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TIERHALTUNG/620: Milchrinder zwischen Kuhkomfort und Leistungsstress (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 01/2014
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Milchrinder zwischen Kuhkomfort und Leistungsstress

von Stefan Johnigk



Milch ist beliebt als "unschuldiges Lebensmittel". Selbst Menschen, die aus ethischen Gründen auf den Konsum von Fleisch verzichten, genießen oft weiterhin Milchprodukte. Gilt doch die Haltung von Milchkühen gemeinhin als eher harmlos und mit weniger Tierschutzmängeln behaftet als die Schweinehaltung oder gar die Geflügelmast. Die Milchindustrie nutzte bislang dieses positive Image und scheute die öffentliche Auseinandersetzung über Probleme, die ihren Leistungsträgerinnen im Stall tagtäglich entstehen. Denn für ein Rind ist die industrielle Milcherzeugung keineswegs nur unter dem Begriff "Kuhkomfort" abzuhandeln. Sie ist für die meisten Kühe ein auszehrender Knochenjob mit einem frühzeitigen Ende am Schlachtband.

Mit der Kampagne "Happy Cows" setzt sich unser Verein seit Oktober 2012 gemeinsam mit Partnerverbänden bei der EU-Kommission dafür ein, eine europäische Richtlinie speziell für den Schutz von Milchkühen einzuführen. Bis heute haben 293.511 Menschen die Petition an die EU-Kommission unterschrieben - ein toller Erfolg!

Der Milchindustrie-Verband e.V. lud den Nutztierschutzverein PROVIEH e.V. zu einem Fachgespräch im Januar 2014 in Frankfurt ein, um vor rund 60 Vertretern führender deutscher Molkereien die Vereinsarbeit zugunsten der Milchrinder zu präsentieren. PROVIEH erklärte im Vortrag, die Zielvorstellungen der Milcherzeuger - billiges Produkt zu "Weltmarktpreisen", große garantierte Liefermengen, biochemische und mikrobielle Top-Qualität sowie ein konsequent positives Image in der Öffentlichkeit - seien nicht ohne weiteres mit den Anforderungen an eine wesensgerechte Rinderhaltung zu vereinbaren. Fünf konkrete Maßnahmen seien geeignet, den Schutz der Milchkühe und ihrer Kälber deutlich zu verbessern: verhaltensgerechte Bedingungen in allen Bereichen der Haltung, Vermeiden nicht-kurativer Eingriffe wie die "Enthornung", Ausrichtung der Zucht auf Lebensleistung und Zweinutzung, Gewähren von Weidegang, wo immer möglich, und eine Branchenlösung für mehr Kuhwohl.


Kuhkomfort - kein sanftes Ruhekissen

Die Milchwirtschaft argumentiert, dass nur eine gesunde und tierschutzgerecht gehaltene Kuh eine Top-Milchleistung erbringen könne. Tatsächlich gibt eine kranke Kuh weniger Milch als eine gesunde. Der Umkehrschluss aber, dass viel Milch gute Gesundheit und Wohlbefinden der Kuh anzeige, ist unzulässig. "Kuhkomfort" wird zudem nur geboten, solange er sich für den Milchrinderhalter über eine größere Milchleistung bezahlt macht. Viele andere Maßnahmen zur Verbesserung des Wohlergehens der Kühe fallen also der Ökonomie zum Opfer. Um das Tierwohl wirksam zu verbessern, muss die Lebensmittelwirtschaft den Tierhaltern einen wirtschaftlichen Ausgleich für verbessernde Maßnahmen bieten, so die Forderung von PROVIEH.


Leistungsstress - wann droht die Managerkrankheit?

