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FRAGEN/027: Ersatz von Rattentests. Es muss genügend spezifische Finanzierung geben (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Es muss genügend spezifische Finanzierung geben!

Interview mit Prof. Dr. Ellen Fritsche von Dr. Christiane Hohensee


Für unser Schwerpunkt-Thema sprachen wir mit Prof. Dr. Ellen Fritsche, Leiterin der Arbeitsgruppe Umwelttoxikologische Risikoabschätzung und humane Sphärenmodelle am Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung. Prof. Fritsche ist maßgeblich an den Entwicklungen einer abgestuften Teststrategie zum Ersatz von Rattentests auf Entwicklungsneurotoxizität beteiligt. Tierrechte sprach mit ihr über ein neues tierfreies Testsystem und was passieren muss, damit die Tierversuche so schnell wie möglich beendet werden können.

Frage: Frau Prof. Fritsche, welche Hinweise gibt es, dass Chemikalien wie z. B. Pflanzenschutzmittel einen Einfluss auf die Entwicklung von Babys im Mutterleib und damit auch auf die spätere körperliche oder psychische Gesundheit haben können?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Es gibt Hinweise von epidemiologischen Studien, also Untersuchungen von Kohorten (1) des Menschen, sowie von Tests in Versuchstieren, dass verschiedenste Stoffe fruchtschädigende Eigenschaften haben können.

Frage: Hersteller von Pflanzenschutzmitteln oder Chemikalien müssen bereits Tests auf Entwicklungsneurotoxizität durchführen, wenn es Hinweise auf mögliche Schädigungen des Nervensystems gibt. Stimmt es, dass zukünftig bei der Sicherheitsbewertung von Chemikalien in der EU grundsätzlich zusätzliche Tests auf Entwicklungsneurotoxizität durchgeführt werden müssen?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Dass Substanzen grundsätzlich auf ihr Potential, die Entwicklung des Gehirns zu beeinträchtigen, getestet werden müssen, ist derzeit nicht der Fall. Mit den derzeit verfügbaren Testungen am Tier ist dies logistisch auch gar nicht möglich, da die Studien zu Ressourcen-aufwändig sind. Daher werden diese Tests nur durchgeführt, wenn es aus anderen Studien Hinweise gibt, dass sich die Substanzen negativ auf Nervenzellen auswirken. Alternativ kann das Gehirn auch bei Studien auf Entwicklungstoxizität mit untersucht werden. Diese sind dann jedoch nicht so umfangreich.

Frage: Derzeit befasst sich die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mit der Entwicklung eines neuen, tierfreien Testsystems. Aus welchen Einzeltests besteht es?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Das tierversuchsfreie Testsystem besteht aus einer in-vitro-Batterie von mehreren Einzeltests. Das Prinzip hierbei ist, die zellulären Prozesse, die in einem sich entwickelnden Gehirn ablaufen, einzeln in der Kulturschale abzubilden. Diese Tests beruhen auf Stammzellen des Menschen und mit Hilfe dieser Zellen wird deren Vermehrung, Wanderung, Entwicklung und Verknüpfung gemessen. Dies ist lange nicht so zeitaufwändig und kostenintensiv wie der Tierversuch. Diese Testbatterie ist jedoch noch in der Erprobungsphase und ist daher noch nicht endgültig entwickelt.

Frage: Welche Tierversuche könnten damit ersetzt werden und wie hoch ist schätzungsweise deren Anteil an allen Tierversuchen für die Entwicklungsneurotoxizität?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Zunächst geht es darum, "Alerts"(2) zu identifizieren, um dann möglicherweise viel gezielter im Tier testen zu können. Langfristig ist es aber auch in der Diskussion, den Tierversuch ganz durch solche neuen Methoden zu ersetzen. Dazu ist es nötig, die Unsicherheit der neuen Methoden zu reduzieren. Das geht nur durch das Erheben von Daten, indem man die Stärken und Schwächen solcher Tests kennenlernt. Wenn diese Tests eingesetzt werden, würde zunächst einmal die alternative Testbatterie zum Einsatz kommen. Im zweiten Schritt dann möglicherweise der Tierversuch. Das Vorgehen ist jedoch noch nicht endgültig festgelegt und soll in einem beratenden Dokument der OECD, welches im Jahr 2020 fertiggestellt wird, festgehalten werden. Daher kann man jetzt noch keine genauen Angaben zur Einsparung von Tieren machen.

Frage: Wann könnte dieses abgestufte Testsystem anerkannt werden?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Das beratende Dokument der OECD soll im Jahr 2020 fertig gestellt werden. Die mögliche Anerkennung der Tests kann nur danach erfolgen.

Frage: Wieso befasst sich die EFSA mit der Entwicklung des Testsystems und nicht die Europäische Chemikalienagentur?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Aufgrund der möglichen neurotoxischen Wirkungen von Pflanzenschutzmitteln, welche ja zum Teil als Nervengifte für Insekten hergestellt werden, ist die EFSA an verbesserten Testmethoden zur Identifizierung von Substanzen, die sich auch nachteilig auf das Nervensystem des Menschen auswirken, interessiert. Zudem versucht die EFSA generell neue Methoden und Konzepte anzuwenden, um die Risikoabschätzung für den Menschen zu verbessern.

