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ETHIK/019: Schutz und Rechte der "Nutz"tiere im Judentum (PROVIEH)


PROVIEH Heft 4 - Dezember 2008
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Die jüdische Vision: Schutz und Rechte der "Nutz"tiere im Judentum


"Nichts Neues gibt es unter dem Himmel" stellte der Prophet fest und dies gilt auch für den Tierschutz. Schon vor fünftausend Jahren sind Tierschutz- und Tierrechtsgesetze formuliert worden, die an ethischer Konsequenz manches moderne Gesetzeswerk übertreffen. Vom jüdischen Tierschutz ist die Rede, der bis zum heutigen Tage gerade wegen seiner Radikalität verkannt, ja zum Ziel einer kollektiven Abwehr geworden ist. Viele Tierschützer zitieren das Judentum als Beispiel archaischer Umgangsweisen mit Tieren, wie sie in "primitiven Stammesgesellschaften mit blutigen Opferritualen" üblich waren, und meinen, Tierethik sei ein Produkt von Aufklärung und Atheismus. Doch die jüdische Tradition wartet mit unbequemen Wahrheiten auf: So galt das Tötungsverbot ursprünglich auch für Tiere. Mensch und Tier gelten als gleichwertig, dem Menschen ist nicht die Ausbeutung der Natur erlaubt, sondern verantwortungsvolle Pflege. Erst das Mitgefühl mit allen Lebewesen der Erde macht den Menschen zum Ebenbild Gottes!

Leider sind diese unbequemen Wahrheiten auch in der jüdischen Welt, nicht zuletzt als Folge systematischer Fehlübersetzungen und Fehldeutungen, vergessen worden. Doch die Vorschriften zur Tierhaltung zeigen, wie eng die Zivilisationen mitsamt ihrer ethischen Errungenschaften, zu denen auch der Monotheismus zählt, an die Domestikation gekoppelt sind. Hirtenleben, Ackerbau, Tempeldienst - hier galt im Alten Israel vor allem das Verbot der Tierquälerei (tza'ar baalei chaim) als Ausdruck der Treue zum Schöpfer, der einen Bund schloss mit Menschen und Tieren. "Der Gerechte kennt die Seele seines Viehs", forderte König Salomon, denn ein Geschick teilen beide, sie altern, empfinden Schmerz, sterben und sinken zurück in den Staub der Erde. König David galt als Inbegriff der Sorge und des Schutzes, die der Hirte (Gott) jedem einzelnen Geschöpf seiner Herde angedeihen lässt. Der Mensch ist aufgefordert, den Tieren gegenüber so zu handeln wie er selbst - im Ebenbild Gottes (be Zelem Elohim) - behandelt wird. Tikkun, das Wiederherstellen des Miteinanders aller Geschöpfe der Erde, das Verbot, die Natur zu zerstören, sowie der Appell, Erbarmen zu üben, sind die Grundpfeiler der Jüdischen Ethik, die sich erst realisiert im Umgang des Menschen mit den schwächeren, weil ihre Rechte nicht einfordernden Tieren. "Wie ein Hirt wird er seine Herde weiden, mit seinem Arme sammelt er die Lämmer und in seinem Busen trägt er sie, die Säugenden leitet er." [Jesaja 40:11] "Ich werde meine Schafe weiden, und ich werde sie lagern lassen, ist der Spruch Gottes des Herrn. Das Verlorene werd' ich aufsuchen, und das Versprengte werd' ich zurückführen, und das Verwundete verbinden, und das Kranke stärken." [Ezeckiel 34:15-16]

Unbequem für das Selbstverständnis des Menschen ist, dass die biblische Schöpfungsgeschichte [Genesis 1:29-31; 9:1-11] eine vegetarische Lebensweise beschreibt. Erst nach der Sintflut wurde der Verzehr des Fleisches von Tieren, die als "Lebend Atmende" (nefesh chaja) gelten [Genesis 9:3], und das Töten bestimmter Tiere unter kontrollierten Schlachtbedingungen erlaubt. Schmerzen und Leiden müssen unbedingt gemindert wurden; in Zeiten, als es noch keine Betäubungsverfahren gab und das Bewusstlos-Schlagen des Tieres zu erheblichen Verletzungen oder gar dessen Tod führte, war die Schächtvorschrift, Tiere durch einen einzigen Schnitt mit einem schartenfreien Messer zum Entbluten zu führen, der höchste Stand der Schlachttechnologie. Überdies wurde nur jenen Personen das Schlachten erlaubt, die nicht aus Lust und Grausamkeit töten. Das Jagen von Tieren, ebenso wie Rennsport und Tierwetten waren verboten, weil sie zu Tierquälereien führen.

Wie radikal das jüdische Tierrecht ist, wird an den Pflege-, Schutz- und Ruhevorschriften deutlich: Sie gelten für Mensch und Tier, jedoch ist der Mensch aufgefordert, zuerst das Tier zu füttern, bevor er selbst isst, ebenso ist er verpflichtet, sogar am Schabbat, dem Ruhetag, einem in Not geratenen Tier zu helfen. "Du sollst dein Mahl nicht einnehmen, bevor du nicht dafür Sorge getragen hast, dass jedes deiner Tiere seiner Art gemäß gefüttert worden ist" [Talmud Berachot 40a]. Für die Tierzucht gilt das Verbot des Verstümmelns und der Kastration, und das Gebot eines artgerechten Umgangs mit Tieren, wobei verhindert werden muss, dass Tiere überfordert werden, etwa, wenn unterschiedliche Tierarten zusammengespannt werden, was verboten ist.

Das Mitgefühl für die Tiere ist der Ausgangspunkt der rituellen Speisegesetze, der Kaschrut, mithin des Verbots, das Junge in der Milch seiner Mutter zu kochen [Exodus:19, 34 26, Deuteronomium 14:21]. Das utilitaristische Denken, das die moderne Tierschutzgesetzgebung mit ihrem Zwei-Klassen-Schutzgesetz von Tieren und "Nutz"tieren prägt, gilt im alten Israel als ethisch verwerflich. So müssen auch "Nutz"tiere geschützt und gerettet werden, selbst wenn dies den Interessen des Menschen nicht dient. "So du triffst auf den Ochsen deines Feindes, oder auf seinen Esel, der irre geht, bringe ihm denselben zurück. So du siehst den Esel deines Hassers erliegend unter seiner Last, und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen (...), mach es (ihm) leichter mit ihm." [Exodus 23:4-5] Wer die Strenge der jüdischen Tierschutzethik, wie sie hier zum Ausdruck kommt, in die heutige Zeit übersetzt, erkennt, dass die Bedingungen, die wir den Tieren in den Fleischfabriken und den Forschungslabors, bei Transport und Schlachtung zumuten, gerade nicht mit den viel zitierten Werten des jüdisch-christlichen Abendlandes vereinbar sind. Dies in Erinnerung zu rufen bedeutet, dass auch die Religionsgemeinschaften und die Politiker, die von Werten reden, ihre Glaubwürdigkeit erst unter Beweis stellen, indem sie den Schutz der Tiere als vorrangiges Ziel jeder um Menschlichkeit bemühten Gesellschaft behandeln.


Dr. Hanna Rheinz, Stiftungsinitiative Jüdischer Tierschutz
www.tierimjudentum.de


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Quelle:
PROVIEH Heft 4, Dezember, 2008, Seite 11-13
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009