Zusammenarbeit mit privatwirtschaftlichen Akteuren entschieden, um dem negativen Trend mit einem Bonitierungssystem gegenzusteuern und möglichst flächendeckend weitreichende Verbesserungen in der Schweinehaltung zu erreichen. Für dieses Vorhaben ist die vollumfängliche Aufnahme von PROVIEH in alle Gremien des "Initiativkreises für Tierwohl" und Einbindung in das Auditsystem unerlässlich um zu verhindern, dass die bisherige Erfolgsgeschichte in einer Alibiveranstaltung endet.


Die Autorin Sabine Ohm ist Europareferentin

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013, Seite 10-12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2013