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ETHIK/013: Mensch und Tier in einem Boot (PROVIEH)


PROVIEH Heft 4 - Dezember 2007
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Mensch und Tier in einem Boot
Eckpunkte einer christlichen Tierethik

Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger


Das Verhältnis des Menschen zum Tier gehörte bis vor wenigen Jahren zu den blinden Flecken der neuzeitlichen Theologie. Sicher waren es nicht die Kirchen, sondern René Descartes, der die Tiere zu "res extensae" degradierte, weil er in ihnen kein Reflexionsvermögen entdeckte. Sicher auch war das Verdrängen der außermenschlichen Geschöpfe nicht primär dem biblischen Schöpfungsauftrag zu "verdanken", sondern eher der neuzeitlich-technischen Verdinglichung der Schöpfung. Und doch haben Kirchen und Theologie den Ratiozentrismus und Anthropozentrismus der anbrechenden säkularen Neuzeit ohne viel Widerstand akzeptiert. Deshalb müssen sie heute mühsam neu entdecken, was es mit den Tieren auf sich hat und wie eine angemessene theologische Tierethik entfaltet werden kann.

In den letzten 15 Jahren ist hier einiges geschehen. Zwar liegen noch keine allgemein anerkannten Gesamtentwürfe christlicher Tierethik vor, jedoch zeichnen sich Konturen einer solchen mittlerweile deutlich ab. In einigen Thesen möchte ich diese Konturen umreißen:


1. Der Ansatz: Tiere als Mitgeschöpfe mit eigener Würde

Eine moderne theologische Tierethik nimmt ihren Ansatzpunkt in der Erkenntnis, dass Tiere Geschöpfe mit einer ihnen eigenen, unveräußerlichen Würde sind. Diese Basisannahme hat v.a. drei Gründe auf ihrer Seite, die schon in der mittelalterlichen Theologie entwickelt wurden: 1) Gott hat einen unmittelbaren Bezug zu allen Geschöpfen. Alles ist von Gott gut erschaffen, für gut befunden und in die Erlösung einbezogen worden. 2) Im Akt der Schöpfung setzt der Schöpfer seine Schöpfung in eine Eigenständigkeit, eine Autonomie und Unabhängigkeit von ihm selbst. Geschöpfe sind - aus der Sicht Gottes wie der Mitgeschöpfe - mehr als nur Automaten oder von egoistischen Genen gesteuerte Objekte. 3) Wenn der Schöpfer selbst Geschöpf wurde in Jesus Christus, wenn er so die Geschöpflichkeit als Moment seiner selbst angenommen hat, dann gibt dies jedem seiner Geschöpfe eine einzigartige, nicht mehr zu überbietende Würde. Letztlich liegt darin auch der Grund für die Erlösung der gesamten Schöpfung.


2. Die Folge: Tiere als Mitglieder im Gottesbund

Welche ethischen Konsequenzen ergeben sich nun aus der Grundannahme einer geschöpflichen Würde? Etwas, was Würde besitzt, hat Eigenständigkeit und Selbstzwecklichkeit. Es geht nicht darin auf, für jemand anderen da zu sein. Es verdient daher moralische Berücksichtigung. Der Mensch hat ihm gegenüber direkte Pflichten. Es steht nicht beliebig zur Disposition, sondern ist letztlich unverfügbar. - Drei Anmerkungen dazu:

Diese letzte Unverfügbarkeit impliziert nicht das Verbot der Nutzung eines Lebewesens, wie der amerikanische Tierrechtler und Philosoph Tom Regan meint. Es schließt allein die pure Reduktion auf den Nutzen aus. Wir dürfen Tiere nicht allein unter Nutzengesichtspunkten betrachten, sondern müssen sie zugleich immer als eigenständige Subjekte mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen sehen.
 
Die Forderung geschöpflicher Würde bedeutet damit aber auch keine Einebnung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier, wie dies Wilhelm Korff befürchtet. Es geht ja nicht um eine absolute Unverfügbarkeit der Tiere, sondern um das Verbot, sie ausschließlich unter Nutzenaspekten zu betrachten.
 
Die Forderung einer geschöpflichen Würde gründet (im Gegensatz zur utilitaristischen Argumentation eines Peter Singer) nicht auf aktuellen "Interessen" irgendwelcher, beliebig austauschbarer Lebewesen, sondern auf der Anerkennung des Werts eines unersetzlichen, einzigartigen Individuums. Es handelt sich damit um einen wertorientierten Ansatz.