Die Milcherzeuger argumentieren gegen den Vorwurf der Qualzucht, dass die Milchleistung in den letzten acht Jahren nur noch moderat angestiegen sei und eine durchschnittliche Jahresmilchmenge von 8.000 Kilogramm noch keinen Leistungsstress verursache. PROVIEH hält entgegen, dass eine Kuh umso empfindlicher auf "Managementfehler" reagiert, also auf Fehler in Fütterung, Pflege und Haltung, je mehr Leistung von ihr verlangt wird. Zu hohe Leistungserwartungen sind wie der Tanz auf einem zu schmalen Grat: absturzgefährdet! Vier von fünf Tierschutzproblemen bei Milchrindern ließen sich durch optimales Management wirksam vermeiden. Deshalb plädiert PROVIEH dafür, mit niedrigeren Leistungszielen die Milchrinderhaltung robuster gegen menschliche Fehler zu machen.


Weidemilch braucht Weidegang

PROVIEH hat scharf kritisiert, dass einzelne Molkereien in Deutschland ihre Produkte als "Weidemilch" zu einem höheren Preis vermarkteten, obwohl die Kühe lediglich mit Silage von norddeutschen Grünlandflächen gefüttert wurden. Weidegang ist für Rinder besonders verhaltensgerecht. Bis zu 15 Kilometer Laufstrecke legt ein Rind im Durchschnitt pro Tag bei der Futtersuche zurück, wenn man es lässt. Das ist gesundheitsförderlich für die Kühe, sofern die Weide trittfest genug ist und die Weideflächen zur Vorbeugung von Parasitenbefall regelmäßig gewechselt werden. PROVIEH fordert die Milchwirtschaft auf, gemeinsam verbindliche Regelungen zu verabschieden, unter welchen Bedingungen höhere Verbraucherpreise für das Produkt "Weidemilch" eingeworben werden dürfen. Eine "Weidemilch-Agenda 120/6" soll sicherstellen, dass auf den beteiligten Betrieben verlässlich über mindestens 120 Tage im Jahr jeweils sechs Stunden Weidegang täglich gewährt wird. Einige Unternehmen wie Friesland Campina oder die Ammerländer Molkerei setzen diese Agenda für ihre Weidemilch-Produkte schon um. Nun wird es Zeit für eine branchenweite Vereinbarung, findet PROVIEH.


Keine Rückkehr der Leistungsförderer!

Mit dem Medikament "Kexxtone" ist der antibiotische Wirkstoff Monensin in Deutschland zur Behandlung der Ketose zugelassen, einer fütterungsbedingten Stoffwechselstörung bei Kühen (siehe PROVIEH-Magazin 04-2013). Monensin wurde früher als Leistungsförderer eingesetzt. Diese verbotene Praxis könnte in einigen Milchbetrieben wieder Einzug halten. PROVIEH fordert die Milchindustrie auf, den Einsatz von Monensin streng zu überwachen und jedem bestandsweiten Einsatz entschieden entgegenzutreten. Das Auftreten von Ketosen lässt sich ohne Antibiotika vermeiden: Durch gutes Management bei der Fütterung und optimale Tierbetreuung.


Den Werteverfall stoppen

Mit großer Sorge verfolgt PROVIEH den Wertverfall bei den mageren männlichen Kälbern der Hochleistungs-Milchrinder. Sie werden aus Deutschland zumeist an spezialisierte Kälbermastbetriebe in den Niederlanden verkauft. Die Holländer aber haben die Kälbermast an den gesunkenen und saisonal schwankenden Konsum von Kalbfleisch angepasst. Deshalb kaufen sie viel weniger Tiere als bisher, mit fatalen Folgen für die deutschen Milchviehhalter, denen der Verkaufspreis für die Bullenkälber schier ins Bodenlose fiel. Schon kursieren Berichte, dass in Dänemark bereits einzelne Betriebe ihre männlichen Kälber töten lassen wollen, weil ihre Aufzucht nicht mehr wirtschaftlich tragbar sei. Droht nun der Milchwirtschaft dasselbe ethische Dilemma wie den Legehennenhaltern - die Vernichtung von wirtschaftlich unwertem Leben? PROVIEH warnt die Milchindustrie vor den Folgen dieser Entwicklung und fordert die Molkereien auf, ihre Mitverantwortung für die Bullenkälber anzunehmen. Wer mit Milchprodukten Geld verdient, muss dazu stehen, dass damit zwangsläufig auch Kalbfleisch und Rinderhack als Lebensmittel erzeugt werden. Denn es gibt keine "Veggie-Milch", wie jedes Mitglied bei PROVIEH weiß.