Frage: Welche neuen tierversuchsfreien Tests in der Entwicklungsneurotoxizität müssen ggfs. noch entwickelt werden, um mit dem abgestuften Testsystem die notwendigen Fragestellungen (Endpunkte) beantworten zu können?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Auch wenn schon viele Endpunkte durch die derzeitige Testbatterie untersucht werden können ist es wahrscheinlich, dass es weitere Entwicklungen geben muss. Hier stehen zum einen Astrogliazellen (3) im Fokus, welche in der derzeitigen Testbatterie unterrepräsentiert sind. Des Weiteren werden wir möglicherweise Modelle benötigen, welche die spezifischen Kompositionen der einzelnen Gehirnregionen abbilden. Diese unterscheiden sich deutlich voneinander. Zudem untersuchen wir derzeit noch nicht den Einfluss von Chemikalien auf Wachstumsfaktor-, Hormon- und Neurotropin-abhängige Prozesse. Dies sind wichtige Fragestellungen, die möglicherweise noch in die Batterie mit einfließen müssen. Derzeit beschäftigt sich zum Beispiel ein EU-gefördertes Projekt mit der Entwicklung von Tests, welche Hormon-abhängige Effekte von Chemikalien auf die Gehirnentwicklung vorhersagen können. Die Batterie sollte mit der sich entwickelnden Wissenschaft wachsen und nicht statisch sein. Zudem braucht solch eine Testbatterie Computer-basierte Verfahren, um die Verfügbarkeit von Substanzen sowie deren Verstoffwechselung präzise vorherzusagen. Nur so kann realistisch abgeschätzt werden, ob die Menge an Substanz, die in den Alternativmethoden eingesetzt wird, relevant für die Situation des Menschen ist.

Frage: Welche Forschung zu tierversuchsfreien Verfahren halten Sie für besonders relevant und sollte besonders gefördert werden?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Die Entwicklung von prädiktiven humanen Modellen zur Testung auf Entwicklungstoxizität halte ich für äußerst relevant, da für diesen Endpunkt sehr viele Tiere benötigt werden. Dafür werden außer den sich entwickelnden Zellen auch gute Plazentamodelle benötigt, die den Transport über die Plazenta sowie den Stoffwechsel in der Plazenta realistisch wiedergeben. Diese können entweder in der Nassforschung oder auch im Computer generiert werden. Neben solch einem Barriereorgan werden auch Entwicklungsmodelle für andere Organe wie z.B. Herz, Knochen oder Niere, benötigt. (Anm. d. Red.: "prädiktiv" bedeutet "vorhersagbar").

Frage: Was muss passieren, damit ein Großteil der fehlenden Tests zügig entwickelt wird?

Prof. Dr. Ellen Fritsche: Es muss genügend spezifische Finanzierung geben. Ähnlich wie die EFSA, die konkret die Entwicklung der Batterie fördert, welche auf Entwicklungsneurotoxizität testet, muss die EU, die Behörde oder die Industrie Gelder zur Verfügung stellen, die spezifisch darauf ausgerichtet sind, bestimmte, regulatorisch benötigte Tests herzustellen. Nur so kann es wirklich vorangehen. Ein Beispiel ist die EU-Horizon 2020-Förderung zur Entwicklung von regulatorisch anerkannten in-vitro-Methoden, welche die Effekte von Substanzen auf Hormon-abhängige Prozesse der Gehirnentwicklung voraussagen können. Nimmt man ein paar Millionen Euro in die Hand, kann man schon eine ganze Menge erreichen.



Anmerkungen der tierrechte-Redaktion:

(1) "Kohorte" ist ein Begriff aus der Epidemiologie. Gemeint ist eine Gruppe von Menschen, die zu Beginn der Untersuchung nicht erkrankt ist und auf die Wirkung einer Substanz hin beobachtet wird.

(2) Der Begriff "Alert" kommt aus dem Englischen und heißt "warnen".

(3) Astrogliazellen oder Astrozyten, auch als Sternzellen oder Spinnenzellen bezeichnet, bilden die Mehrheit der Gliazellen im zentralen Nervensystem von Säugetieren. Im Gehirn übernehmen sie essentielle Funktionen, wie Aufrechterhaltung der Blut-Hirn-Schranke, Nährstoffversorgung, Abfallstoffbeseitigung oder sie nehmen Einfluss auf die Bildung der Ummantelung der Nervenzellen (Schwann'sche Scheiden). Neurotrophine sind körpereigene Signalstoffe, die zielgerichtete Verbindungen zwischen Nervenzellen ermöglichen. Zudem sichern sie den Fortbestand neuronaler Verbindungen.

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019, S. 8-9
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
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Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2019

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