Zusammenfassend: Die Individuen, denen wir Würde zusprechen, sind AdressatInnen der Gerechtigkeit: Ihnen soll Gerechtigkeit widerfahren, sie müssen gerecht behandelt werden. Genau das fordert die Bibel, indem sie die Tiere in den Schöpfungsbund Gottes mit Noach einschließt. Dieser Bund gilt nicht nur Noach und seinen Nachkommen, sondern allen Lebewesen der Erde (Gen 9,9f; vgl. Hos 2,20f). Gott, Mensch und Tier sind BundesgenossInnen. Jedem Beteiligten schulden die jeweils anderen gerechte Behandlung. Konsequenter Weise wird das Tier in vielen Vorschriften der Tora ausdrücklich zum Adressaten gemacht, allen voran im Sabbatgebot, das auch die Ruhe der Nutztiere fordert. "Das Tier steht also unter dem Schutz des Gesetzes wie der rechtsschwache Mensch" (M.L. Henry).


3. Das Postulat: Gerechtigkeit gegenüber Tieren

Wenn dem Tier Gerechtigkeit widerfahren soll, dann stellt sich die Frage, was denn Gerechtigkeit ist. Klassisch wird sie in der philosophischen Tradition seit Aristoteles definiert: Jedem das Seine - im Rahmen der Möglichkeiten. Damit haben wir drei Bestimmungsmerkmale der Gerechtigkeit:

1) Jedem! Nicht nur einer Gruppe, nicht nur den Menschen, sondern jedem Geschöpf - auch dem Tier.

2) Das Seine, nicht das Gleiche: Der Mensch hat andere Bedürfnisse als ein Hausschwein, und dieses andere als ein Elefant. Jedem das Seine - das heißt: Jedem das, was er braucht, was ihm entspricht. Und umgekehrt: Jeder soll das Seine der Gemeinschaft geben, das, was er geben kann nach seinen Möglichkeiten. Gleichmacherei ist kein Prinzip der Gerechtigkeit, weder zwischen verschiedenen Menschen noch im Gegenüber des Menschen zum Tier.

3) Im Rahmen der Möglichkeiten: Die Möglichkeiten sind durchaus geschichtlichem Wandel unterworfen: Ein Mitteleuropäer vor 1900 hatte eine ganz andere Notwendigkeit des Fleischgenusses als ein Mitteleuropöer im 21. Jh., der einen Kühlschrank besitzt und damit auch im Winter ausreichend pflanzliche Produkte zur Verfügung hat. Ein Bauer im Mittelalter schlief mit Frau und Kindern in einem winzigen Raum, der kaum größer war als der Stallplatz für eines seiner Rinder. Heute hingegen wohnt der Bauer (und ebenso der Fleischkonsument!) in riesigen Räumlichkeiten, das Rind steht aber immer noch in derselben engen Box. Tiergerechtigkeit heißt also nicht, Tiere heute so zu behandeln wie vor Jahrhunderten. Vielmehr müssen die Proportionen von damals auf heute übertragen werden: Wo es viel zu verteilen gibt, müssen alle vom Zuwachs profitieren auch die Tiere.

Darüber hinaus bedeutet das Gerechtigkeitspostulat eine faire, unparteiliche Güterabwägung, wo die Bedürfnisse von Mensch und Tier zusammenstoßen. Nicht immer wird man den Bedürfnissen der Tiere Raum geben können. Manchmal stehen menschliche Bedürfnisse höher. Doch muss bei der Abwägung gelten: Gleiches Gewicht für gleiche Güter, unterschiedliches Gewicht für unterschiedliche Güter. Wenn der Mensch ein Stück Fleisch nur um des Genusses willen verzehrt, dann hat das ein anderes Gewicht als wenn er allein damit sein Überleben sichern kann.


4. Die Bedingung: Mitgefühl als Wahrnehmen der Bedürfnisse der Tiere

Wer die Bedürfnisse und Güter von Tieren in eine Abwägung einbringen will, muss sie zuerst einmal kennen. Das kann er nur durch ein gehöriges Maß an Einfühlungsvermögen, an Empathie. Im Lukasevangelium stellt Jesus das Mitfühlen vor allem an Hand zweier Figuren vor: Dem barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) und dem barmherzigen Vater (Lk 15,11-32). "Barmherzigkeit" ist das biblische Wort für die Grundhaltung, die hier gemeint ist: Mit Kopf und Herz den Nächsten zu verstehen suchen und entsprechend handeln. Während aber "Barmherzigkeit" im deutschen Sprachgebrauch eher an ein sich herablassendes Helfen denken lässt, bezeichnet "Mitfühlen" eine Haltung der Solidarität unter Gleichen und ist somit eine Folge der Gerechtigkeit (vgl. Spr 12,10). Diese meint letztlich die Verkündigung Jesu. Dabei deuten die beiden lukanischen Gleichnisse der Barmherzigkeit bereits die Logik Jesu an: Weil Gott gleich dem barmherzigen Vater mitfühlend ist, weil er jeden Menschen und jede Kreatur (vgl. Jona 4,11! auch Gen 8,1) liebevoll annimmt, kann und soll der Mensch es ihm gleich tun: "Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" (Lk 6,36)