Enthornung - Schmerz lass nach!

Die Zerstörung der Hornanlagen ("Enthornung") beim Kalb ist ein schmerzvoller Eingriff. PROVIEH wünscht sich sehr, dass alle Rinderhalter ihren Kälbern diesen Schmerz ersparen. Allerdings brauchen die Rinder dann mehr Platz im Stall, weil es sonst Risiken für Mensch und Tier gibt. Fakt ist aber, dass jeder horngerecht ausgestaltete Rinderstall auch für genetisch hornlose oder für "enthornte" Rinder viel verhaltensgerechter ist als konventionell üblich. Nur fallen Extrakosten an, die nicht leicht zu erwirtschaften sind. Deshalb hat PROVIEH den Vorstoß der nordrhein-westfälischen Landesregierung unterstützt, die Zucht auf genetische Hornlosigkeit in der Rinderhaltung zu fördern und für das "Enthornen" eine Schmerzausschaltung und Schmerznachbehandlung zwingend vorzuschreiben. Nun erwartet unser Verein von der Milchindustrie, die Inhalte dieser "Düsseldorfer Erklärung" für alle Milchviehhalter in Deutschland verbindlich zu übernehmen. Dieser Vorstoß wurde auch von Vertretern der Bauernschaft begrüßt. Die Zucht auf hornlose Milchrinder eröffnet zumindest mittelfristig einen Ausweg, auf das leidvolle "Enthornen" zu verzichten.


Branchenlösung für Tierwohl

Zuletzt warb PROVIEH bei den Vertretern der Milchindustrie dafür, sich nicht länger in Einzelinitiativen und Labeln für mehr Tierschutz bei Milchrindern zu verzetteln. Eine branchenweite Lösung sei gefragt, und sie ist bereits in greifbarer Nähe. Am derzeit praxistauglichsten sei das Konzept der niederländischen Molkereigenossenschaft "Beemster - Cono Kaasmakers", das PROVIEH vor Ort erlebte. Mit einem "Kuh-Kompass" erfassen die Holländer auf ihren Betrieben rund 100 Tierschutzaspekte in sieben Kategorien. Die Audits sind so gestaltet, dass sie den Landwirten helfen, mögliche Risiken in ihren Betriebsabläufen rechtzeitig zu erkennen, um vermehrte Leiden und Schäden rechtzeitig zu vermeiden. Wer teilnimmt, erhält für gute Tierschutzergebnisse eine Prämie und wird zweimal im Jahr im kleinen Kreis durch fachkundige Experten fortgebildet. Das Konzept ist bei den Molkereien in Holland bereits weithin akzeptiert und würde sich aus Sicht von PROVIEH auch für eine branchenweite Lösung in Deutschland eignen. Und wer sich von unseren Mitgliedern bei der Kampagne "Happy Cows" beteiligt hat, wird diesen Ansatz sicher begrüßen: Der niederländische "Kuh-Kompass" wurde erstmals auf den Milchviehbetrieben umgesetzt, die Sahne für das Eis der Kampagnenpartner Ben & Jerry's erzeugen.

Ein Fazit: Noch fristen viele Milchkühe ihr kurzes Dasein zwischen Kuhkomfort und Leistungsstress. Doch wenn die Milchindustrie auf die Anregungen von PROVIEH eingeht, kann sich die Lebensqualität der Rinder deutlich verbessern. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.

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Quelle:
PROVIEH Ausgabe 01/2014, Seite 28-31
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2014