Einfühlung ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir mit den Mitgeschöpfen gut umgehen. Sie umfasst ein möglichst gutes Wissen von den Zusammenhängen der Natur, ist aber weit mehr als nur die Kenntnis der Fakten. Denken, Fühlen und Handeln finden in ihr zu einer Einheit. Gegenüber Tieren meint Einfühlung z.B.: das Wissen um die Bedürfnisse eines Tieres, um sein Sozialverhalten, um die in freier Wildbahn übliche Art der Lebensgestaltung, ggf. sogar die Fähigkeit, Signale des Tieres zu verstehen und zu interpretieren - und die Bereitschaft, im Tier ein eigenständiges Lebewesen zu sehen, mit eigenen Bedürfnissen und Bestrebungen.


5. Die Vision: Frieden zwischen Tier und Mensch

Der Mensch kann ohne Träume nicht leben. Er braucht das, was wir "Utopie" nennen: die modellhafte Veranschaulichung eines Leitbildes, nach dem er sein Leben orientiert und auf das hin er den Alltag gestaltet. Dass eine derartige Utopie in diesem Leben immer unerfüllbar bleibt, dass der Mensch sich ihr nur in kleinen, oft unmerklichen Schritten annähern kann, liegt auf der Hand. Und doch: Ohne sie wäre das Leben ziel- und orientierungs-, ja hoffnungslos.

In der Bibel werden mehrere derartige Leitvisionen angeboten und in bildhaften Erzählungen illustriert. Eine der größten und bedeutendsten biblischen Utopien liegt in der messianischen Vision vom Schöpfungsfrieden vor, die an rund zehn Stellen im Alten wie im Neuen Testament entfaltet wird. Sie beschreibt das Zusammenleben aller Geschöpfe in einer heilen Gemeinschaft von Gerechtigkeit und Frieden.

Schon die erste Schöpfungserzählung Gen 1,1-2,4a entwirft "als positive Utopie für den Umgang mit der Schöpfung ein friedliches und gewaltfreies Verhältnis zwischen Mensch und Tier." (Bernhard Irrgang) Die Lebewesen leben in ihnen je zugeeigneten Lebensräumen, es ist genug Platz für alle, sie haben ausreichend Nahrung, die ausschließlich pflanzlich ist. So hat Gott die Welt geschaffen und gewollt: "Dass das kostbarste Gut im Lebenshaus der Schöpfung das glückende Leben aller Lebewesen ist, entfaltet Gen 1,29f mit einem Friedensbild, das wir gerade heute als fortschrittskritisches Paradigma meditieren und konkretisieren müssen... Der zentrale Punkt dieser Utopie ist ein Zusammenleben aller Lebewesen ohne Gewalt." (Erich Zenger).

Noch deutlicher drücken es die Prophetentexte aus, in denen sich die Vision eines messianischen Schöpfungsfriedens manifestiert, allen voran Jes 11,1-9: Der Messias wird Recht und Gerechtigkeit schaffen, es wird Friede herrschen, der nicht nur dem Volk Israel gilt, sondern alle Tiere und die gesamte Schöpfung mit umfasst: Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe, Kuh und Bärin, Natter und Menschenkind leben unbehelligt und in Frieden miteinander (man beachte, dass jedes Begriffspaar ein Wildtier den Haustieren bzw. dem Menschen gegenüberstellt). Dieser Frieden beginnt nach Jesaja exemplarisch auf dem Zion - und wird von dort aus in alle Welt ausstrahlen.

Neutestamentlich wird das Motiv des Schöpfungsfriedens nur dreimal aufgegriffen, allerdings an zentraler Stelle: In Mk 1,13 wird der Wüstenaufenthalt Jesu so dargestellt, dass ihm die wilden Tiere friedlich Gemeinschaft leisten. In Christus, dem neuen Adam, bricht das messianische Zeitalter an, das uns den schon im Paradies grundgelegten Schöpfungsfrieden bringt. In ihm ist der Kreislauf der Gewalt gegen die Schöpfung durchbrochen und dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, selbst als neue Schöpfung zu leben. In ihm leben Mensch und Tier in Frieden zusammen.


Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger ist Rektor der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz und Vorstand des Instituts für Moraltheologie. Nach seinem Studium der Theologie in Würzburg und Rom und der Priesterweihe arbeitete er zunächst als Kaplan und Religionslehrer, ehe er mit der Promotion 1995 die akademische Laufbahn einschlug. Dr. Michael Rosenberger ist Mitglied der Gentechnik-Kommission beim österreichischen Bundesministerium für Gesundheit und Frauen und Umweltsprecher der Diözese Linz.


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Quelle:
PROVIEH Heft 4, Dezember 2007, Seite 22-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2008